Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.
An dir, an dir o Mensch, liegt deines Unglücks Schuld, Jndessen trägt dich doch dein Schöpfer mit Gedult. Wir wissen von Natur uns selber nicht zu rathen, Wir brechen sein Gesetz durch tausend Uebelthaten, Verstand und Geist ist blind und sieht sein bestes nicht, Und ob gleich die Vernunft und ihr geschwächtes Licht Jn Griechenland und Rom durch schöne Wissenschafften Den Weg zur Wohlfahrt wieß; so wollt es doch nicht hafften. Die Lüste sind ein Roß, das niemand zähmen kan. Jndessen nimmt sich GOtt der Menschenkinder an, Sein Sohn wird unser Heyl, vollbringt des Vaters Willen, Er lehrt mit Wort und Werck des Höchsten Wort erfüllen, Erleuchtet den Verstand und tilgt die Bosheit aus, Verspricht den Seinen gar ein ewig Freuden-Haus, Und will es aller Welt zum Gnadenlohne schencken, Dafern sie sich nur läßt zu seiner Liebe lencken. Dein Heylbegieriger, und väterlicher Sinn, O Schöpfer dieser Welt! gieng freylich wohl dahin, Uns alle von der Macht des Todes zu erlösen: Allein des Menschen Hertz klebt gar zu sehr am Bösen. Dein Vorsatz war zu schwer, und unsre Pest zu groß. Wer macht uns wohl so gleich von allen Lastern loß? Wir treiben mit Gewalt den guten Geist zurücke, Und wehrens, daß er uns durch keine Tugend schmücke. Das ist die Art der Welt. Doch deine Freundlichkeit Verschont, was sie verschmäht, und giebt dem Frevler Zeit. Sie dämpft des Fleisches Wuth, so frech sie sich empöret, Und wenn sie gleich nicht weicht, ja sich wohl gar vermehret, So hebest du doch offt den stärcksten Wiederstand, Und bietest fast mit Zwang auch einem Saul die Hand, Der L l 2
An dir, an dir o Menſch, liegt deines Ungluͤcks Schuld, Jndeſſen traͤgt dich doch dein Schoͤpfer mit Gedult. Wir wiſſen von Natur uns ſelber nicht zu rathen, Wir brechen ſein Geſetz durch tauſend Uebelthaten, Verſtand und Geiſt iſt blind und ſieht ſein beſtes nicht, Und ob gleich die Vernunft und ihr geſchwaͤchtes Licht Jn Griechenland und Rom durch ſchoͤne Wiſſenſchafften Den Weg zur Wohlfahrt wieß; ſo wollt es doch nicht hafften. Die Luͤſte ſind ein Roß, das niemand zaͤhmen kan. Jndeſſen nimmt ſich GOtt der Menſchenkinder an, Sein Sohn wird unſer Heyl, vollbringt des Vaters Willen, Er lehrt mit Wort und Werck des Hoͤchſten Wort erfuͤllen, Erleuchtet den Verſtand und tilgt die Bosheit aus, Verſpricht den Seinen gar ein ewig Freuden-Haus, Und will es aller Welt zum Gnadenlohne ſchencken, Dafern ſie ſich nur laͤßt zu ſeiner Liebe lencken. Dein Heylbegieriger, und vaͤterlicher Sinn, O Schoͤpfer dieſer Welt! gieng freylich wohl dahin, Uns alle von der Macht des Todes zu erloͤſen: Allein des Menſchen Hertz klebt gar zu ſehr am Boͤſen. Dein Vorſatz war zu ſchwer, und unſre Peſt zu groß. Wer macht uns wohl ſo gleich von allen Laſtern loß? Wir treiben mit Gewalt den guten Geiſt zuruͤcke, Und wehrens, daß er uns durch keine Tugend ſchmuͤcke. Das iſt die Art der Welt. Doch deine Freundlichkeit Verſchont, was ſie verſchmaͤht, und giebt dem Frevler Zeit. Sie daͤmpft des Fleiſches Wuth, ſo frech ſie ſich empoͤret, Und wenn ſie gleich nicht weicht, ja ſich wohl gar vermehret, So hebeſt du doch offt den ſtaͤrckſten Wiederſtand, Und bieteſt faſt mit Zwang auch einem Saul die Hand, Der L l 2
