Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.
Und 154 Nichts ungereimtes. Nun kömmt der Poet von der Sprache auf die Charactere der Personen, die in dramatischen und epischen Gedichten vorkommen. Diese müssen nun dergestalt gemacht werden, daß die Handlungen derselben wahr- scheinlich herauskommen, und es niemanden Wunder nehme, daß dieser oder jener so oder anders verfahren habe. Denn so wie man geartet ist, so handelt man auch. Das Exempel Achillis macht die Sache klar. 159 Medea. Euripides hat sie in einer Tragödie so abgeschildert. Sie ermor- det mit eigner Hand ihre zwey Kinder, schicket ihrer Nebenbuhlerin ein Kleid, wel- ches sich entzündet und sie verzehret. u. s. w. 159 Jxion. Er soll der erste Mörder in Griechenland gewesen seyn. Er bat seinen Schwieger-Vater Dejonejus zu Gaste, und brachte ihn ums Leben. Als ihn Jupiter aus den Händen der Richter befreyete und zu sich in den Himmel nahm, wollte er die Juno nothzüchtigen. Darum stürzte ihn der Gott in die Hölle, wo er auf einem Rade liegend immer in die Runde läuft. Eschylus hatte davon eine Tragödie gemacht. 160 Jno. Eine Tochter des Cadmus, stürzte sich mit einem ihrer Kinder ins Meer, als ihr Mann Athamas rasend geworden war, ihren ältesten Sohn um- gebracht hatte, und den andren auch tödten wollte. Euripides hatte sie deswegen sehr kläglich redend in einem Trauerspiele aufgeführet. 161 Jo, des Jnachus Tochter, ward vom Jupiter geliebt, in eine Kuh verwan- delt, und von der eifersüchtigen Juno rasend gemacht; da sie denn viele Läuder durchstrichen, und endlich in Egypten wieder ihre vorige Gestalt bekommen, und unter dem Nahmen Jsis verehret worden. Eschylus hat sie in seinem Prometheus bis ins innerste Scythien kommen lassen. 161 Orestes. Euripides hat ein eigen Trauerspiel von ihm gemacht, und sei- nen Zustand so jämmerlich abgebildet, daß er mehr einem Gespenste und Schatten eines Menschen, als einem lebendigen ähnlich sahe. So groß war sein Unglück, seine Wuth und Raserey geworden. 162 An neue Fabeln. Vorher wieß Horatz wie man Personen, die in den Fa-
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Und 154 Nichts ungereimtes. Nun koͤmmt der Poet von der Sprache auf die Charactere der Perſonen, die in dramatiſchen und epiſchen Gedichten vorkommen. Dieſe muͤſſen nun dergeſtalt gemacht werden, daß die Handlungen derſelben wahr- ſcheinlich herauskommen, und es niemanden Wunder nehme, daß dieſer oder jener ſo oder anders verfahren habe. Denn ſo wie man geartet iſt, ſo handelt man auch. Das Exempel Achillis macht die Sache klar. 159 Medea. Euripides hat ſie in einer Tragoͤdie ſo abgeſchildert. Sie ermor- det mit eigner Hand ihre zwey Kinder, ſchicket ihrer Nebenbuhlerin ein Kleid, wel- ches ſich entzuͤndet und ſie verzehret. u. ſ. w. 159 Jxion. Er ſoll der erſte Moͤrder in Griechenland geweſen ſeyn. Er bat ſeinen Schwieger-Vater Dejonejus zu Gaſte, und brachte ihn ums Leben. Als ihn Jupiter aus den Haͤnden der Richter befreyete und zu ſich in den Himmel nahm, wollte er die Juno nothzuͤchtigen. Darum ſtuͤrzte ihn der Gott in die Hoͤlle, wo er auf einem Rade liegend immer in die Runde laͤuft. Eſchylus hatte davon eine Tragoͤdie gemacht. 160 Jno. Eine Tochter des Cadmus, ſtuͤrzte ſich mit einem ihrer Kinder ins Meer, als ihr Mann Athamas raſend geworden war, ihren aͤlteſten Sohn um- gebracht hatte, und den andren auch toͤdten wollte. Euripides hatte ſie deswegen ſehr klaͤglich redend in einem Trauerſpiele aufgefuͤhret. 161 Jo, des Jnachus Tochter, ward vom Jupiter geliebt, in eine Kuh verwan- delt, und von der eiferſuͤchtigen Juno raſend gemacht; da ſie denn viele Laͤuder durchſtrichen, und endlich in Egypten wieder ihre vorige Geſtalt bekommen, und unter dem Nahmen Jſis verehret worden. Eſchylus hat ſie in ſeinem Prometheus bis ins innerſte Scythien kommen laſſen. 161 Oreſtes. Euripides hat ein eigen Trauerſpiel von ihm gemacht, und ſei- nen Zuſtand ſo jaͤmmerlich abgebildet, daß er mehr einem Geſpenſte und Schatten eines Menſchen, als einem lebendigen aͤhnlich ſahe. So groß war ſein Ungluͤck, ſeine Wuth und Raſerey geworden. 162 An neue Fabeln. Vorher wieß Horatz wie man Perſonen, die in den Fa-
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Horatius von der Dicht-Kunſt.
Von Jugend auf gekannt. Wen Argos Buͤrger heiſt,
Spricht nie Thebanern gleich. Drum lencke deinen Geiſt
Entweder auf ein Werck aus wircklichen Geſchichten:
Wo nicht, ſo muſt du doch nichts ungereimtes dichten.
Fuͤhrſt du, wie dort Homer, den Held Achilles ein;
So muß er zornig, hart, und unerbittlich ſeyn:
Er trete Billigkeit, Geſetz und Recht mit Fuͤſſen,
Und wolle ſonſt von nichts, als Macht und Waffen wiſſen.
Medeen ſchildre frech, Jxion komme mir
Gantz treulos und verſtockt, und Jno klaͤglich fuͤr.
Wenn Jo fluͤchtig irrt; ſo muß Oreſtes klagen.
Hingegen willſt du dich an neue Fabeln wagen,
So richte die Perſon nicht wiederſinniſch ein
Und
154
159
159
160
161
161
162
154 Nichts ungereimtes. Nun koͤmmt der Poet von der Sprache auf die
Charactere der Perſonen, die in dramatiſchen und epiſchen Gedichten vorkommen.
Dieſe muͤſſen nun dergeſtalt gemacht werden, daß die Handlungen derſelben wahr-
ſcheinlich herauskommen, und es niemanden Wunder nehme, daß dieſer oder jener
ſo oder anders verfahren habe. Denn ſo wie man geartet iſt, ſo handelt man auch.
Das Exempel Achillis macht die Sache klar.
159 Medea. Euripides hat ſie in einer Tragoͤdie ſo abgeſchildert. Sie ermor-
det mit eigner Hand ihre zwey Kinder, ſchicket ihrer Nebenbuhlerin ein Kleid, wel-
ches ſich entzuͤndet und ſie verzehret. u. ſ. w.
159 Jxion. Er ſoll der erſte Moͤrder in Griechenland geweſen ſeyn. Er bat
ſeinen Schwieger-Vater Dejonejus zu Gaſte, und brachte ihn ums Leben. Als
ihn Jupiter aus den Haͤnden der Richter befreyete und zu ſich in den Himmel nahm,
wollte er die Juno nothzuͤchtigen. Darum ſtuͤrzte ihn der Gott in die Hoͤlle, wo
er auf einem Rade liegend immer in die Runde laͤuft. Eſchylus hatte davon eine
Tragoͤdie gemacht.
160 Jno. Eine Tochter des Cadmus, ſtuͤrzte ſich mit einem ihrer Kinder ins
Meer, als ihr Mann Athamas raſend geworden war, ihren aͤlteſten Sohn um-
gebracht hatte, und den andren auch toͤdten wollte. Euripides hatte ſie deswegen
ſehr klaͤglich redend in einem Trauerſpiele aufgefuͤhret.
161 Jo, des Jnachus Tochter, ward vom Jupiter geliebt, in eine Kuh verwan-
delt, und von der eiferſuͤchtigen Juno raſend gemacht; da ſie denn viele Laͤuder
durchſtrichen, und endlich in Egypten wieder ihre vorige Geſtalt bekommen, und
unter dem Nahmen Jſis verehret worden. Eſchylus hat ſie in ſeinem Prometheus
bis ins innerſte Scythien kommen laſſen.
161 Oreſtes. Euripides hat ein eigen Trauerſpiel von ihm gemacht, und ſei-
nen Zuſtand ſo jaͤmmerlich abgebildet, daß er mehr einem Geſpenſte und Schatten
eines Menſchen, als einem lebendigen aͤhnlich ſahe. So groß war ſein Ungluͤck,
ſeine Wuth und Raſerey geworden.
162 An neue Fabeln. Vorher wieß Horatz wie man Perſonen, die in den Fa-
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