Und kürtzt der Lebens-Zeit, die ihr das Schicksal gab, Den allerbesten Theil der kurtzen Dauer ab. Der Mittag selbst wird offt am Himmel schon erblicket, Eh das bequeme Volck aus dunckeln Kammern rücket, Und den beliebten Schlaf, der ihnen selbst entweicht, Mit weitgedehnter Hand aus dicken Augen streicht. Dann mehrt sich meine Quaal! die Wollust herrscht in ihnen, Jch muß auch Wachenden zu lauter Lastern dienen, Die schnöde Zärtlichkeit bezaubert alle Welt, Die Arbeit, Müh und Fleiß vor schwere Martern hält. Sie mag auch, wenn sie wacht, an kein Geschäffte dencken, Man bringt des Morgens Rest mit Türckischen Geträncken, Und andern Gattungen des Zeitvertreibes hin. Sodann begiebet sich der Menschen eitler Sinn Vor ein polirtes Glas, den Leib mit hundert Stücken Von seltnen Gattungen der Kleider auszuschmücken. Die Tafel wird gedeckt, die Trachten warten sein, Man schluckt drey Stunden lang die Leckerbissen ein, Der beste Trauben-Safft erhitzet das Geblüte, Und reitzet mehr und mehr das lüsterne Gemüthe Zu lauter Ueppigkeit. Die Sonnen-Kugel sinckt, Jndem die trunckne Schaar ein heisses Wasser trinckt, Wenn sich die Müßigen Racketen, Charten, Massen, Und andres Kinder-Spiel, o Schande! reichen lassen. Die Schatten werden lang, die Demmerung geht an, Und wenn die Finsterniß sich kaum hervor gethan, Versinckt das freche Volck in neuen Laster-Pfützen. O säumendes Geschick! Wirff, wirff mit deinen Blitzen Auf mein gequältes Haupt. - - - - Der Eifer macht mich stumm, die Worte fehlen mir, Jch bin von Klagen matt, ich seufze nur zu dir. Vernichte, wo du kanst, mein Wesen von der Erden; Wo nicht? so laß die Zeit nicht mehr geschändet werden.
Hie fiel der müde Greis vor Ohnmacht in das Gras, Er schüttelte das Haupt, ergriff sein Stunden-Glas, Er hub es grimmig auf, und schwur bey allen Wettern, An seinem Sensen-Schafft dasselbe zu zerschmettern. Doch seht! das Wolcken-Dach zerriß und trennte sich, Ein ungewohnter Glantz erschien und schreckte mich, Drauf schallte dieser Ruff in die bestürtzten Ohren: Schweig, Alter! deine Wuth und Klagen sind verlohren, Verwegner! meisterst du des Schicksals weisen Schluß, Den alles, wie du weist, was da ist, ehren muß?
Gesetzt,
L l 4
Von dogmatiſchen Poeſien.
Und kuͤrtzt der Lebens-Zeit, die ihr das Schickſal gab, Den allerbeſten Theil der kurtzen Dauer ab. Der Mittag ſelbſt wird offt am Himmel ſchon erblicket, Eh das bequeme Volck aus dunckeln Kammern ruͤcket, Und den beliebten Schlaf, der ihnen ſelbſt entweicht, Mit weitgedehnter Hand aus dicken Augen ſtreicht. Dann mehrt ſich meine Quaal! die Wolluſt herrſcht in ihnen, Jch muß auch Wachenden zu lauter Laſtern dienen, Die ſchnoͤde Zaͤrtlichkeit bezaubert alle Welt, Die Arbeit, Muͤh und Fleiß vor ſchwere Martern haͤlt. Sie mag auch, wenn ſie wacht, an kein Geſchaͤffte dencken, Man bringt des Morgens Reſt mit Tuͤrckiſchen Getraͤncken, Und andern Gattungen des Zeitvertreibes hin. Sodann begiebet ſich der Menſchen eitler Sinn Vor ein polirtes Glas, den Leib mit hundert Stuͤcken Von ſeltnen Gattungen der Kleider auszuſchmuͤcken. Die Tafel wird gedeckt, die Trachten warten ſein, Man ſchluckt drey Stunden lang die Leckerbiſſen ein, Der beſte Trauben-Safft erhitzet das Gebluͤte, Und reitzet mehr und mehr das luͤſterne Gemuͤthe Zu lauter Ueppigkeit. Die Sonnen-Kugel ſinckt, Jndem die trunckne Schaar ein heiſſes Waſſer trinckt, Wenn ſich die Muͤßigen Racketen, Charten, Maſſen, Und andres Kinder-Spiel, o Schande! reichen laſſen. Die Schatten werden lang, die Demmerung geht an, Und wenn die Finſterniß ſich kaum hervor gethan, Verſinckt das freche Volck in neuen Laſter-Pfuͤtzen. O ſaͤumendes Geſchick! Wirff, wirff mit deinen Blitzen Auf mein gequaͤltes Haupt. ‒ ‒ ‒ ‒ Der Eifer macht mich ſtumm, die Worte fehlen mir, Jch bin von Klagen matt, ich ſeufze nur zu dir. Vernichte, wo du kanſt, mein Weſen von der Erden; Wo nicht? ſo laß die Zeit nicht mehr geſchaͤndet werden.