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <lg type="poem"> <lg n="46"> <l> <pb facs="#f0559" n="531"/> <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">Von dogmatiſchen Poeſien.</hi> </fw> </l><lb/> <l>Ein jedes Ding behielt ſein unveraͤndert Weſen,</l><lb/> <l>Und als es wircklich ward, ſo hatt es GOtt erleſen,</l><lb/> <l>Weil ſeine Weisheit es in dieſem Bau der Welt,</l><lb/> <l>Den er ſich ausgedacht, zu ſchaffen feſt geſtellt.</l><lb/> <l>Was der enthaͤlt iſt gut, und ſelbſt von GOtt beſchloſſen,</l><lb/> <l>Es iſt aus freyer Wahl des hoͤchſten Guts gefloſſen.</l><lb/> <l>Jch weiß wohl, manches Ding ſieht ſchlecht und wandelbar,</l><lb/> <l>Verwirrt und elend aus; doch blieb es, wie es war.</l><lb/> <l>Die Geyer kehrte GOtt in keine Turteltauben,</l><lb/> <l>Der Wolf ward nicht ein Schaaf, die Baͤren gehn noch rauben,</l><lb/> <l>Ein Rabe ſtiehlt. Warum? Es gieng nicht anders an.</l><lb/> <l>Wo iſt nun ein Geſetz das GOtt verbinden kan,<lb/> (Gewiß man muß allhier der frommen Einfalt lachen)</l><lb/> <l>Den Adam nicht zum Mann, ach nein, zum GOtt zu machen?</l> </lg><lb/> <lg n="47"> <l>An dir, an dir o Menſch, liegt deines Ungluͤcks Schuld,</l><lb/> <l>Jndeſſen traͤgt dich doch dein Schoͤpfer mit Gedult.</l><lb/> <l>Wir wiſſen von Natur uns ſelber nicht zu rathen,</l><lb/> <l>Wir brechen ſein Geſetz durch tauſend Uebelthaten,</l><lb/> <l>Verſtand und Geiſt iſt blind und ſieht ſein beſtes nicht,</l><lb/> <l>Und ob gleich die Vernunft und ihr geſchwaͤchtes Licht</l><lb/> <l>Jn Griechenland und Rom durch ſchoͤne Wiſſenſchafften</l><lb/> <l>Den Weg zur Wohlfahrt wieß; ſo wollt es doch nicht hafften.</l><lb/> <l>Die Luͤſte ſind ein Roß, das niemand zaͤhmen kan.</l><lb/> <l>Jndeſſen nimmt ſich GOtt der Menſchenkinder an,</l><lb/> <l>Sein Sohn wird unſer Heyl, vollbringt des Vaters Willen,</l><lb/> <l>Er lehrt mit Wort und Werck des Hoͤchſten Wort erfuͤllen,</l><lb/> <l>Erleuchtet den Verſtand und tilgt die Bosheit aus,</l><lb/> <l>Verſpricht den Seinen gar ein ewig Freuden-Haus,</l><lb/> <l>Und will es aller Welt zum Gnadenlohne ſchencken,</l><lb/> <l>Dafern ſie ſich nur laͤßt zu ſeiner Liebe lencken.</l> </lg><lb/> <lg n="48"> <l>Dein Heylbegieriger, und vaͤterlicher Sinn,</l><lb/> <l>O Schoͤpfer dieſer Welt! gieng freylich wohl dahin,</l><lb/> <l>Uns alle von der Macht des Todes zu erloͤſen:</l><lb/> <l>Allein des Menſchen Hertz klebt gar zu ſehr am Boͤſen.</l><lb/> <l>Dein Vorſatz war zu ſchwer, und unſre Peſt zu groß.</l><lb/> <l>Wer macht uns wohl ſo gleich von allen Laſtern loß?</l><lb/> <l>Wir treiben mit Gewalt den guten Geiſt zuruͤcke,</l><lb/> <l>Und wehrens, daß er uns durch keine Tugend ſchmuͤcke.</l><lb/> <l>Das iſt die Art der Welt. Doch deine Freundlichkeit</l><lb/> <l>Verſchont, was ſie verſchmaͤht, und giebt dem Frevler Zeit.</l><lb/> <l>Sie daͤmpft des Fleiſches Wuth, ſo frech ſie ſich empoͤret,</l><lb/> <l>Und wenn ſie gleich nicht weicht, ja ſich wohl gar vermehret,</l><lb/> <l>So hebeſt du doch offt den ſtaͤrckſten Wiederſtand,</l><lb/> <l>Und bieteſt faſt mit Zwang auch einem Saul die Hand,<lb/> <fw place="bottom" type="sig">L l 2</fw><fw place="bottom" type="catch">Der</fw><lb/></l> </lg> </lg> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [531/0559]
Von dogmatiſchen Poeſien.
Ein jedes Ding behielt ſein unveraͤndert Weſen,
Und als es wircklich ward, ſo hatt es GOtt erleſen,
Weil ſeine Weisheit es in dieſem Bau der Welt,
Den er ſich ausgedacht, zu ſchaffen feſt geſtellt.
Was der enthaͤlt iſt gut, und ſelbſt von GOtt beſchloſſen,
Es iſt aus freyer Wahl des hoͤchſten Guts gefloſſen.
Jch weiß wohl, manches Ding ſieht ſchlecht und wandelbar,
Verwirrt und elend aus; doch blieb es, wie es war.
Die Geyer kehrte GOtt in keine Turteltauben,
Der Wolf ward nicht ein Schaaf, die Baͤren gehn noch rauben,
Ein Rabe ſtiehlt. Warum? Es gieng nicht anders an.
Wo iſt nun ein Geſetz das GOtt verbinden kan,
(Gewiß man muß allhier der frommen Einfalt lachen)
Den Adam nicht zum Mann, ach nein, zum GOtt zu machen?
An dir, an dir o Menſch, liegt deines Ungluͤcks Schuld,
Jndeſſen traͤgt dich doch dein Schoͤpfer mit Gedult.
Wir wiſſen von Natur uns ſelber nicht zu rathen,
Wir brechen ſein Geſetz durch tauſend Uebelthaten,
Verſtand und Geiſt iſt blind und ſieht ſein beſtes nicht,
Und ob gleich die Vernunft und ihr geſchwaͤchtes Licht
Jn Griechenland und Rom durch ſchoͤne Wiſſenſchafften
Den Weg zur Wohlfahrt wieß; ſo wollt es doch nicht hafften.
Die Luͤſte ſind ein Roß, das niemand zaͤhmen kan.
Jndeſſen nimmt ſich GOtt der Menſchenkinder an,
Sein Sohn wird unſer Heyl, vollbringt des Vaters Willen,
Er lehrt mit Wort und Werck des Hoͤchſten Wort erfuͤllen,
Erleuchtet den Verſtand und tilgt die Bosheit aus,
Verſpricht den Seinen gar ein ewig Freuden-Haus,
Und will es aller Welt zum Gnadenlohne ſchencken,
Dafern ſie ſich nur laͤßt zu ſeiner Liebe lencken.
Dein Heylbegieriger, und vaͤterlicher Sinn,
O Schoͤpfer dieſer Welt! gieng freylich wohl dahin,
Uns alle von der Macht des Todes zu erloͤſen:
Allein des Menſchen Hertz klebt gar zu ſehr am Boͤſen.
Dein Vorſatz war zu ſchwer, und unſre Peſt zu groß.
Wer macht uns wohl ſo gleich von allen Laſtern loß?
Wir treiben mit Gewalt den guten Geiſt zuruͤcke,
Und wehrens, daß er uns durch keine Tugend ſchmuͤcke.
Das iſt die Art der Welt. Doch deine Freundlichkeit
Verſchont, was ſie verſchmaͤht, und giebt dem Frevler Zeit.
Sie daͤmpft des Fleiſches Wuth, ſo frech ſie ſich empoͤret,
Und wenn ſie gleich nicht weicht, ja ſich wohl gar vermehret,
So hebeſt du doch offt den ſtaͤrckſten Wiederſtand,
Und bieteſt faſt mit Zwang auch einem Saul die Hand,
Der
L l 2
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |