Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.
Verhängniß! dessen Macht und weisen Götter-Schluß, Der gantze Bau der Welt in Demuth küssen muß, Verhängniß! höre mich, wenn meine Klagen schallen, Und laß mich, dein Geschöpf, ins alte Nichts verfallen. Was soll das Leben mir? Mir, der ich mir zur Pein; Dir selber zum Verdruß, noch muß vorhanden seyn. Mein Daseyn ist umsonst, wenn Jahre, Tag' und Stunden, Die sich durch meinen Dienst bishero eingefunden, Vergebens untergehn. Was nützt der Welt die Zeit? Was wacht mein graues Haupt mit solcher Munterkeit? Was soll der schnelle Flug der Pfeil-geschwinden Schwingen? Wann jeder Augenblick, den sie der Erden bringen, Gemißbraucht werden soll. Du kennst der Jahre Zahl, Du weist es, daß mein Arm viel Millionen-mahl, Dies schnelle Stunden-Glas gehörig umgekehret, Daß keine Creatur sich über mich beschweret. Allein, es ist umsonst, es ist umsonst geschehn; Jch muß ja Tag vor Tag mit Gram und Eifer sehn, Daß mein verschloßner Sand dem undanckbaren Haufen Verworfner Sterblichen zum Vorwurf ausgelaufen. Sobald Aurora sich am Horizonte zeigt, Sobald der Sonnen Rad an dies Gewölbe steigt, Den dunckel-braunen Dampf der trüben Nacht zu trennen, Muß mein gereitzter Zorn, muß meine Wuth entbrennen. Vor Scham erröthet selbst das frühe Morgen-Licht, Natur und Welt erwacht, allein die Menschen nicht. Der Tag ist wie die Nacht, die sonst mit sanften Ketten Die müden Sterblichen, in weichen Schwanen-Betten, Als angefesselt hält. Wo ist die Lagerstatt, Die mein erwachter Blick je leer gefunden hat? Ein fauler Schlaf verdirbt den mehr als güldnen Morgen, Jch muß nur mit Verdruß vor Licht und Sonne sorgen: Wo nicht ein matter Greis den letzten Theil der Nacht, Mit Thränen und Gebet und Wachen zugebracht, So liegt die halbe Welt in ungestörtem Schlummer, Sie schnarcht bis in den Tag, und macht sich keinen Kummer, Und
Verhaͤngniß! deſſen Macht und weiſen Goͤtter-Schluß, Der gantze Bau der Welt in Demuth kuͤſſen muß, Verhaͤngniß! hoͤre mich, wenn meine Klagen ſchallen, Und laß mich, dein Geſchoͤpf, ins alte Nichts verfallen. Was ſoll das Leben mir? Mir, der ich mir zur Pein; Dir ſelber zum Verdruß, noch muß vorhanden ſeyn. Mein Daſeyn iſt umſonſt, wenn Jahre, Tag’ und Stunden, Die ſich durch meinen Dienſt bishero eingefunden, Vergebens untergehn. Was nuͤtzt der Welt die Zeit? Was wacht mein graues Haupt mit ſolcher Munterkeit? Was ſoll der ſchnelle Flug der Pfeil-geſchwinden Schwingen? Wann jeder Augenblick, den ſie der Erden bringen, Gemißbraucht werden ſoll. Du kennſt der Jahre Zahl, Du weiſt es, daß mein Arm viel Millionen-mahl, Dies ſchnelle Stunden-Glas gehoͤrig umgekehret, Daß keine Creatur ſich uͤber mich beſchweret. Allein, es iſt umſonſt, es iſt umſonſt geſchehn; Jch muß ja Tag vor Tag mit Gram und Eifer ſehn, Daß mein verſchloßner Sand dem undanckbaren Haufen Verworfner Sterblichen zum Vorwurf ausgelaufen. Sobald Aurora ſich am Horizonte zeigt, Sobald der Sonnen Rad an dies Gewoͤlbe ſteigt, Den dunckel-braunen Dampf der truͤben Nacht zu trennen, Muß mein gereitzter Zorn, muß meine Wuth entbrennen. Vor Scham erroͤthet ſelbſt das fruͤhe Morgen-Licht, Natur und Welt erwacht, allein die Menſchen nicht. Der Tag iſt wie die Nacht, die ſonſt mit ſanften Ketten Die muͤden Sterblichen, in weichen Schwanen-Betten, Als angefeſſelt haͤlt. Wo iſt die Lagerſtatt, Die mein erwachter Blick je leer gefunden hat? Ein fauler Schlaf verdirbt den mehr als guͤldnen Morgen, Jch muß nur mit Verdruß vor Licht und Sonne ſorgen: Wo nicht ein matter Greis den letzten Theil der Nacht, Mit Thraͤnen und Gebet und Wachen zugebracht, So liegt die halbe Welt in ungeſtoͤrtem Schlummer, Sie ſchnarcht bis in den Tag, und macht ſich keinen Kummer, Und
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Des II Theils VIII Capitel
Der Leib war groß und ſtarck. Man ſah die ſteifen Sehnen,
Man ſah die Nerven ſich bey vollen Muſculn dehnen.
