Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.Des II Theils IV Capitel Denn wie des Gipfels Pracht, der seinen Baum geziert,Nicht länger als der Stamm in vollem Wachsthum grünet; Allein so bald der Blitz den festen Stamm gerührt, Gantz plötzlich niederstürtzt und kaum zu Reisern dienet: So trägt ein Vater zwar die Seinen hoch empor, Er nährt, er pfleget sie, er weiß sie auch zu schützen: Allein so bald er stirbt, weiß niemand, wie zuvor, Sein bebendes Geschlecht mit gleicher Krafft zu stützen. Jhr merckt es beyde wohl, betrübtes Brüder-Paar! Jhr seyd schon alt genug, das Unglück zu begreifen, Und weil ihr wohl versteht, was euer Vater war, So müssen sich bey euch die zärtsten Thränen häufen. Auch du, mein Schwesterchen, bist jetzo Vater-loß, Nachdem du schon mit uns der Mutter Grab beweinet; Dein zärtliches Geschlecht macht deinen Schmertz so groß, Daß deiner Brüder Gram gedoppelt leichter scheinet. Wer nimmt hinführo sich wohl deiner Wohlfahrt an? Wer sorgt vor Unterhalt, vor Kleidung und Erziehen? O daß ich selber dir damit nicht dienen kan! Es sollte künftig hin dein Glück beständig blühen. Wiewohl diejenige, so jetzt als Wittwe weint. Vertritt mit Rath und That der rechten Mutter Stelle. Sie hat mit dir und uns es immer wohl gemeynt, Und lindert uns auch hier die schwersten Trauer-Fälle. Verwandte! die Geblüt und Freundschafft uns verbindt, Erwegt nebst ihr den Schmertz zu früh beraubter Waysen, Erwegt, wie Kummer-voll die armen Erben sind, Die sich mit Thränen-Brodt und Aschen-Kuchen speisen. Vertretet Vater-Statt und bessert mit Verstand Was ihrer Kindheit fehlt, versorget ihre Jugend; Der Weg zu Glück und Heyl ist ihnen unbekannt, Drum leitet sie forthin mit kluger Hand zur Tugend. Wie schmertzlich klaget nicht der höchst-betrübte Mund, Der unsern Seligen bedaurenden Gemeine? Sie macht uns den Verlust mit tausend Thränen kund, Und zeigt wie zärtlich sie um ihren Hirten weine. Sie rühmet seinen Fleiß, sie preiset seine Treu, Womit er jederzeit die Heerde pflag zu weiden: Sie lobet, wie behertzt sein Muth gewesen sey, Vor seiner Schaafe Wohl, als Christi Knecht, zu leiden. GOtt lohne, ruffet sie, GOtt lohne dein Gebeth, Dein Wachen, deine Müh, dein Pflantzen und Begiessen, So lange sich die Welt in ihren Angeln dreht, Wird dein Gedächtniß auch im Seegen bleiben müssen. Der
Des II Theils IV Capitel Denn wie des Gipfels Pracht, der ſeinen Baum geziert,Nicht laͤnger als der Stamm in vollem Wachsthum gruͤnet; Allein ſo bald der Blitz den feſten Stamm geruͤhrt, Gantz ploͤtzlich niederſtuͤrtzt und kaum zu Reiſern dienet: So traͤgt ein Vater zwar die Seinen hoch empor, Er naͤhrt, er pfleget ſie, er weiß ſie auch zu ſchuͤtzen: Allein ſo bald er ſtirbt, weiß niemand, wie zuvor, Sein bebendes Geſchlecht mit gleicher Krafft zu ſtuͤtzen. Jhr merckt es beyde wohl, betruͤbtes Bruͤder-Paar! Jhr ſeyd ſchon alt genug, das Ungluͤck zu begreifen, Und weil ihr wohl verſteht, was euer Vater war, So muͤſſen ſich bey euch die zaͤrtſten Thraͤnen haͤufen. Auch du, mein Schweſterchen, biſt jetzo Vater-loß, Nachdem du ſchon mit uns der Mutter Grab beweinet; Dein zaͤrtliches Geſchlecht macht deinen Schmertz ſo groß, Daß deiner Bruͤder Gram gedoppelt leichter ſcheinet. Wer nimmt hinfuͤhro ſich wohl deiner Wohlfahrt an? Wer ſorgt vor Unterhalt, vor Kleidung und Erziehen? O daß ich ſelber dir damit nicht dienen kan! Es ſollte kuͤnftig hin dein