Hie fiel der muͤde Greis vor Ohnmacht in das Gras, Er ſchuͤttelte das Haupt, ergriff ſein Stunden-Glas, Er hub es grimmig auf, und ſchwur bey allen Wettern, An ſeinem Senſen-Schafft daſſelbe zu zerſchmettern. Doch ſeht! das Wolcken-Dach zerriß und trennte ſich, Ein ungewohnter Glantz erſchien und ſchreckte mich, Drauf ſchallte dieſer Ruff in die beſtuͤrtzten Ohren: Schweig, Alter! deine Wuth und Klagen ſind verlohren, Verwegner! meiſterſt du des Schickſals weiſen Schluß, Den alles, wie du weiſt, was da iſt, ehren muß?
Geſetzt,
L l 4
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><lgtype="poem"><lgn="53"><l><pbfacs="#f0563"n="535"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b">Von dogmatiſchen Poeſien.</hi></fw></l><lb/><l>Und kuͤrtzt der Lebens-Zeit, die ihr das Schickſal gab,</l><lb/><l>Den allerbeſten Theil der kurtzen Dauer ab.</l><lb/><l>Der Mittag ſelbſt wird offt am Himmel ſchon erblicket,</l><lb/><l>Eh das bequeme Volck aus dunckeln Kammern ruͤcket,</l><lb/><l>Und den beliebten Schlaf, der ihnen ſelbſt entweicht,</l><lb/><l>Mit weitgedehnter Hand aus dicken Augen ſtreicht.</l><lb/><l>Dann mehrt ſich meine Quaal! die Wolluſt herrſcht in ihnen,</l><lb/><l>Jch muß auch Wachenden zu lauter Laſtern dienen,</l><lb/><l>Die ſchnoͤde Zaͤrtlichkeit bezaubert alle Welt,</l><lb/><l>Die Arbeit, Muͤh und Fleiß vor ſchwere Martern haͤlt.</l><lb/><l>Sie mag auch, wenn ſie wacht, an kein Geſchaͤffte dencken,</l><lb/><l>Man bringt des Morgens Reſt mit Tuͤrckiſchen Getraͤncken,</l><lb/><l>Und andern Gattungen des Zeitvertreibes hin.</l><lb/><l>Sodann begiebet ſich der Menſchen eitler Sinn</l><lb/><l>Vor ein polirtes Glas, den Leib mit hundert Stuͤcken</l><lb/><l>Von ſeltnen Gattungen der Kleider auszuſchmuͤcken.</l><lb/><l>Die Tafel wird gedeckt, die Trachten warten ſein,</l><lb/><l>Man ſchluckt drey Stunden lang die Leckerbiſſen ein,</l><lb/><l>Der beſte Trauben-Safft erhitzet das Gebluͤte,</l><lb/><l>Und reitzet mehr und mehr das luͤſterne Gemuͤthe</l><lb/><l>Zu lauter Ueppigkeit. Die Sonnen-Kugel ſinckt,</l><lb/><l>Jndem die trunckne Schaar ein heiſſes Waſſer trinckt,</l><lb/><l>Wenn ſich die Muͤßigen Racketen, Charten, Maſſen,</l><lb/><l>Und andres Kinder-Spiel, o Schande! reichen laſſen.</l><lb/><l>Die Schatten werden lang, die Demmerung geht an,</l><lb/><l>Und wenn die Finſterniß ſich kaum hervor gethan,</l><lb/><l>Verſinckt das freche Volck in neuen Laſter-Pfuͤtzen.</l><lb/><l>O ſaͤumendes Geſchick! Wirff, wirff mit deinen Blitzen</l><lb/><l>Auf mein gequaͤltes Haupt. ‒‒‒‒</l><lb/><l>Der Eifer macht mich ſtumm, die Worte fehlen mir,</l><lb/><l>Jch bin von Klagen matt, ich ſeufze nur zu dir.</l><lb/><l>Vernichte, wo du kanſt, mein Weſen von der Erden;</l><lb/><l>Wo nicht? ſo laß die Zeit nicht mehr geſchaͤndet werden.</l></lg><lb/><lgn="54"><l>Hie fiel der muͤde Greis vor Ohnmacht in das Gras,</l><lb/><l>Er ſchuͤttelte das Haupt, ergriff ſein Stunden-Glas,</l><lb/><l>Er hub es grimmig auf, und ſchwur bey allen Wettern,</l><lb/><l>An ſeinem Senſen-Schafft daſſelbe zu zerſchmettern.</l><lb/><l>Doch ſeht! das Wolcken-Dach zerriß und trennte ſich,</l><lb/><l>Ein ungewohnter Glantz erſchien und ſchreckte mich,</l><lb/><l>Drauf ſchallte dieſer Ruff in die beſtuͤrtzten Ohren:</l><lb/><l>Schweig, Alter! deine Wuth und Klagen ſind verlohren,</l><lb/><l>Verwegner! meiſterſt du des Schickſals weiſen Schluß,</l><lb/><l>Den alles, wie du weiſt, was da iſt, ehren muß?<lb/><fwplace="bottom"type="sig">L l 4</fw><fwplace="bottom"type="catch">Geſetzt,</fw><lb/></l></lg></lg></div></div></div></body></text></TEI>
[535/0563]
Von dogmatiſchen Poeſien.
