muß von allen Lastern frey seyn, die sich durch die Bosheit der Menschen allmählich eingeschlichen.
Jch zweifle nicht, daß ein jeder, der diesen Character der Schäfer recht erweget, gestehen wird, daß Schäfer-Gedichte so auf diesen Fuß verfertiget worden, eine besondre Anmuth haben müssen. Denn ich habe hier ihren Abriß mit Bedacht in der grösten Vollkommenheit gemacht, ungeachtet noch kein Poet denselben völlig beobachtet hat. Theocritus hat seine Schäfer zuweilen sehr grob und plump abgeschildert; das ist, wie sie etwa zu seiner Zeit waren, nicht wie sie hätten seyn sollen: Zuweilen aber machte er sie gar zu sinnreich. Sie zancken bisweilen auf eine recht bäurische Art mit einander, und kriegen sich fast darüber bey die Köpfe. Sie beschuldigen einander des Diebstahls und noch wohl ärgerer Laster, die unter den Griechen im Schwange waren, sich aber vor unsre poetische Schäfer nicht schicken.
Virgil, der sich den Theocritus in seinen Eclogen zum Muster genommen, hat zwar seine Schäfer viel artiger ge- macht als jener, doch aber nicht allezeit die rechte Art der Schäfer erreichet. Sie sind nicht alle so tugendhafft und unschuldig, als sie seyn sollten, davon der Vers
Nouimus & qui te, transuersa tuentibus hircis &c.
zeugen kan. Zuweilen erhebt sein Haberrohr einen gar zu ho- hen Thon, wenn er z. E. die Sicilianischen Musen des Theocri- tus anrufft, dem Pollio zu Ehren was anzustimmen. Er forderte, wie schon sonst gedacht worden, was unmögliches von ihnen, denn sie können auf ihrer Flöte keinen Trompe- ten-Klang erzwingen. Gleichwohl prophezeyht er nicht anders, als die Cumäische Sybille, von künftigen Zeiten. Jn der sechsten Ecloge läst er sich vom Phöbus erst sagen: Es schicke sich vor Schäfer nicht von Königen und Helden singen:
Cum canerem Reges & proelia, Cynthius aurem Vellit & admonuit: Pastorem, Tityre, pingues Pascere oportet oues.
Gleichwohl läst er seinen Silenus, den ein paar Knaben nebst der schönen Najade, Aegle, vom Schlafe aufgewecket, die gantze Epicurische Lehre vom Ursprunge der Welt hersingen,
welches
B b
Von Jdyllen, Eclogen oder Schaͤfer-Gedichten.
muß von allen Laſtern frey ſeyn, die ſich durch die Bosheit der Menſchen allmaͤhlich eingeſchlichen.
Jch zweifle nicht, daß ein jeder, der dieſen Character der Schaͤfer recht erweget, geſtehen wird, daß Schaͤfer-Gedichte ſo auf dieſen Fuß verfertiget worden, eine beſondre Anmuth haben muͤſſen. Denn ich habe hier ihren Abriß mit Bedacht in der groͤſten Vollkommenheit gemacht, ungeachtet noch kein Poet denſelben voͤllig beobachtet hat. Theocritus hat ſeine Schaͤfer zuweilen ſehr grob und plump abgeſchildert; das iſt, wie ſie etwa zu ſeiner Zeit waren, nicht wie ſie haͤtten ſeyn ſollen: Zuweilen aber machte er ſie gar zu ſinnreich. Sie zancken bisweilen auf eine recht baͤuriſche Art mit einander, und kriegen ſich faſt daruͤber bey die Koͤpfe. Sie beſchuldigen einander des Diebſtahls und noch wohl aͤrgerer Laſter, die unter den Griechen im Schwange waren, ſich aber vor unſre poetiſche Schaͤfer nicht ſchicken.
