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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Von der Epopee oder dem Helden-Gedichte.
Jn Spanien, ja in gantz Europa hat der berühmte Spanier
Cervantes durch seinen Don Quipote, Ritter von Mancha
den irrenden Rittern einen gewaltigen Stoß gegeben. Und
da sich dieselbe durch des Herrn von Urfe Asträa, in Franck-
reich in eine Schäfer-Gestalt verwandelten, indem Scu-
dery und andre ihren Cyrus, ihre Clelia und unzehliche andre
von der Gattung in sovielen Bänden ans Licht stelleten, dar-
innen sie alles mit verliebten Thorheiten erfülleten; so kam
Boileau, und machte ein Gespräche nach Art Luciani, darinn
er das lächerliche Wesen dieser Romane entdeckte: Wozu
denn auch Corneille durch seinen Berger extrauagant den
bey uns A. Gryphius übersetzt hat, das seine beytrug. Wir
Deutschen haben auch etliche Fuder solcher Liebes-Fabeln
aufzuweisen, die nicht ein Haar besser sind, als die der Fran-
tzösische Satyricus ausgelachet; darunter denn Arminius,
Hercules, Octavia und Aramena die obersten Plätze verdie-
nen. Man sehe hierüber den III. Theil der Mahler in dem
Gespräche der Todten, so eines Theils nach dem obigen des
Boileau, sehr artig nachgeahmet ist.

Nichts ist bey dem allen mehr zu bewundern, als daß
Tasso diesen Gothischen Geschmack der Ritter-Bücher, mit
den Griechischen Regeln eines Helden-Gedichtes zu verbin-
den gesucht. Sein befreyetes Jerusalem ist in der That eine
Vermischung zweyer so wiedriger Dinge; und es ist leicht
zu begreifen, wie er darauf gefallen. Er beschreibt den sieg-
reichen und glücklichen Creutz-Zug der Christlichen Armee
im Oriente; die gleichsam gantz und gar aus lauter solchen
irrenden Rittern bestunde. Da war es nun kein Wunder,
daß auch alle die gewöhnlichen Zierrathe der Helden-Bücher,
kriegerische verkleidete Printzeßinnen, Zauber-Schlösser, He-
xen-Meister, Liebes-Geschichte und Abentheuer die Menge
darinnen vorkamen. Jndessen hat er die Fabel selbst, so
ziemlich nach den Regeln Aristotelis eingerichtet, weil er nichts
als die Eroberung Jerusalems zur Haupt-Handlung hat,
und alles, was dazu gehörte, ausführlich erzehlet; den
klugen und tapfern Gottfried aber zu gleicher Zeit sehr erhebt.
Nur mit der Moral sieht es ein wenig seltsam aus; und

nichts
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Von der Epopee oder dem Helden-Gedichte.
Jn Spanien, ja in gantz Europa hat der beruͤhmte Spanier
Cervantes durch ſeinen Don Quipote, Ritter von Mancha
den irrenden Rittern einen gewaltigen Stoß gegeben. Und
da ſich dieſelbe durch des Herrn von Urfe Aſtraͤa, in Franck-
reich in eine Schaͤfer-Geſtalt verwandelten, indem Scu-
dery und andre ihren Cyrus, ihre Clelia und unzehliche andre
von der Gattung in ſovielen Baͤnden ans Licht ſtelleten, dar-
innen ſie alles mit verliebten Thorheiten erfuͤlleten; ſo kam
Boileau, und machte ein Geſpraͤche nach Art Luciani, darinn
er das laͤcherliche Weſen dieſer Romane entdeckte: Wozu
denn auch Corneille durch ſeinen Berger extrauagant den
bey uns A. Gryphius uͤberſetzt hat, das ſeine beytrug. Wir
Deutſchen haben auch etliche Fuder ſolcher Liebes-Fabeln
aufzuweiſen, die nicht ein Haar beſſer ſind, als die der Fran-
tzoͤſiſche Satyricus ausgelachet; darunter denn Arminius,
Hercules, Octavia und Aramena die oberſten Plaͤtze verdie-
nen. Man ſehe hieruͤber den III. Theil der Mahler in dem
Geſpraͤche der Todten, ſo eines Theils nach dem obigen des
Boileau, ſehr artig nachgeahmet iſt.

