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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Des II Theils VIII Capitel

Fast alles schmücket sich durch ein verstelltes Gleißen,
Der Geist ist viel zu schwach die Larven abzureißen,
Die ihm ein Fallstrick sind. So bald ein Affterlicht
Mit trüben Strahlen spielt, und nur das Auge spricht:
Dort gläntzt ein Morgenstern: so läßt er sich bewegen,
Und eilt mit Hertzenslust dem blassen Schein entgegen,
Der ihn doch nur verführt. Hier lobt der Mund den Wein:
Sogleich stürtzt ihn der Arm mit vollen Bechern ein.
Der schwache Geist verspielt, wenn Feinde mit ihm kämpfen,
Die schlau und unvermerckt ihm Muth und Kräffte dämpfen.

Daher stammt nun die Brut des bösen Willens ab.
Wer sonst im Dunckeln tappt, fällt leichtlich in ein Grab,
Und wo Verstand und Witz das Böse nützlich heissen,
Wo Hertz und Sinne sich nach falschen Gütern reissen,
Durchbricht der Lüste Strom der Lebens-Regeln Damm,
Beschwemmt die matte Brust mit faulem Sünden-Schlamm,
Erhitzet Blut und Geist, verwehnet Leib und Glieder,
Dann legt auch die Vernunft den schwachen Scepter nieder.
Also, wie mich bedünckt, ist Adams Fall geschehn.
Er hatte zwar in GOtt sein höchstes Gut gesehn,
Gesehn, und wohl erkannt, man müsse GOtt verehren,
Und seine Wohlfahrt nicht durch Frevelthaten stöhren.
Doch seht, sein Geist verliert, aus Unvollkommenheit,
Den wohlgefaßten Satz mit aller Deutlichkeit.
Wie eifrig GOtt gesucht sein Hertze zu gewinnen,
Das alles dämpft in ihm der Eindruck reger Sinnen.
Und endlich fällt er gar. Warum? Ein schlauer Feind,
Den Eva noch nicht kennt und nicht zu fürchten scheint,
Verbirgt sich in den Glantz der schönen Seraphinen,
Die ihren Augen längst bewunderns werth geschienen.
Die Schlange preiset ihr den süßen Apfel an,
Sie spricht: Geneuß die Frucht, die göttlich machen kan.
So wird der Sinn betäubt, der Witz ist eingenommen,
Dem Geiste dünckt es gut, dem Höchsten gleich zu kommen.
Wer handelt wohl so klug als der sein Bestes sucht?
Nun streckt der Arm sich hin, er bricht und ißt die Frucht,
Die Frucht, von deren Gifft die Väter sammt den Erben,
Auf GOttes Richter-Spruch an Leib und Seele sterben.
So ists, gerechter GOtt, doch deine Heiligkeit
Bleibt hier und überall von aller Schuld befreyt.
War nicht die gantze Welt vollkommen gut erschaffen?
Sie wars; besaß ein Hirsch gleich nicht den Witz der Affen,
War schon des Monden Licht kein heller Sonnenschein,
Und konnte gleich der Mensch kein GOtt, kein Engel seyn.
Ein

Des II Theils VIII Capitel

Faſt alles ſchmuͤcket ſich durch ein verſtelltes Gleißen,
Der Geiſt iſt viel zu ſchwach die Larven abzureißen,
Die ihm ein Fallſtrick ſind. So bald ein Affterlicht
Mit truͤben Strahlen ſpielt, und nur das Auge ſpricht:
Dort glaͤntzt ein Morgenſtern: ſo laͤßt er ſich bewegen,
Und eilt mit Hertzensluſt dem blaſſen Schein entgegen,
Der ihn doch nur verfuͤhrt. Hier lobt der Mund den Wein:
Sogleich ſtuͤrtzt ihn der Arm mit vollen Bechern ein.
Der ſchwache Geiſt verſpielt, wenn Feinde mit ihm kaͤmpfen,
Die ſchlau und unvermerckt ihm Muth und Kraͤffte daͤmpfen.

