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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Horatius von der Dicht-Kunst.

Der Schertz spricht frech u. geil, der Ernst mit krauser Stirnen.
Der Seelen Jnnerstes wird erst in uns bewegt,
140Von Zorn und Eifersucht und Rachgier angeregt,

Von Schrecken überhäuft, von Gram und Furcht zerschlagen;
Alsdann kan erst der Mund recht Centner-Worte sagen.

Spricht irgend die Person, wie sichs vor sie nicht schickt,
So lacht das gantze Rom, so bald es sie erblickt.
145Drum unterscheide wohl Stand, Alter und Geschlechte,

Gantz anders spricht ein Herr, gantz anders reden Knechte.
Es ist nicht einerley, was ein verlebter Mann
Und muntrer Jüngling spricht. Dieß Wort steht Ammen an,
Matronen aber nicht. Kein Kaufmann spricht wie Bauren,
150Kein Kolcher redet so, als ob er Babels Mauren
139
143
144
146
149
Von
mit grosser Hefftigkeit und kläglichen Worten seine Klage zu wiederholen anfieng.
Nunmehro glaube ich dir, gab der Redner zur Antwort: denn so pflegt ein Belei-
digter zu sprechen.
139 Der Seelen Jnnerstes. Hier giebt Horatz den vhilosophischen Grund
seiner Regeln an: und daher sieht man, wie nöthig es auch Dichtern sey, die Welt-
Weisheit inne zu haben, sonderlich den Menschen wohl zu kennen, welches ohne
die Geist- und Sittenlehre nicht geschehen kan.
143 Spricht irgend. Die Rede ist noch immer von den Schauspielen, wo
der Poet jede Person so muß reden lassen, wie es ihr Character erfordert. Die
Comödianten finden hier gleich falls ihre Regel, was die Aussprache betrifft.
144 Das ganze Kom. Eigentlich die Edlen und das gemeine Volck. Die
Römer hatten schon einen ziemlichen Geschmack, und konnten es leicht mercken,
wenn jemand auf der Schaubühne dergleichen Fehler machte. Unsre Zuschauer
sind so geübt noch nicht, daß sie dergleichen Urtheil fällen könnten; weil sie wenig
Schauspiele gesehen haben: Es wäre denn wenn die Fehler gantz handgreiflich
sind. Z. E. wenn man einen dummen Herrn so wie einen dummen Jungen reden läst.
146 Herrre. Knechte. Davusne loquatur an herus. Andere setzen vor He-
rus, Heros,
und vor Davus, Divus, wie z. E. Dacier will, weil er meynt, die
Götter so in alten Tragödien vorkommen, sollten anders reden als die Helden.
Dieß ist zwar nicht zu leugnen; doch da beyde in erhabner Schreibart sprechen
müssen, so giebt es keinen grossen Unterscheid. Mir kömmt es also wahrscheinlicher
vor, Davus nnd Herus, ein Knecht und Herr, sey von dem Poeten einander ent-
gegen gesetzt worden; da ist die Verschiedenheit der Charaetere groß genug. Kommt
Davus mehr in Comödien als Tragödien vor, so ist nichts daran gelegen. Die
Regel ist allgemein vor alle Schauspiele.
149 Bauren. Hier ist es augenscheinlich, daß Horatz auch auf die Comödie
seine Absichten gerichtet denn Kaufieute und Bauren kommen in Tragödien fast
gar nicht vor. Dacier sucht sich hier vergeblich auszuwickeln. Aristophanes hat
diese Regel nach Plutarchi Urtheile schlecht beobachtet. Moliere ist ein Meister
darinn. Denn soviel verschiedne Personen er aufführet, sopiel Gattungen des Aus-
druckes giebt er ihnen.
B 2

Horatius von der Dicht-Kunſt.

Der Schertz ſpricht frech u. geil, der Ernſt mit krauſer Stirnen.
Der Seelen Jnnerſtes wird erſt in uns bewegt,
140Von Zorn und Eiferſucht und Rachgier angeregt,

Von Schrecken uͤberhaͤuft, von Gram und Furcht zerſchlagen;
Alsdann kan erſt der Mund recht Centner-Worte ſagen.

