gottesfürchtig, tugendhafft, sanftmüthig, standhafft und tapfer seyn. So hat er uns nun seinen Eneas auf der See, in Sicilien, in Africa und in Jtalien abgebildet. Er ist überall ein frommer und gnädiger; aber dabey unerschrocke- ner Held. Turnus ist gegen ihn ein trotziger Starr-Kopf; Mezentius aber ein Gott- und Ehr-vergessener Bösewicht zu nennen. Will man also die Eneis ein Lob-Gedicht des Eneas nennen, so war es ein erdichteter Eneas, der mehr zeigt, wie ein Regent seyn soll; als wie einer gewesen. Und dadurch wird seine Fabel moralisch und lehrreich; weil Augustus und alle übrige Grossen der Welt ihre Pflichten daraus abneh- men konnten.
Unter den Römern haben sich noch Statius und Lucanus in der epischen Poesie versuchen wollen; aber mit sehr un- gleichem Fortgange: und das zwar wieder aus Unwissenheit der Regeln, die sie doch in Aristotelis Poetic und im Homero und Virgilio als ihren Vorgängern, leichtlich hätten finden können. Statius nimmt sich nicht vor, eine moralische Fa- bel, sondern einen gantzen Lebens-Lauf des Achilles zu besin- gen; ohne eine weitere Absicht als diese, seinen Held durch die Erzehlung seiner Thaten zu loben. Er sammlet derowe- gen aus den alten Scribenten alles zusammen, was von dem Achilles jemahls gesagt worden, und ordnet es nach der Zeit- Rechnung; beschreibt es auch in einer so schwülstigen Schreib- Art, daß man erstaunet, wenn man seinen rasselnden Dunst gegen das gelinde Feuer Virgilii hält.
Magnanimum AEacidam formidatamque tonanti Progeniem & vetitam patrio succedere coelo Diua refer: Quamquam acta viri multum inclyta cantu Maeonio, sed plura vacant. Nos ire per omnem, Sic amor est, Heroa velis.
Es ist also mit dem Jnhalte dieses vermeynten Helden- Gedichtes eben so beschaffen; als wenn jemand einen Lebens- Lauf von der Maus schreiben wollte, der in den Esopischen Fabeln so offt gedacht wird. Er könnte auch die Muse an- ruffen, ihm alle die Thaten dieses berühmten Thieres kund zu thun. Esopus hätte zwar hier und das berühret; aber er
habe
Des II Theils IX Capitel
gottesfuͤrchtig, tugendhafft, ſanftmuͤthig, ſtandhafft und tapfer ſeyn. So hat er uns nun ſeinen Eneas auf der See, in Sicilien, in Africa und in Jtalien abgebildet. Er iſt uͤberall ein frommer und gnaͤdiger; aber dabey unerſchrocke- ner Held. Turnus iſt gegen ihn ein trotziger Starr-Kopf; Mezentius aber ein Gott- und Ehr-vergeſſener Boͤſewicht zu nennen. Will man alſo die Eneis ein Lob-Gedicht des Eneas nennen, ſo war es ein erdichteter Eneas, der mehr zeigt, wie ein Regent ſeyn ſoll; als wie einer geweſen. Und dadurch wird ſeine Fabel moraliſch und lehrreich; weil Auguſtus und alle uͤbrige Groſſen der Welt ihre Pflichten daraus abneh- men konnten.
Unter den Roͤmern haben ſich noch Statius und Lucanus in der epiſchen Poeſie verſuchen wollen; aber mit ſehr un- gleichem Fortgange: und das zwar wieder aus Unwiſſenheit der Regeln, die ſie doch in Ariſtotelis Poetic und im Homero und Virgilio als ihren Vorgaͤngern, leichtlich haͤtten finden koͤnnen. Statius nimmt ſich nicht vor, eine moraliſche Fa- bel, ſondern einen gantzen Lebens-Lauf des Achilles zu beſin- gen; ohne eine weitere Abſicht als dieſe, ſeinen Held durch die Erzehlung ſeiner Thaten zu loben. Er ſammlet derowe- gen aus den alten Scribenten alles zuſammen, was von dem Achilles jemahls geſagt worden, und ordnet es nach der Zeit- Rechnung; beſchreibt es auch in einer ſo ſchwuͤlſtigen Schreib- Art, daß man erſtaunet, wenn man ſeinen raſſelnden Dunſt gegen das gelinde Feuer Virgilii haͤlt.
