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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Des II Theils VIII Capitel

Der sie doch von sich stieß. Was will man ferner sagen?
Denckt unser Fürwitz dich als grausam anzuklagen,
Daß, da du voller Macht und voller Güte bist,
Dir doch dein Gnadenwerck nicht stets gelungen ist:
Daß tausend Sünder noch in ihren Sünden wühlen,
Und keinen solchen Zug zu Buß und Glauben fühlen,
Der sie bezwingt, besiegt, und Hertz und Willen bricht?
O nein, du ziehst sie wohl; allein sie folgen nicht.
Dein Sohn kan selber nicht Capernaum bekehren,
Durch Wunder, die doch dort so starck gewesen wären,
Als Sodoms Bosheit war. Ein Zweifel fällt mir ein;
Wie kanst du hier so reich an großen Thaten seyn,
Und warum ließ dein Arm nicht dort ein Wunder mercken?
Sechs Städte würden ja mit wenig Allmachts-Wercken
Gewiß bekehret seyn: Du liessest keins geschehn;
Gomorrha muste nichts als lauter Rache sehn.
Warum muß Chorazim des Glaubens Gnadenlehren,
Warum Bethsaida, warum nicht Tyrus hören,
Nicht Sidon, die sich doch viel leichter bessern kan?
Den frechen Petrus blickt sein holder Meister an,
Den er so freventlich verleugnend abgeschworen,
Ein Judas aber geht in seiner Schuld verlohren.
HErr! wär es dir ein Ernst uns alle zu erhöhn,
Wer könnte deiner Macht und Wirckung wiederstehn?
Wen sollte nicht dein Ruf, dein starcker Ruf bezwingen,
Davon die Todten selbst aus ihren Hölen springen?

Doch halt, ich bin zu kühn! O GOtt, dein weiser Schluß
Hebt meine Zweifel auf, daß ich mich schämen muß.
Mensch, soll die Allmacht denn allein die Welt regieren?
Soll lauter Gnad und Huld das gantze Ruder führen?
Du fehlst! die Weisheit herrscht, die Weisheit herrscht allein.
Jn ihren Schlüssen muß der Grund verborgen seyn,
Warum dieß so geschieht. GOtt hat die Welt erwehlet,
An deren Schönheit nichts, auch nicht das mindste fehlet,
Wo Kunst und Harmonie aus jedem Theil erhellt,
Allwo kein Sperling stirbt, kein Haar vom Haupte fällt,
Kein Glücks-kein Unglücks-Fall die Menschen treffen sollen,
Die GOttes Weisheit nicht zum Theil verhengen wollen,
Zum Theil erlaubet hat. Da, da flieht Paulus hin,
Jn diese Tiefe sinckt sein Gottgelaßner Sinn.
Er weiß des Höchsten Rath nicht völlig auszudencken;
Drum muß er sich ins Meer der Weisheit GOttes sencken.
O Mensch, was willst denn du mit Maulwurfs-Augen sehn?
Ach möchtest du den Blick auf deine Schwachheit drehn,
Und

Des II Theils VIII Capitel

Der ſie doch von ſich ſtieß. Was will man ferner ſagen?
Denckt unſer Fuͤrwitz dich als grauſam anzuklagen,
Daß, da du voller Macht und voller Guͤte biſt,
Dir doch dein Gnadenwerck nicht ſtets gelungen iſt:
Daß tauſend Suͤnder noch in ihren Suͤnden wuͤhlen,
Und keinen ſolchen Zug zu Buß und Glauben fuͤhlen,
Der ſie bezwingt, beſiegt, und Hertz und Willen bricht?
O nein, du ziehſt ſie wohl; allein ſie folgen nicht.
Dein Sohn kan ſelber nicht Capernaum bekehren,
Durch Wunder, die doch dort ſo ſtarck geweſen waͤren,
Als Sodoms Bosheit war. Ein Zweifel faͤllt mir ein;
Wie kanſt du hier ſo reich an großen Thaten ſeyn,
Und warum ließ dein Arm nicht dort ein Wunder mercken?
Sechs Staͤdte wuͤrden ja mit wenig Allmachts-Wercken
Gewiß bekehret ſeyn: Du lieſſeſt keins geſchehn;
Gomorrha muſte nichts als lauter Rache ſehn.
Warum muß Chorazim des Glaubens Gnadenlehren,
Warum Bethſaida, warum nicht Tyrus hoͤren,
Nicht Sidon, die ſich doch viel leichter beſſern kan?
Den frechen Petrus blickt ſein holder Meiſter an,
Den er ſo freventlich verleugnend abgeſchworen,
Ein Judas aber geht in ſeiner Schuld verlohren.
HErr! waͤr es dir ein Ernſt uns alle zu erhoͤhn,
Wer koͤnnte deiner Macht und Wirckung wiederſtehn?
Wen ſollte nicht dein Ruf, dein ſtarcker Ruf bezwingen,
Davon die Todten ſelbſt aus ihren Hoͤlen ſpringen?

Doch halt, ich bin zu kuͤhn! O GOtt, dein weiſer Schluß
Hebt meine Zweifel auf, daß ich mich ſchaͤmen muß.
Menſch, ſoll die Allmacht denn allein die Welt regieren?
Soll lauter Gnad und Huld das gantze Ruder fuͤhren?
Du fehlſt! die Weisheit herrſcht, die Weisheit herrſcht allein.
Jn ihren Schluͤſſen muß der Grund verborgen ſeyn,
Warum dieß ſo geſchieht. GOtt hat die Welt erwehlet,
An deren Schoͤnheit nichts, auch nicht das mindſte fehlet,
Wo Kunſt und Harmonie aus jedem Theil erhellt,
Allwo kein Sperling ſtirbt, kein Haar vom Haupte faͤllt,
Kein Gluͤcks-kein Ungluͤcks-Fall die Menſchen treffen ſollen,
Die GOttes Weisheit nicht zum Theil verhengen wollen,
Zum Theil erlaubet hat. Da, da flieht Paulus hin,
Jn dieſe Tiefe ſinckt ſein Gottgelaßner Sinn.
Er weiß des Hoͤchſten Rath nicht voͤllig auszudencken;
Drum muß er ſich ins Meer der Weisheit GOttes ſencken.
O Menſch, was willſt denn du mit Maulwurfs-Augen ſehn?
Ach moͤchteſt du den Blick auf deine Schwachheit drehn,
Und
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[532/0560] Des II Theils VIII Capitel Der ſie doch von ſich ſtieß. Was will man ferner ſagen? Denckt unſer Fuͤrwitz dich als grauſam anzuklagen, Daß, da du voller Macht und voller Guͤte biſt, Dir doch dein Gnadenwerck nicht ſtets gelungen iſt: Daß tauſend Suͤnder noch in ihren Suͤnden wuͤhlen, Und keinen ſolchen Zug zu Buß und Glauben fuͤhlen, Der ſie bezwingt, beſiegt, und Hertz und Willen bricht? O nein, du ziehſt ſie wohl; allein ſie folgen nicht. Dein Sohn kan ſelber nicht Capernaum bekehren, Durch Wunder, die doch dort ſo ſtarck geweſen waͤren, Als Sodoms Bosheit war. Ein Zweifel faͤllt mir ein; Wie kanſt du hier ſo reich an großen Thaten ſeyn, Und warum ließ dein Arm nicht dort ein Wunder mercken? Sechs Staͤdte wuͤrden ja mit wenig Allmachts-Wercken Gewiß bekehret ſeyn: Du lieſſeſt keins geſchehn; Gomorrha muſte nichts als lauter Rache ſehn. Warum muß Chorazim des Glaubens Gnadenlehren, Warum Bethſaida, warum nicht Tyrus hoͤren, Nicht Sidon, die ſich doch viel leichter beſſern kan? Den frechen Petrus blickt ſein holder Meiſter an, Den er ſo freventlich verleugnend abgeſchworen, Ein Judas aber geht in ſeiner Schuld verlohren. HErr! waͤr es dir ein Ernſt uns alle zu erhoͤhn, Wer koͤnnte deiner Macht und Wirckung wiederſtehn? Wen ſollte nicht dein Ruf, dein ſtarcker Ruf bezwingen, Davon die Todten ſelbſt aus ihren Hoͤlen ſpringen? Doch halt, ich bin zu kuͤhn! O GOtt, dein weiſer Schluß Hebt meine Zweifel auf, daß ich mich ſchaͤmen muß. Menſch, ſoll die Allmacht denn allein die Welt regieren? Soll lauter Gnad und Huld das gantze Ruder fuͤhren? Du fehlſt! die Weisheit herrſcht, die Weisheit herrſcht allein. Jn ihren Schluͤſſen muß der Grund verborgen ſeyn, Warum dieß ſo geſchieht. GOtt hat die Welt erwehlet, An deren Schoͤnheit nichts, auch nicht das mindſte fehlet, Wo Kunſt und Harmonie aus jedem Theil erhellt, Allwo kein Sperling ſtirbt, kein Haar vom Haupte faͤllt, Kein Gluͤcks-kein Ungluͤcks-Fall die Menſchen treffen ſollen, Die GOttes Weisheit nicht zum Theil verhengen wollen, Zum Theil erlaubet hat. Da, da flieht Paulus hin, Jn dieſe Tiefe ſinckt ſein Gottgelaßner Sinn. Er weiß des Hoͤchſten Rath nicht voͤllig auszudencken; Drum muß er ſich ins Meer der Weisheit GOttes ſencken. O Menſch, was willſt denn du mit Maulwurfs-Augen ſehn? Ach moͤchteſt du den Blick auf deine Schwachheit drehn, Und

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 532. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/560>, abgerufen am 22.11.2024.