Und kuͤrtzt der Lebens-Zeit, die ihr das Schickſal gab,
Den allerbeſten Theil der kurtzen Dauer ab.
Der Mittag ſelbſt wird offt am Himmel ſchon erblicket,
Eh das bequeme Volck aus dunckeln Kammern ruͤcket,
Und den beliebten Schlaf, der ihnen ſelbſt entweicht,
Mit weitgedehnter Hand aus dicken Augen ſtreicht.
Dann mehrt ſich meine Quaal! die Wolluſt herrſcht in ihnen,
Jch muß auch Wachenden zu lauter Laſtern dienen,
Die ſchnoͤde Zaͤrtlichkeit bezaubert alle Welt,
Die Arbeit, Muͤh und Fleiß vor ſchwere Martern haͤlt.
Sie mag auch, wenn ſie wacht, an kein Geſchaͤffte dencken,
Man bringt des Morgens Reſt mit Tuͤrckiſchen Getraͤncken,
Und andern Gattungen des Zeitvertreibes hin.
Sodann begiebet ſich der Menſchen eitler Sinn
Vor ein polirtes Glas, den Leib mit hundert Stuͤcken
Von ſeltnen Gattungen der Kleider auszuſchmuͤcken.
Die Tafel wird gedeckt, die Trachten warten ſein,
Man ſchluckt drey Stunden lang die Leckerbiſſen ein,
Der beſte Trauben-Safft erhitzet das Gebluͤte,
Und reitzet mehr und mehr das luͤſterne Gemuͤthe
Zu lauter Ueppigkeit. Die Sonnen-Kugel ſinckt,
Jndem die trunckne Schaar ein heiſſes Waſſer trinckt,
Wenn ſich die Muͤßigen Racketen, Charten, Maſſen,
Und andres Kinder-Spiel, o Schande! reichen laſſen.
Die Schatten werden lang, die Demmerung geht an,
Und wenn die Finſterniß ſich kaum hervor gethan,
Verſinckt das freche Volck in neuen Laſter-Pfuͤtzen.
O ſaͤumendes Geſchick! Wirff, wirff mit deinen Blitzen
Auf mein gequaͤltes Haupt. ‒ ‒ ‒ ‒
Der Eifer macht mich ſtumm, die Worte fehlen mir,
Jch bin von Klagen matt, ich ſeufze nur zu dir.
Vernichte, wo du kanſt, mein Weſen von der Erden;
Wo nicht? ſo laß die Zeit nicht mehr geſchaͤndet werden.
Hie fiel der muͤde Greis vor Ohnmacht in das Gras,
Er ſchuͤttelte das Haupt, ergriff ſein Stunden-Glas,
Er hub es grimmig auf, und ſchwur bey allen Wettern,
An ſeinem Senſen-Schafft daſſelbe zu zerſchmettern.
Doch ſeht! das Wolcken-Dach zerriß und trennte ſich,
Ein ungewohnter Glantz erſchien und ſchreckte mich,
Drauf ſchallte dieſer Ruff in die beſtuͤrtzten Ohren:
Schweig, Alter! deine Wuth und Klagen ſind verlohren,
Verwegner! meiſterſt du des Schickſals weiſen Schluß,
Den alles, wie du weiſt, was da iſt, ehren muß?
Geſetzt,
L l 4
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 535. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/563>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.