Magnanimum Æacidam formidatamque tonanti Progeniem & vetitam patrio ſuccedere coelo Diua refer: Quamquam acta viri multum inclyta cantu Maeonio, ſed plura vacant. Nos ire per omnem, Sic amor eſt, Heroa velis.
Es iſt alſo mit dem Jnhalte dieſes vermeynten Helden- Gedichtes eben ſo beſchaffen; als wenn jemand einen Lebens- Lauf von der Maus ſchreiben wollte, der in den Eſopiſchen Fabeln ſo offt gedacht wird. Er koͤnnte auch die Muſe an- ruffen, ihm alle die Thaten dieſes beruͤhmten Thieres kund zu thun. Eſopus haͤtte zwar hier und das beruͤhret; aber er
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Des II Theils IX Capitel
gottesfuͤrchtig, tugendhafft, ſanftmuͤthig, ſtandhafft und
tapfer ſeyn. So hat er uns nun ſeinen Eneas auf der See,
in Sicilien, in Africa und in Jtalien abgebildet. Er iſt
uͤberall ein frommer und gnaͤdiger; aber dabey unerſchrocke-
ner Held. Turnus iſt gegen ihn ein trotziger Starr-Kopf;
Mezentius aber ein Gott- und Ehr-vergeſſener Boͤſewicht zu
nennen. Will man alſo die Eneis ein Lob-Gedicht des Eneas
nennen, ſo war es ein erdichteter Eneas, der mehr zeigt, wie
ein Regent ſeyn ſoll; als wie einer geweſen. Und dadurch
wird ſeine Fabel moraliſch und lehrreich; weil Auguſtus und
alle uͤbrige Groſſen der Welt ihre Pflichten daraus abneh-
men konnten.
Unter den Roͤmern haben ſich noch Statius und Lucanus
in der epiſchen Poeſie verſuchen wollen; aber mit ſehr un-
gleichem Fortgange: und das zwar wieder aus Unwiſſenheit
der Regeln, die ſie doch in Ariſtotelis Poetic und im Homero
und Virgilio als ihren Vorgaͤngern, leichtlich haͤtten finden
koͤnnen. Statius nimmt ſich nicht vor, eine moraliſche Fa-
bel, ſondern einen gantzen Lebens-Lauf des Achilles zu beſin-
gen; ohne eine weitere Abſicht als dieſe, ſeinen Held durch
die Erzehlung ſeiner Thaten zu loben. Er ſammlet derowe-
gen aus den alten Scribenten alles zuſammen, was von dem
Achilles jemahls geſagt worden, und ordnet es nach der Zeit-
Rechnung; beſchreibt es auch in einer ſo ſchwuͤlſtigen Schreib-
Art, daß man erſtaunet, wenn man ſeinen raſſelnden Dunſt
gegen das gelinde Feuer Virgilii haͤlt.
Magnanimum Æacidam formidatamque tonanti
Progeniem & vetitam patrio ſuccedere coelo
Diua refer: Quamquam acta viri multum inclyta cantu
Maeonio, ſed plura vacant. Nos ire per omnem,
Sic amor eſt, Heroa velis.
Es iſt alſo mit dem Jnhalte dieſes vermeynten Helden-
Gedichtes eben ſo beſchaffen; als wenn jemand einen Lebens-
Lauf von der Maus ſchreiben wollte, der in den Eſopiſchen
Fabeln ſo offt gedacht wird. Er koͤnnte auch die Muſe an-
ruffen, ihm alle die Thaten dieſes beruͤhmten Thieres kund
zu thun. Eſopus haͤtte zwar hier und das beruͤhret; aber er
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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 542. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/570>, abgerufen am 22.11.2024.
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