Spricht irgend die Perſon, wie ſichs vor ſie nicht ſchickt,
So lacht das gantze Rom, ſo bald es ſie erblickt.
145Drum unterſcheide wohl Stand, Alter und Geſchlechte,

Gantz anders ſpricht ein Herr, gantz anders reden Knechte.
Es iſt nicht einerley, was ein verlebter Mann
Und muntrer Juͤngling ſpricht. Dieß Wort ſteht Ammen an,
Matronen aber nicht. Kein Kaufmann ſpricht wie Bauren,
150Kein Kolcher redet ſo, als ob er Babels Mauren
139
143
144
146
149
Von
mit groſſer Hefftigkeit und klaͤglichen Worten ſeine Klage zu wiederholen anfieng.
Nunmehro glaube ich dir, gab der Redner zur Antwort: denn ſo pflegt ein Belei-
digter zu ſprechen.
139 Der Seelen Jnnerſtes. Hier giebt Horatz den vhiloſophiſchen Grund
ſeiner Regeln an: und daher ſieht man, wie noͤthig es auch Dichtern ſey, die Welt-
Weisheit inne zu haben, ſonderlich den Menſchen wohl zu kennen, welches ohne
die Geiſt- und Sittenlehre nicht geſchehen kan.
143 Spricht irgend. Die Rede iſt noch immer von den Schauſpielen, wo
der Poet jede Perſon ſo muß reden laſſen, wie es ihr Character erfordert. Die
Comoͤdianten finden hier gleich falls ihre Regel, was die Ausſprache betrifft.
144 Das ganze Kom. Eigentlich die Edlen und das gemeine Volck. Die
Roͤmer hatten ſchon einen ziemlichen Geſchmack, und konnten es leicht mercken,
wenn jemand auf der Schaubuͤhne dergleichen Fehler machte. Unſre Zuſchauer
ſind ſo geuͤbt noch nicht, daß ſie dergleichen Urtheil faͤllen koͤnnten; weil ſie wenig
Schauſpiele geſehen haben: Es waͤre denn wenn die Fehler gantz handgreiflich
ſind. Z. E. wenn man einen dummen Herrn ſo wie einen dummen Jungen reden laͤſt.
146 Herrꝛe. Knechte. Davusne loquatur an herus. Andere ſetzen vor He-
rus, Heros,
und vor Davus, Divus, wie z. E. Dacier will, weil er meynt, die
Goͤtter ſo in alten Tragoͤdien vorkommen, ſollten anders reden als die Helden.
Dieß iſt zwar nicht zu leugnen; doch da beyde in erhabner Schreibart ſprechen
muͤſſen, ſo giebt es keinen groſſen Unterſcheid. Mir koͤmmt es alſo wahrſcheinlicher
vor, Davus nnd Herus, ein Knecht und Herr, ſey von dem Poeten einander ent-
gegen geſetzt worden; da iſt die Verſchiedenheit der Charaetere groß genug. Kommt
Davus mehr in Comoͤdien als Tragoͤdien vor, ſo iſt nichts daran gelegen. Die
Regel iſt allgemein vor alle Schauſpiele.
149 Bauren. Hier iſt es augenſcheinlich, daß Horatz auch auf die Comoͤdie
ſeine Abſichten gerichtet denn Kaufieute und Bauren kommen in Tragoͤdien faſt
gar nicht vor. Dacier ſucht ſich hier vergeblich auszuwickeln. Ariſtophanes hat
dieſe Regel nach Plutarchi Urtheile ſchlecht beobachtet. Moliere iſt ein Meiſter
darinn. Denn ſoviel verſchiedne Perſonen er auffuͤhret, ſopiel Gattungen des Aus-
druckes giebt er ihnen.
B 2
