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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Von Elegien.
Genug, Bekümmerte, der Himmel sey ihr Schutz!
Jhr Trost, ihr Haupt, ihr Rath im trüben Wittwen-Stande!
So bietet sie forthin auch Feind und Neidern Trutz,
Und denckt auch künftig noch an unsrer Freundschafft Bande.
III. Elegie
im Nahmen eines Sohnes auf seinen Vater.
MEin Vater! ach wie tief, wie sehr betrübst du mich?
Du stirbst, o Schmertzens-Wort! im Sommer deiner Jahre.
Dein Angesicht erblaßt, die Augen brechen sich,
Die Glieder werden starr und füllen Sarg und Baare.
O längst besorgter Fall! O bittrer Schmertzens-Tag!
Jch sah dir ja bisher bekümmert gnug entgegen,
Und da du endlich kommst, scheint mich dein harter Schlag,
Mit meinem Vater selbst in Staub und Grab zu legen.
Jch weiß nicht wie mir war, als ich das Siegel brach,
Jch las und wußte kaum des Schreibens Sinn zu finden;
Denn weil fast jedes Wort von Tod und Trauren sprach,
So schien mir unvermerckt Gesicht und Witz zu schwinden.
Kaum ward mir durch ein Wort die Schreckens-Post bewust,
So lief der Thränen-Strohm die welcken Wangen nieder,
Es wallte Blut und Hertz in der getreuen Brust,
Und vor gerechtem Schmertz erstarrten alle Glieder.
Jsts möglich? brach der Mund bey hundert Seufzern aus,
Jsts möglich? armer Sohn! du stehst im Waysen-Orden.
O unglückseliges und hochbestürtztes Haus,
So bist du abermahl zum Trauer-Hause worden?
Neun Jahre sind es kaum als meiner Mutter Sarg,
Ach Thränen-werthes Wort! vor deiner Thür gestanden,
Als sich mein Angesicht vor Traurigkeit verbarg,
Denn was ich da verlohr, war nirgends mehr verhanden.
Und jetzo, leider! sinckt die andre Stütze hin,
Der theure Vater folgt der Mutter nach dem Grabe,
Wie kommt es, daß ich nicht sogleich des Todes bin,
Und vor Bekümmerniß noch Geist und Leben habe?
Wie? wenn ein Ungestüm durch dicke Wälder fährt,
Und den gesetzten Stamm der stärcksten Eichen fället,
Sich nicht nur Strumpf und Stiel aus seinen Wurtzeln kehrt,
Jndem auch Zweig und Ast zersplittert niederfället:
So sollte die Natur, bey treuer Eltern Grab,
Auch ihrer Kinder Zahl zum kühlen Staube schicken,
Und die, durch deren Krafft sie uns das Leben gab,
Nicht schleuniger als uns der Eitelkeit entrücken.
Denn
D d 4
Von Elegien.
Genug, Bekuͤmmerte, der Himmel ſey ihr Schutz!
Jhr Troſt, ihr Haupt, ihr Rath im truͤben Wittwen-Stande!
So bietet ſie forthin auch Feind und Neidern Trutz,
Und denckt auch kuͤnftig noch an unſrer Freundſchafft Bande.
III. Elegie
im Nahmen eines Sohnes auf ſeinen Vater.
MEin Vater! ach wie tief, wie ſehr betruͤbſt du mich?
Du ſtirbſt, o Schmertzens-Wort! im Sommer deiner Jahre.
Dein Angeſicht erblaßt, die Augen brechen ſich,
Die Glieder werden ſtarr und fuͤllen Sarg und Baare.
O laͤngſt beſorgter Fall! O bittrer Schmertzens-Tag!
Jch ſah dir ja bisher bekuͤmmert gnug entgegen,
Und da du endlich kommſt, ſcheint mich dein harter Schlag,
Mit meinem Vater ſelbſt in Staub und Grab zu legen.
Jch weiß nicht wie mir war, als ich das Siegel brach,
Jch las und wußte kaum des Schreibens Sinn zu finden;
Denn weil faſt jedes Wort von Tod und Trauren ſprach,
So ſchien mir unvermerckt Geſicht und Witz zu ſchwinden.
Kaum ward mir durch ein Wort die Schreckens-Poſt bewuſt,
So lief der Thraͤnen-Strohm die welcken Wangen nieder,
Es wallte Blut und Hertz in der getreuen Bruſt,
Und vor gerechtem Schmertz erſtarrten alle Glieder.
Jſts moͤglich? brach der Mund bey hundert Seufzern aus,
Jſts moͤglich? armer Sohn! du ſtehſt im Wayſen-Orden.