Daher ſtammt nun die Brut des boͤſen Willens ab.
Wer ſonſt im Dunckeln tappt, faͤllt leichtlich in ein Grab,
Und wo Verſtand und Witz das Boͤſe nuͤtzlich heiſſen,
Wo Hertz und Sinne ſich nach falſchen Guͤtern reiſſen,
Durchbricht der Luͤſte Strom der Lebens-Regeln Damm,
Beſchwemmt die matte Bruſt mit faulem Suͤnden-Schlamm,
Erhitzet Blut und Geiſt, verwehnet Leib und Glieder,
Dann legt auch die Vernunft den ſchwachen Scepter nieder.
Alſo, wie mich beduͤnckt, iſt Adams Fall geſchehn.
Er hatte zwar in GOtt ſein hoͤchſtes Gut geſehn,
Geſehn, und wohl erkannt, man muͤſſe GOtt verehren,
Und ſeine Wohlfahrt nicht durch Frevelthaten ſtoͤhren.
Doch ſeht, ſein Geiſt verliert, aus Unvollkommenheit,
Den wohlgefaßten Satz mit aller Deutlichkeit.
Wie eifrig GOtt geſucht ſein Hertze zu gewinnen,
Das alles daͤmpft in ihm der Eindruck reger Sinnen.
Und endlich faͤllt er gar. Warum? Ein ſchlauer Feind,
Den Eva noch nicht kennt und nicht zu fuͤrchten ſcheint,
Verbirgt ſich in den Glantz der ſchoͤnen Seraphinen,
Die ihren Augen laͤngſt bewunderns werth geſchienen.
Die Schlange preiſet ihr den ſuͤßen Apfel an,
Sie ſpricht: Geneuß die Frucht, die goͤttlich machen kan.
So wird der Sinn betaͤubt, der Witz iſt eingenommen,
Dem Geiſte duͤnckt es gut, dem Hoͤchſten gleich zu kommen.
Wer handelt wohl ſo klug als der ſein Beſtes ſucht?
Nun ſtreckt der Arm ſich hin, er bricht und ißt die Frucht,
Die Frucht, von deren Gifft die Vaͤter ſammt den Erben,
Auf GOttes Richter-Spruch an Leib und Seele ſterben.
So iſts, gerechter GOtt, doch deine Heiligkeit
Bleibt hier und uͤberall von aller Schuld befreyt.
War nicht die gantze Welt vollkommen gut erſchaffen?
Sie wars; beſaß ein Hirſch gleich nicht den Witz der Affen,
War ſchon des Monden Licht kein heller Sonnenſchein,
Und konnte gleich der Menſch kein GOtt, kein Engel ſeyn.
Ein
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[530/0558] Des II Theils VIII Capitel Faſt alles ſchmuͤcket ſich durch ein verſtelltes Gleißen, Der Geiſt iſt viel zu ſchwach die Larven abzureißen, Die ihm ein Fallſtrick ſind. So bald ein Affterlicht Mit truͤben Strahlen ſpielt, und nur das Auge ſpricht: Dort glaͤntzt ein Morgenſtern: ſo laͤßt er ſich bewegen, Und eilt mit Hertzensluſt dem blaſſen Schein entgegen, Der ihn doch nur verfuͤhrt. Hier lobt der Mund den Wein: Sogleich ſtuͤrtzt ihn der Arm mit vollen Bechern ein. Der ſchwache Geiſt verſpielt, wenn Feinde mit ihm kaͤmpfen, Die ſchlau und unvermerckt ihm Muth und Kraͤffte daͤmpfen. Daher ſtammt nun die Brut des boͤſen Willens ab. Wer ſonſt im Dunckeln tappt, faͤllt leichtlich in ein Grab, Und wo Verſtand und Witz das Boͤſe nuͤtzlich heiſſen, Wo Hertz und Sinne ſich nach falſchen Guͤtern reiſſen, Durchbricht der Luͤſte Strom der Lebens-Regeln Damm, Beſchwemmt die matte Bruſt mit faulem Suͤnden-Schlamm, Erhitzet Blut und Geiſt, verwehnet Leib und Glieder, Dann legt auch die Vernunft den ſchwachen Scepter nieder. Alſo, wie mich beduͤnckt, iſt Adams Fall geſchehn. Er hatte zwar in GOtt ſein hoͤchſtes Gut geſehn, Geſehn, und wohl erkannt, man muͤſſe GOtt verehren, Und ſeine Wohlfahrt nicht durch Frevelthaten ſtoͤhren. Doch ſeht, ſein Geiſt verliert, aus Unvollkommenheit, Den wohlgefaßten Satz mit aller Deutlichkeit. Wie eifrig GOtt geſucht ſein Hertze zu gewinnen, Das alles daͤmpft in ihm der Eindruck reger Sinnen. Und endlich faͤllt er gar. Warum? Ein ſchlauer Feind, Den Eva noch nicht kennt und nicht zu fuͤrchten ſcheint, Verbirgt ſich in den Glantz der ſchoͤnen Seraphinen, Die ihren Augen laͤngſt bewunderns werth geſchienen. Die Schlange preiſet ihr den ſuͤßen Apfel an, Sie ſpricht: Geneuß die Frucht, die goͤttlich machen kan. So wird der Sinn betaͤubt, der Witz iſt eingenommen, Dem Geiſte duͤnckt es gut, dem Hoͤchſten gleich zu kommen. Wer handelt wohl ſo klug als der ſein Beſtes ſucht? Nun ſtreckt der Arm ſich hin, er bricht und ißt die Frucht, Die Frucht, von deren Gifft die Vaͤter ſammt den Erben, Auf GOttes Richter-Spruch an Leib und Seele ſterben. So iſts, gerechter GOtt, doch deine Heiligkeit Bleibt hier und uͤberall von aller Schuld befreyt. War nicht die gantze Welt vollkommen gut erſchaffen? Sie wars; beſaß ein Hirſch gleich nicht den Witz der Affen, War ſchon des Monden Licht kein heller Sonnenſchein, Und konnte gleich der Menſch kein GOtt, kein Engel ſeyn. Ein

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 530. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/558>, abgerufen am 22.11.2024.