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[19/0047] Horatius von der Dicht-Kunſt. Der Schertz ſpricht frech u. geil, der Ernſt mit krauſer Stirnen. Der Seelen Jnnerſtes wird erſt in uns bewegt, Von Zorn und Eiferſucht und Rachgier angeregt, Von Schrecken uͤberhaͤuft, von Gram und Furcht zerſchlagen; Alsdann kan erſt der Mund recht Centner-Worte ſagen. Spricht irgend die Perſon, wie ſichs vor ſie nicht ſchickt, So lacht das gantze Rom, ſo bald es ſie erblickt. Drum unterſcheide wohl Stand, Alter und Geſchlechte, Gantz anders ſpricht ein Herr, gantz anders reden Knechte. Es iſt nicht einerley, was ein verlebter Mann Und muntrer Juͤngling ſpricht. Dieß Wort ſteht Ammen an, Matronen aber nicht. Kein Kaufmann ſpricht wie Bauren, Kein Kolcher redet ſo, als ob er Babels Mauren Von 135 139 143 144 146 149 135 mit groſſer Hefftigkeit und klaͤglichen Worten ſeine Klage zu wiederholen anfieng. Nunmehro glaube ich dir, gab der Redner zur Antwort: denn ſo pflegt ein Belei- digter zu ſprechen. 139 Der Seelen Jnnerſtes. Hier giebt Horatz den vhiloſophiſchen Grund ſeiner Regeln an: und daher ſieht man, wie noͤthig es auch Dichtern ſey, die Welt- Weisheit inne zu haben, ſonderlich den Menſchen wohl zu kennen, welches ohne die Geiſt- und Sittenlehre nicht geſchehen kan. 143 Spricht irgend. Die Rede iſt noch immer von den Schauſpielen, wo der Poet jede Perſon ſo muß reden laſſen, wie es ihr Character erfordert. Die Comoͤdianten finden hier gleich falls ihre Regel, was die Ausſprache betrifft. 144 Das ganze Kom. Eigentlich die Edlen und das gemeine Volck. Die Roͤmer hatten ſchon einen ziemlichen Geſchmack, und konnten es leicht mercken, wenn jemand auf der Schaubuͤhne dergleichen Fehler machte. Unſre Zuſchauer ſind ſo geuͤbt noch nicht, daß ſie dergleichen Urtheil faͤllen koͤnnten; weil ſie wenig Schauſpiele geſehen haben: Es waͤre denn wenn die Fehler gantz handgreiflich ſind. Z. E. wenn man einen dummen Herrn ſo wie einen dummen Jungen reden laͤſt. 146 Herrꝛe. Knechte. Davusne loquatur an herus. Andere ſetzen vor He- rus, Heros, und vor Davus, Divus, wie z. E. Dacier will, weil er meynt, die Goͤtter ſo in alten Tragoͤdien vorkommen, ſollten anders reden als die Helden. Dieß iſt zwar nicht zu leugnen; doch da beyde in erhabner Schreibart ſprechen muͤſſen, ſo giebt es keinen groſſen Unterſcheid. Mir koͤmmt es alſo wahrſcheinlicher vor, Davus nnd Herus, ein Knecht und Herr, ſey von dem Poeten einander ent- gegen geſetzt worden; da iſt die Verſchiedenheit der Charaetere groß genug. Kommt Davus mehr in Comoͤdien als Tragoͤdien vor, ſo iſt nichts daran gelegen. Die Regel iſt allgemein vor alle Schauſpiele. 149 Bauren. Hier iſt es augenſcheinlich, daß Horatz auch auf die Comoͤdie ſeine Abſichten gerichtet denn Kaufieute und Bauren kommen in Tragoͤdien faſt gar nicht vor. Dacier ſucht ſich hier vergeblich auszuwickeln. Ariſtophanes hat dieſe Regel nach Plutarchi Urtheile ſchlecht beobachtet. Moliere iſt ein Meiſter darinn. Denn ſoviel verſchiedne Perſonen er auffuͤhret, ſopiel Gattungen des Aus- druckes giebt er ihnen. B 2

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 19. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/47>, abgerufen am 21.11.2024.