O ungluͤckſeliges und hochbeſtuͤrtztes Haus,
So biſt du abermahl zum Trauer-Hauſe worden?
Neun Jahre ſind es kaum als meiner Mutter Sarg,
Ach Thraͤnen-werthes Wort! vor deiner Thuͤr geſtanden,
Als ſich mein Angeſicht vor Traurigkeit verbarg,
Denn was ich da verlohr, war nirgends mehr verhanden.
Und jetzo, leider! ſinckt die andre Stuͤtze hin,
Der theure Vater folgt der Mutter nach dem Grabe,
Wie kommt es, daß ich nicht ſogleich des Todes bin,
Und vor Bekuͤmmerniß noch Geiſt und Leben habe?
Wie? wenn ein Ungeſtuͤm durch dicke Waͤlder faͤhrt,
Und den geſetzten Stamm der ſtaͤrckſten Eichen faͤllet,
Sich nicht nur Strumpf und Stiel aus ſeinen Wurtzeln kehrt,
Jndem auch Zweig und Aſt zerſplittert niederfaͤllet:
So ſollte die Natur, bey treuer Eltern Grab,
Auch ihrer Kinder Zahl zum kuͤhlen Staube ſchicken,
Und die, durch deren Krafft ſie uns das Leben gab,
Nicht ſchleuniger als uns der Eitelkeit entruͤcken.
Denn
D d 4
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[423/0451] Von Elegien. Genug, Bekuͤmmerte, der Himmel ſey ihr Schutz! Jhr Troſt, ihr Haupt, ihr Rath im truͤben Wittwen-Stande! So bietet ſie forthin auch Feind und Neidern Trutz, Und denckt auch kuͤnftig noch an unſrer Freundſchafft Bande. III. Elegie im Nahmen eines Sohnes auf ſeinen Vater. MEin Vater! ach wie tief, wie ſehr betruͤbſt du mich? Du ſtirbſt, o Schmertzens-Wort! im Sommer deiner Jahre. Dein Angeſicht erblaßt, die Augen brechen ſich, Die Glieder werden ſtarr und fuͤllen Sarg und Baare. O laͤngſt beſorgter Fall! O bittrer Schmertzens-Tag! Jch ſah dir ja bisher bekuͤmmert gnug entgegen, Und da du endlich kommſt, ſcheint mich dein harter Schlag, Mit meinem Vater ſelbſt in Staub und Grab zu legen. Jch weiß nicht wie mir war, als ich das Siegel brach, Jch las und wußte kaum des Schreibens Sinn zu finden; Denn weil faſt jedes Wort von Tod und Trauren ſprach, So ſchien mir unvermerckt Geſicht und Witz zu ſchwinden. Kaum ward mir durch ein Wort die Schreckens-Poſt bewuſt, So lief der Thraͤnen-Strohm die welcken Wangen nieder, Es wallte Blut und Hertz in der getreuen Bruſt, Und vor gerechtem Schmertz erſtarrten alle Glieder. Jſts moͤglich? brach der Mund bey hundert Seufzern aus, Jſts moͤglich? armer Sohn! du ſtehſt im Wayſen-Orden. O ungluͤckſeliges und hochbeſtuͤrtztes Haus, So biſt du abermahl zum Trauer-Hauſe worden? Neun Jahre ſind es kaum als meiner Mutter Sarg, Ach Thraͤnen-werthes Wort! vor deiner Thuͤr geſtanden, Als ſich mein Angeſicht vor Traurigkeit verbarg, Denn was ich da verlohr, war nirgends mehr verhanden. Und jetzo, leider! ſinckt die andre Stuͤtze hin, Der theure Vater folgt der Mutter nach dem Grabe, Wie kommt es, daß ich nicht ſogleich des Todes bin, Und vor Bekuͤmmerniß noch Geiſt und Leben habe? Wie? wenn ein Ungeſtuͤm durch dicke Waͤlder faͤhrt, Und den geſetzten Stamm der ſtaͤrckſten Eichen faͤllet, Sich nicht nur Strumpf und Stiel aus ſeinen Wurtzeln kehrt, Jndem auch Zweig und Aſt zerſplittert niederfaͤllet: So ſollte die Natur, bey treuer Eltern Grab, Auch ihrer Kinder Zahl zum kuͤhlen Staube ſchicken, Und die, durch deren Krafft ſie uns das Leben gab, Nicht ſchleuniger als uns der Eitelkeit entruͤcken. Denn D d 4

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 423. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/451>, abgerufen am 22.11.2024.