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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Des II Theils III Capitel
weiß bey ihnen weder von Schimpfworten noch von Schlä-
gereyen zu sagen. Jhre Streitigkeiten bestehen darinn, daß
sie im Singen oder Spielen, oder in andern Künsten einander
überlegen seyn wollen; und die werden allezeit durch einen un-
partheyischen Schiedsmann, den beyde Partheyen zum Rich-
ter erwehlen, entschieden. Sie schertzen mit einander, aber
ohne Zoten zu reissen: denn die Erbarkeit ist bey ihnen zu Hau-
se. Jhr Handel besteht im Tauschen, und obwohl sie zuwei-
len durch eine kleine List den andern hintergehen, so geschieht
es nur zur Kurtzweil: denn der Betrug ist ihnen so abscheulich
als Stehlen und Rauben. Jhr Umgang ist von aller Grob-
heit so weit als von Complimenten und Falschheit entfernet.
Sie sind offenhertzig, aber bescheiden, freygebig aber nicht
verschwendrisch, sparsam aber nicht karg; ehrliebend aber
nicht stoltz: endlich auch mäßig und nüchtern, und mit einem
Worte gantz tugendhafft und allezeit vergnügt.

Jch habe noch nichts von der Liebe gedacht, weil dieses
eine besondre Beschreibung verdient. Dieser Affect herrschet
am meisten unter ihnen, aber auf eine unschuldige Weise.
Er ist die einzige Quelle ihres grösten Vergnügens, aber auch
ihrer grösten Unruhe. Jhre Muße läßt ihnen Zeit genug zu
verliebten Gedancken und Unterredungen, aber ihre Einfalt
verbietet ihnen alle gar zu künstliche Mittel zu ihrem Zwecke
zu gelangen. Jhre gute Eigenschafften machen sie liebens-
würdig, und ihre Liebes-Erklärungen geschehen mehr durch
schamhaffte Blicke, als durch viel zärtliche Worte. Jhre
Geschencke bestehen aus Blumen und Früchten, jungen Läm-
mern und schönen Hunden, künstlichen Hüten, Bechern
und Stäben. Sie putzen sich, aber nach ihrer Einfalt, die
von Seide, Gold und Silber nichts weiß. Sie sind eifer-
süchtig und empfindlich; aber auch leicht zu besänftigen.
Sie beklagen sich über die Unempfindlichkeit ihrer Schönen;
hencken sich aber deßwegen nicht auf. Sie sind sehr treu in
ihrer Liebe, und man weiß bey ihnen von keinem grössern La-
ster als von der Unbeständigkeit. Jhre Nebenbuhler suchen
sie durch neue Gefälligkeiten, nicht aber durch Rachgier und
Gewalt zu überwinden; Kurtz, die unschuldige Schäferliebe

muß

Des II Theils III Capitel
weiß bey ihnen weder von Schimpfworten noch von Schlaͤ-
gereyen zu ſagen. Jhre Streitigkeiten beſtehen darinn, daß
ſie im Singen oder Spielen, oder in andern Kuͤnſten einander
uͤberlegen ſeyn wollen; und die werden allezeit durch einen un-
partheyiſchen Schiedsmann, den beyde Partheyen zum Rich-
ter erwehlen, entſchieden. Sie ſchertzen mit einander, aber
ohne Zoten zu reiſſen: denn die Erbarkeit iſt bey ihnen zu Hau-
ſe. Jhr Handel beſteht im Tauſchen, und obwohl ſie zuwei-
len durch eine kleine Liſt den andern hintergehen, ſo geſchieht
es nur zur Kurtzweil: denn der Betrug iſt ihnen ſo abſcheulich
als Stehlen und Rauben. Jhr Umgang iſt von aller Grob-
heit ſo weit als von Complimenten und Falſchheit entfernet.
Sie ſind offenhertzig, aber beſcheiden, freygebig aber nicht
verſchwendriſch, ſparſam aber nicht karg; ehrliebend aber
nicht ſtoltz: endlich auch maͤßig und nuͤchtern, und mit einem
Worte gantz tugendhafft und allezeit vergnuͤgt.