Gluͤck beſtaͤndig bluͤhen. Wiewohl diejenige, ſo jetzt als Wittwe weint. Vertritt mit Rath und That der rechten Mutter Stelle. Sie hat mit dir und uns es immer wohl gemeynt, Und lindert uns auch hier die ſchwerſten Trauer-Faͤlle. Verwandte! die Gebluͤt und Freundſchafft uns verbindt, Erwegt nebſt ihr den Schmertz zu fruͤh beraubter Wayſen, Erwegt, wie Kummer-voll die armen Erben ſind, Die ſich mit Thraͤnen-Brodt und Aſchen-Kuchen ſpeiſen. Vertretet Vater-Statt und beſſert mit Verſtand Was ihrer Kindheit fehlt, verſorget ihre Jugend; Der Weg zu Gluͤck und Heyl iſt ihnen unbekannt, Drum leitet ſie forthin mit kluger Hand zur Tugend. Wie ſchmertzlich klaget nicht der hoͤchſt-betruͤbte Mund, Der unſern Seligen bedaurenden Gemeine? Sie macht uns den Verluſt mit tauſend Thraͤnen kund, Und zeigt wie zaͤrtlich ſie um ihren Hirten weine. Sie ruͤhmet ſeinen Fleiß, ſie preiſet ſeine Treu, Womit er jederzeit die Heerde pflag zu weiden: Sie lobet, wie behertzt ſein Muth geweſen ſey, Vor ſeiner Schaafe Wohl, als Chriſti Knecht, zu leiden. GOtt lohne, ruffet ſie, GOtt lohne dein Gebeth, Dein Wachen, deine Muͤh, dein Pflantzen und Begieſſen, So lange ſich die Welt in ihren Angeln dreht, Wird dein Gedaͤchtniß auch im Seegen bleiben muͤſſen. Der
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <lg type="poem"> <pb facs="#f0452" n="424"/> <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">Des <hi rendition="#aq">II</hi> Theils <hi rendition="#aq">IV</hi> Capitel</hi> </fw><lb/> <l>Denn wie des Gipfels Pracht, der ſeinen Baum geziert,</l><lb/> <l>Nicht laͤnger als der Stamm in vollem Wachsthum gruͤnet;</l><lb/> <l>Allein ſo bald der Blitz den feſten Stamm geruͤhrt,</l><lb/> <l>Gantz ploͤtzlich niederſtuͤrtzt und kaum zu Reiſern dienet:</l><lb/> <l>So traͤgt ein Vater zwar die Seinen hoch empor,</l><lb/> <l>Er naͤhrt, er pfleget ſie, er weiß ſie auch zu ſchuͤtzen:</l><lb/> <l>Allein ſo bald er ſtirbt, weiß niemand, wie zuvor,</l><lb/> <l>Sein bebendes Geſchlecht mit gleicher Krafft zu ſtuͤtzen.</l><lb/> <l>Jhr merckt es beyde wohl, betruͤbtes Bruͤder-Paar!</l><lb/> <l>Jhr ſeyd ſchon alt genug, das Ungluͤck zu begreifen,</l><lb/> <l>Und weil ihr wohl verſteht, was euer Vater war,</l><lb/> <l>So muͤſſen ſich bey euch die zaͤrtſten Thraͤnen haͤufen.</l><lb/> <l>Auch du, mein Schweſterchen, biſt jetzo Vater-loß,</l><lb/> <l>Nachdem du ſchon mit uns der Mutter Grab beweinet;</l><lb/> <l>Dein zaͤrtliches Geſchlecht macht deinen Schmertz ſo groß,</l><lb/> <l>Daß deiner Bruͤder Gram gedoppelt leichter ſcheinet.</l><lb/> <l>Wer nimmt hinfuͤhro ſich wohl deiner Wohlfahrt an?</l><lb/> <l>Wer ſorgt vor Unterhalt, vor Kleidung und Erziehen?</l><lb/> <l>O daß ich ſelber dir damit nicht dienen kan!</l><lb/> <l>Es ſollte kuͤnftig hin dein Gluͤck beſtaͤndig bluͤhen.</l><lb/> <l>Wiewohl diejenige, ſo jetzt als Wittwe weint.</l><lb/> <l>Vertritt mit Rath und That der rechten Mutter Stelle.</l><lb/> <l>Sie hat mit dir und uns es immer wohl gemeynt,</l><lb/> <l>Und lindert uns auch hier die ſchwerſten Trauer-Faͤlle.</l><lb/> <l>Verwandte! die Gebluͤt und Freundſchafft uns verbindt,</l><lb/> <l>Erwegt nebſt ihr den Schmertz zu fruͤh beraubter Wayſen,</l><lb/> <l>Erwegt, wie Kummer-voll die armen Erben ſind,</l><lb/> <l>Die ſich mit Thraͤnen-Brodt und Aſchen-Kuchen ſpeiſen.