Virgil, der ſich den Theocritus in ſeinen Eclogen zum Muſter genommen, hat zwar ſeine Schaͤfer viel artiger ge- macht als jener, doch aber nicht allezeit die rechte Art der Schaͤfer erreichet. Sie ſind nicht alle ſo tugendhafft und unſchuldig, als ſie ſeyn ſollten, davon der Vers
Nouimus & qui te, transuerſa tuentibus hircis &c.
zeugen kan. Zuweilen erhebt ſein Haberrohr einen gar zu ho- hen Thon, wenn er z. E. die Sicilianiſchen Muſen des Theocri- tus anrufft, dem Pollio zu Ehren was anzuſtimmen. Er forderte, wie ſchon ſonſt gedacht worden, was unmoͤgliches von ihnen, denn ſie koͤnnen auf ihrer Floͤte keinen Trompe- ten-Klang erzwingen. Gleichwohl prophezeyht er nicht anders, als die Cumaͤiſche Sybille, von kuͤnftigen Zeiten. Jn der ſechſten Ecloge laͤſt er ſich vom Phoͤbus erſt ſagen: Es ſchicke ſich vor Schaͤfer nicht von Koͤnigen und Helden ſingen:
Cum canerem Reges & proelia, Cynthius aurem Vellit & admonuit: Paſtorem, Tityre, pingues Paſcere oportet oues.
Gleichwohl laͤſt er ſeinen Silenus, den ein paar Knaben nebſt der ſchoͤnen Najade, Aegle, vom Schlafe aufgewecket, die gantze Epicuriſche Lehre vom Urſprunge der Welt herſingen,
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Von Jdyllen, Eclogen oder Schaͤfer-Gedichten.
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Menſchen allmaͤhlich eingeſchlichen.
Jch zweifle nicht, daß ein jeder, der dieſen Character der
Schaͤfer recht erweget, geſtehen wird, daß Schaͤfer-Gedichte
ſo auf dieſen Fuß verfertiget worden, eine beſondre Anmuth
haben muͤſſen. Denn ich habe hier ihren Abriß mit Bedacht
in der groͤſten Vollkommenheit gemacht, ungeachtet noch kein
Poet denſelben voͤllig beobachtet hat. Theocritus hat ſeine
Schaͤfer zuweilen ſehr grob und plump abgeſchildert; das iſt,
wie ſie etwa zu ſeiner Zeit waren, nicht wie ſie haͤtten ſeyn
ſollen: Zuweilen aber machte er ſie gar zu ſinnreich. Sie
zancken bisweilen auf eine recht baͤuriſche Art mit einander,
und kriegen ſich faſt daruͤber bey die Koͤpfe. Sie beſchuldigen
einander des Diebſtahls und noch wohl aͤrgerer Laſter, die
unter den Griechen im Schwange waren, ſich aber vor unſre
poetiſche Schaͤfer nicht ſchicken.
Virgil, der ſich den Theocritus in ſeinen Eclogen zum
Muſter genommen, hat zwar ſeine Schaͤfer viel artiger ge-
macht als jener, doch aber nicht allezeit die rechte Art der
Schaͤfer erreichet. Sie ſind nicht alle ſo tugendhafft und
unſchuldig, als ſie ſeyn ſollten, davon der Vers
Nouimus & qui te, transuerſa tuentibus hircis &c.
zeugen kan. Zuweilen erhebt ſein Haberrohr einen gar zu ho-
hen Thon, wenn er z. E. die Sicilianiſchen Muſen des Theocri-
tus anrufft, dem Pollio zu Ehren was anzuſtimmen. Er
forderte, wie ſchon ſonſt gedacht worden, was unmoͤgliches
von ihnen, denn ſie koͤnnen auf ihrer Floͤte keinen Trompe-
ten-Klang erzwingen. Gleichwohl prophezeyht er nicht anders,
als die Cumaͤiſche Sybille, von kuͤnftigen Zeiten. Jn der
ſechſten Ecloge laͤſt er ſich vom Phoͤbus erſt ſagen: Es ſchicke
ſich vor Schaͤfer nicht von Koͤnigen und Helden ſingen:
Cum canerem Reges & proelia, Cynthius aurem
Vellit & admonuit: Paſtorem, Tityre, pingues
Paſcere oportet oues.
Gleichwohl laͤſt er ſeinen Silenus, den ein paar Knaben nebſt
der ſchoͤnen Najade, Aegle, vom Schlafe aufgewecket, die
gantze Epicuriſche Lehre vom Urſprunge der Welt herſingen,
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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 385. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/413>, abgerufen am 24.11.2024.
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