Sein ausgeſtreckter Arm warff mit erhabner Hand,
Die Sand-Uhr, ſo er trug, in den zerſtaͤubten Sand.
Die feſte Senſe ſchien den matten Leib zu ſtuͤtzen,
Sein Auge funckelte und ſchoß mit tauſend Blitzen,
Durch alle Gegenden, die man erreichen kan,
Er ſeufzte offtermahls und endlich fieng er an:
Verhaͤngniß! deſſen Macht und weiſen Goͤtter-Schluß,
Der gantze Bau der Welt in Demuth kuͤſſen muß,
Verhaͤngniß! hoͤre mich, wenn meine Klagen ſchallen,
Und laß mich, dein Geſchoͤpf, ins alte Nichts verfallen.
Was ſoll das Leben mir? Mir, der ich mir zur Pein;
Dir ſelber zum Verdruß, noch muß vorhanden ſeyn.
Mein Daſeyn iſt umſonſt, wenn Jahre, Tag’ und Stunden,
Die ſich durch meinen Dienſt bishero eingefunden,
Vergebens untergehn. Was nuͤtzt der Welt die Zeit?
Was wacht mein graues Haupt mit ſolcher Munterkeit?
Was ſoll der ſchnelle Flug der Pfeil-geſchwinden Schwingen?
Wann jeder Augenblick, den ſie der Erden bringen,
Gemißbraucht werden ſoll. Du kennſt der Jahre Zahl,
Du weiſt es, daß mein Arm viel Millionen-mahl,
Dies ſchnelle Stunden-Glas gehoͤrig umgekehret,
Daß keine Creatur ſich uͤber mich beſchweret.
Allein, es iſt umſonſt, es iſt umſonſt geſchehn;
Jch muß ja Tag vor Tag mit Gram und Eifer ſehn,
Daß mein verſchloßner Sand dem undanckbaren Haufen
Verworfner Sterblichen zum Vorwurf ausgelaufen.
Sobald Aurora ſich am Horizonte zeigt,
Sobald der Sonnen Rad an dies Gewoͤlbe ſteigt,
Den dunckel-braunen Dampf der truͤben Nacht zu trennen,
Muß mein gereitzter Zorn, muß meine Wuth entbrennen.
Vor Scham erroͤthet ſelbſt das fruͤhe Morgen-Licht,
Natur und Welt erwacht, allein die Menſchen nicht.
Der Tag iſt wie die Nacht, die ſonſt mit ſanften Ketten
Die muͤden Sterblichen, in weichen Schwanen-Betten,
Als angefeſſelt haͤlt. Wo iſt die Lagerſtatt,
Die mein erwachter Blick je leer gefunden hat?
Ein fauler Schlaf verdirbt den mehr als guͤldnen Morgen,
Jch muß nur mit Verdruß vor Licht und Sonne ſorgen:
Wo nicht ein matter Greis den letzten Theil der Nacht,
Mit Thraͤnen und Gebet und Wachen zugebracht,
So liegt die halbe Welt in ungeſtoͤrtem Schlummer,
Sie ſchnarcht bis in den Tag, und macht ſich keinen Kummer,
Und
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