</l><lb/> <l>Vertretet Vater-Statt und beſſert mit Verſtand</l><lb/> <l>Was ihrer Kindheit fehlt, verſorget ihre Jugend;</l><lb/> <l>Der Weg zu Gluͤck und Heyl iſt ihnen unbekannt,</l><lb/> <l>Drum leitet ſie forthin mit kluger Hand zur Tugend.</l><lb/> <l>Wie ſchmertzlich klaget nicht der hoͤchſt-betruͤbte Mund,</l><lb/> <l>Der unſern Seligen bedaurenden Gemeine?</l><lb/> <l>Sie macht uns den Verluſt mit tauſend Thraͤnen kund,</l><lb/> <l>Und zeigt wie zaͤrtlich ſie um ihren Hirten weine.</l><lb/> <l>Sie ruͤhmet ſeinen Fleiß, ſie preiſet ſeine Treu,</l><lb/> <l>Womit er jederzeit die Heerde pflag zu weiden:</l><lb/> <l>Sie lobet, wie behertzt ſein Muth geweſen ſey,</l><lb/> <l>Vor ſeiner Schaafe Wohl, als Chriſti Knecht, zu leiden.</l><lb/> <l>GOtt lohne, ruffet ſie, GOtt lohne dein Gebeth,</l><lb/> <l>Dein Wachen, deine Muͤh, dein Pflantzen und Begieſſen,</l><lb/> <l>So lange ſich die Welt in ihren Angeln dreht,</l><lb/> <l>Wird dein Gedaͤchtniß auch im Seegen bleiben muͤſſen.</l><lb/> <fw place="bottom" type="catch">Der</fw><lb/> </lg> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [424/0452]
Des II Theils IV Capitel
Denn wie des Gipfels Pracht, der ſeinen Baum geziert,
Nicht laͤnger als der Stamm in vollem Wachsthum gruͤnet;
Allein ſo bald der Blitz den feſten Stamm geruͤhrt,
Gantz ploͤtzlich niederſtuͤrtzt und kaum zu Reiſern dienet:
So traͤgt ein Vater zwar die Seinen hoch empor,
Er naͤhrt, er pfleget ſie, er weiß ſie auch zu ſchuͤtzen:
Allein ſo bald er ſtirbt, weiß niemand, wie zuvor,
Sein bebendes Geſchlecht mit gleicher Krafft zu ſtuͤtzen.
Jhr merckt es beyde wohl, betruͤbtes Bruͤder-Paar!
Jhr ſeyd ſchon alt genug, das Ungluͤck zu begreifen,
Und weil ihr wohl verſteht, was euer Vater war,
So muͤſſen ſich bey euch die zaͤrtſten Thraͤnen haͤufen.
Auch du, mein Schweſterchen, biſt jetzo Vater-loß,
Nachdem du ſchon mit uns der Mutter Grab beweinet;
Dein zaͤrtliches Geſchlecht macht deinen Schmertz ſo groß,
Daß deiner Bruͤder Gram gedoppelt leichter ſcheinet.
Wer nimmt hinfuͤhro ſich wohl deiner Wohlfahrt an?
Wer ſorgt vor Unterhalt, vor Kleidung und Erziehen?
O daß ich ſelber dir damit nicht dienen kan!
Es ſollte kuͤnftig hin dein Gluͤck beſtaͤndig bluͤhen.
Wiewohl diejenige, ſo jetzt als Wittwe weint.
Vertritt mit Rath und That der rechten Mutter Stelle.
Sie hat mit dir und uns es immer wohl gemeynt,
Und lindert uns auch hier die ſchwerſten Trauer-Faͤlle.
Verwandte! die Gebluͤt und Freundſchafft uns verbindt,
Erwegt nebſt ihr den Schmertz zu fruͤh beraubter Wayſen,
Erwegt, wie Kummer-voll die armen Erben ſind,
Die ſich mit Thraͤnen-Brodt und Aſchen-Kuchen ſpeiſen.
Vertretet Vater-Statt und beſſert mit Verſtand
Was ihrer Kindheit fehlt, verſorget ihre Jugend;
Der Weg zu Gluͤck und Heyl iſt ihnen unbekannt,
Drum leitet ſie forthin mit kluger Hand zur Tugend.
Wie ſchmertzlich klaget nicht der hoͤchſt-betruͤbte Mund,
Der unſern Seligen bedaurenden Gemeine?
Sie macht uns den Verluſt mit tauſend Thraͤnen kund,
Und zeigt wie zaͤrtlich ſie um ihren Hirten weine.
Sie ruͤhmet ſeinen Fleiß, ſie preiſet ſeine Treu,
Womit er jederzeit die Heerde pflag zu weiden:
Sie lobet, wie behertzt ſein Muth geweſen ſey,
Vor ſeiner Schaafe Wohl, als Chriſti Knecht, zu leiden.
GOtt lohne, ruffet ſie, GOtt lohne dein Gebeth,
Dein Wachen, deine Muͤh, dein Pflantzen und Begieſſen,
So lange ſich die Welt in ihren Angeln dreht,
Wird dein Gedaͤchtniß auch im Seegen bleiben muͤſſen.
Der
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |