der Verständlichkeit und Richtigkeit des Ausdruckes stehen kan. Denn die Weitläuftigkeit verdirbt alles, es wäre denn, daß die letzte Zeile einen gantz unvermutheten Ge- dancken in sich hielte, den man gar nicht vorher sehen oder nur errathen können. Jch schliesse indessen diese Abhand- lung der Sinngedichte durch ein Exempel, so die Natur derselben kurtz in sich schließt, wie ich dieselbe schon von an- dern, wiewohl nur prosaisch beschrieben gefunden:
Machst du ein Sinngedicht; so laß es kurtz und klein, Fein stachlicht, Honigsüß; kurtz, eine Biene seyn.
Da die Sinngedichte der alten Lateiner nicht allezeit so kurtz gerathen waren; sondern zuweilen aus vier, sechs, acht, ja wohl noch mehrern Zeilen bestunden: So haben die neuen Jtaliener, als die ihre Poesie zuerst ins Geschicke gebracht, verschiedene Arten vielzeiligter Sinngedichte auf die Bahn gebracht. Dahin gehört denn gleich anfangs das Madri- gal. Boileau zwar giebt davon die Regel:
Le Madrigal plus simple & plus noble dans son tour, Respire la douceur, la tendresse & l'amour.
Allein man pflegt sonst insgemein allerley scharfsinnige Ein- fälle darein vorzutragen, die mehr satirisch, als zärtlich oder verliebt sind. Ziegler hat bey uns ein eigen Tractätchen davon geschrieben, und gar feine Exempel von eigener Er- findung dazu gegeben. Man giebt die Fürschrifft, ein Madrigal solle aus ungleich-langen, aber mehr kurtzen als langen Verßen von ungerader Zahl, bestehen, und im Schlusse allezeit einen scharfsinnigen Einfall oder unvermu- theten Gedancken haben. Man sieht wohl, daß die Frey- heit in dieser Art sehr groß ist, zumahl, da man die Reime nach Belieben durch einander mischen, und bald 5, bald 7, bald 9, bald 11, bald 13 Zeilen dazu brauchen darf. Jch will ein Exempel aus Zieglern geben:
Jch frage nichts nach allen Lästerkatzen. Sie speyen auf mich loß, Und dichten was sie wollen, Jch werde dennoch groß.
Jhr
Des II Theils VII Capitel
der Verſtaͤndlichkeit und Richtigkeit des Ausdruckes ſtehen kan. Denn die Weitlaͤuftigkeit verdirbt alles, es waͤre denn, daß die letzte Zeile einen gantz unvermutheten Ge- dancken in ſich hielte, den man gar nicht vorher ſehen oder nur errathen koͤnnen. Jch ſchlieſſe indeſſen dieſe Abhand- lung der Sinngedichte durch ein Exempel, ſo die Natur derſelben kurtz in ſich ſchließt, wie ich dieſelbe ſchon von an- dern, wiewohl nur proſaiſch beſchrieben gefunden:
Machſt du ein Sinngedicht; ſo laß es kurtz und klein, Fein ſtachlicht, Honigſuͤß; kurtz, eine Biene ſeyn.
Da die Sinngedichte der alten Lateiner nicht allezeit ſo kurtz gerathen waren; ſondern zuweilen aus vier, ſechs, acht, ja wohl noch mehrern Zeilen beſtunden: So haben die neuen Jtaliener, als die ihre Poeſie zuerſt ins Geſchicke gebracht, verſchiedene Arten vielzeiligter Sinngedichte auf die Bahn gebracht. Dahin gehoͤrt denn gleich anfangs das Madri- gal. Boileau zwar giebt davon die Regel:
Le Madrigal plus ſimple & plus noble dans ſon tour, Reſpire la douceur, la tendreſſe & l’amour.
Allein man pflegt ſonſt insgemein allerley ſcharfſinnige Ein- faͤlle darein vorzutragen, die mehr ſatiriſch, als zaͤrtlich oder verliebt ſind. Ziegler hat bey uns ein eigen Tractaͤtchen davon geſchrieben, und gar feine Exempel von eigener Er- findung dazu gegeben. Man giebt die Fuͤrſchrifft, ein Madrigal ſolle aus ungleich-langen, aber mehr kurtzen als langen Verßen von ungerader Zahl, beſtehen, und im Schluſſe allezeit einen ſcharfſinnigen Einfall oder unvermu- theten Gedancken haben. Man ſieht wohl, daß die Frey- heit in dieſer Art ſehr groß iſt, zumahl, da man die Reime nach Belieben durch einander miſchen, und bald 5, bald 7, bald 9, bald 11, bald 13 Zeilen dazu brauchen darf. Jch will ein Exempel aus Zieglern geben:
Jch frage nichts nach allen Laͤſterkatzen. Sie ſpeyen auf mich loß, Und dichten was ſie wollen, Jch werde dennoch groß.
Jhr
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[486/0514]
Des II Theils VII Capitel
der Verſtaͤndlichkeit und Richtigkeit des Ausdruckes ſtehen
kan. Denn die Weitlaͤuftigkeit verdirbt alles, es waͤre
denn, daß die letzte Zeile einen gantz unvermutheten Ge-
dancken in ſich hielte, den man gar nicht vorher ſehen oder
nur errathen koͤnnen. Jch ſchlieſſe indeſſen dieſe Abhand-
lung der Sinngedichte durch ein Exempel, ſo die Natur
derſelben kurtz in ſich ſchließt, wie ich dieſelbe ſchon von an-
dern, wiewohl nur proſaiſch beſchrieben gefunden:
Machſt du ein Sinngedicht; ſo laß es kurtz und klein,
Fein ſtachlicht, Honigſuͤß; kurtz, eine Biene ſeyn.
Da die Sinngedichte der alten Lateiner nicht allezeit ſo kurtz
gerathen waren; ſondern zuweilen aus vier, ſechs, acht, ja
wohl noch mehrern Zeilen beſtunden: So haben die neuen
Jtaliener, als die ihre Poeſie zuerſt ins Geſchicke gebracht,
verſchiedene Arten vielzeiligter Sinngedichte auf die Bahn
gebracht. Dahin gehoͤrt denn gleich anfangs das Madri-
gal. Boileau zwar giebt davon die Regel:
Le Madrigal plus ſimple & plus noble dans ſon tour,
Reſpire la douceur, la tendreſſe & l’amour.
Allein man pflegt ſonſt insgemein allerley ſcharfſinnige Ein-
faͤlle darein vorzutragen, die mehr ſatiriſch, als zaͤrtlich oder
verliebt ſind. Ziegler hat bey uns ein eigen Tractaͤtchen
davon geſchrieben, und gar feine Exempel von eigener Er-
findung dazu gegeben. Man giebt die Fuͤrſchrifft, ein
Madrigal ſolle aus ungleich-langen, aber mehr kurtzen als
langen Verßen von ungerader Zahl, beſtehen, und im
Schluſſe allezeit einen ſcharfſinnigen Einfall oder unvermu-
theten Gedancken haben. Man ſieht wohl, daß die Frey-
heit in dieſer Art ſehr groß iſt, zumahl, da man die Reime
nach Belieben durch einander miſchen, und bald 5, bald 7,
bald 9, bald 11, bald 13 Zeilen dazu brauchen darf. Jch
will ein Exempel aus Zieglern geben:
Jch frage nichts nach allen Laͤſterkatzen.
Sie ſpeyen auf mich loß,
Und dichten was ſie wollen,
Jch werde dennoch groß.
Jhr
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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 486. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/514>, abgerufen am 22.11.2024.
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