Jch habe noch nichts von der Liebe gedacht, weil dieſes
eine beſondre Beſchreibung verdient. Dieſer Affect herrſchet
am meiſten unter ihnen, aber auf eine unſchuldige Weiſe.
Er iſt die einzige Quelle ihres groͤſten Vergnuͤgens, aber auch
ihrer groͤſten Unruhe. Jhre Muße laͤßt ihnen Zeit genug zu
verliebten Gedancken und Unterredungen, aber ihre Einfalt
verbietet ihnen alle gar zu kuͤnſtliche Mittel zu ihrem Zwecke
zu gelangen. Jhre gute Eigenſchafften machen ſie liebens-
wuͤrdig, und ihre Liebes-Erklaͤrungen geſchehen mehr durch
ſchamhaffte Blicke, als durch viel zaͤrtliche Worte. Jhre
Geſchencke beſtehen aus Blumen und Fruͤchten, jungen Laͤm-
mern und ſchoͤnen Hunden, kuͤnſtlichen Huͤten, Bechern
und Staͤben. Sie putzen ſich, aber nach ihrer Einfalt, die
von Seide, Gold und Silber nichts weiß. Sie ſind eifer-
ſuͤchtig und empfindlich; aber auch leicht zu beſaͤnftigen.
Sie beklagen ſich uͤber die Unempfindlichkeit ihrer Schoͤnen;
hencken ſich aber deßwegen nicht auf. Sie ſind ſehr treu in
ihrer Liebe, und man weiß bey ihnen von keinem groͤſſern La-
ſter als von der Unbeſtaͤndigkeit. Jhre Nebenbuhler ſuchen
ſie durch neue Gefaͤlligkeiten, nicht aber durch Rachgier und
Gewalt zu uͤberwinden; Kurtz, die unſchuldige Schaͤferliebe

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[384/0412] Des II Theils III Capitel weiß bey ihnen weder von Schimpfworten noch von Schlaͤ- gereyen zu ſagen. Jhre Streitigkeiten beſtehen darinn, daß ſie im Singen oder Spielen, oder in andern Kuͤnſten einander uͤberlegen ſeyn wollen; und die werden allezeit durch einen un- partheyiſchen Schiedsmann, den beyde Partheyen zum Rich- ter erwehlen, entſchieden. Sie ſchertzen mit einander, aber ohne Zoten zu reiſſen: denn die Erbarkeit iſt bey ihnen zu Hau- ſe. Jhr Handel beſteht im Tauſchen, und obwohl ſie zuwei- len durch eine kleine Liſt den andern hintergehen, ſo geſchieht es nur zur Kurtzweil: denn der Betrug iſt ihnen ſo abſcheulich als Stehlen und Rauben. Jhr Umgang iſt von aller Grob- heit ſo weit als von Complimenten und Falſchheit entfernet. Sie ſind offenhertzig, aber beſcheiden, freygebig aber nicht verſchwendriſch, ſparſam aber nicht karg; ehrliebend aber nicht ſtoltz: endlich auch maͤßig und nuͤchtern, und mit einem Worte gantz tugendhafft und allezeit vergnuͤgt. Jch habe noch nichts von der Liebe gedacht, weil dieſes eine beſondre Beſchreibung verdient. Dieſer Affect herrſchet am meiſten unter ihnen, aber auf eine unſchuldige Weiſe. Er iſt die einzige Quelle ihres groͤſten Vergnuͤgens, aber auch ihrer groͤſten Unruhe. Jhre Muße laͤßt ihnen Zeit genug zu verliebten Gedancken und Unterredungen, aber ihre Einfalt verbietet ihnen alle gar zu kuͤnſtliche Mittel zu ihrem Zwecke zu gelangen. Jhre gute Eigenſchafften machen ſie liebens- wuͤrdig, und ihre Liebes-Erklaͤrungen geſchehen mehr durch ſchamhaffte Blicke, als durch viel zaͤrtliche Worte. Jhre Geſchencke beſtehen aus Blumen und Fruͤchten, jungen Laͤm- mern und ſchoͤnen Hunden, kuͤnſtlichen Huͤten, Bechern und Staͤben. Sie putzen ſich, aber nach ihrer Einfalt, die von Seide, Gold und Silber nichts weiß. Sie ſind eifer- ſuͤchtig und empfindlich; aber auch leicht zu beſaͤnftigen. Sie beklagen ſich uͤber die Unempfindlichkeit ihrer Schoͤnen; hencken ſich aber deßwegen nicht auf. Sie ſind ſehr treu in ihrer Liebe, und man weiß bey ihnen von keinem groͤſſern La- ſter als von der Unbeſtaͤndigkeit. Jhre Nebenbuhler ſuchen ſie durch neue Gefaͤlligkeiten, nicht aber durch Rachgier und Gewalt zu uͤberwinden; Kurtz, die unſchuldige Schaͤferliebe muß

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 384. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/412>, abgerufen am 24.11.2024.