Nichts iſt bey dem allen mehr zu bewundern, als daß
Taſſo dieſen Gothiſchen Geſchmack der Ritter-Buͤcher, mit
den Griechiſchen Regeln eines Helden-Gedichtes zu verbin-
den geſucht. Sein befreyetes Jeruſalem iſt in der That eine
Vermiſchung zweyer ſo wiedriger Dinge; und es iſt leicht
zu begreifen, wie er darauf gefallen. Er beſchreibt den ſieg-
reichen und gluͤcklichen Creutz-Zug der Chriſtlichen Armee
im Oriente; die gleichſam gantz und gar aus lauter ſolchen
irrenden Rittern beſtunde. Da war es nun kein Wunder,
daß auch alle die gewoͤhnlichen Zierrathe der Helden-Buͤcher,
kriegeriſche verkleidete Printzeßinnen, Zauber-Schloͤſſer, He-
xen-Meiſter, Liebes-Geſchichte und Abentheuer die Menge
darinnen vorkamen. Jndeſſen hat er die Fabel ſelbſt, ſo
ziemlich nach den Regeln Ariſtotelis eingerichtet, weil er nichts
als die Eroberung Jeruſalems zur Haupt-Handlung hat,
und alles, was dazu gehoͤrte, ausfuͤhrlich erzehlet; den
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Nur mit der Moral ſieht es ein wenig ſeltſam aus; und

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[545/0573] Von der Epopee oder dem Helden-Gedichte. Jn Spanien, ja in gantz Europa hat der beruͤhmte Spanier Cervantes durch ſeinen Don Quipote, Ritter von Mancha den irrenden Rittern einen gewaltigen Stoß gegeben. Und da ſich dieſelbe durch des Herrn von Urfe Aſtraͤa, in Franck- reich in eine Schaͤfer-Geſtalt verwandelten, indem Scu- dery und andre ihren Cyrus, ihre Clelia und unzehliche andre von der Gattung in ſovielen Baͤnden ans Licht ſtelleten, dar- innen ſie alles mit verliebten Thorheiten erfuͤlleten; ſo kam Boileau, und machte ein Geſpraͤche nach Art Luciani, darinn er das laͤcherliche Weſen dieſer Romane entdeckte: Wozu denn auch Corneille durch ſeinen Berger extrauagant den bey uns A. Gryphius uͤberſetzt hat, das ſeine beytrug. Wir Deutſchen haben auch etliche Fuder ſolcher Liebes-Fabeln aufzuweiſen, die nicht ein Haar beſſer ſind, als die der Fran- tzoͤſiſche Satyricus ausgelachet; darunter denn Arminius, Hercules, Octavia und Aramena die oberſten Plaͤtze verdie- nen. Man ſehe hieruͤber den III. Theil der Mahler in dem Geſpraͤche der Todten, ſo eines Theils nach dem obigen des Boileau, ſehr artig nachgeahmet iſt. Nichts iſt bey dem allen mehr zu bewundern, als daß Taſſo dieſen Gothiſchen Geſchmack der Ritter-Buͤcher, mit den Griechiſchen Regeln eines Helden-Gedichtes zu verbin- den geſucht. Sein befreyetes Jeruſalem iſt in der That eine Vermiſchung zweyer ſo wiedriger Dinge; und es iſt leicht zu begreifen, wie er darauf gefallen. Er beſchreibt den ſieg- reichen und gluͤcklichen Creutz-Zug der Chriſtlichen Armee im Oriente; die gleichſam gantz und gar aus lauter ſolchen irrenden Rittern beſtunde. Da war es nun kein Wunder, daß auch alle die gewoͤhnlichen Zierrathe der Helden-Buͤcher, kriegeriſche verkleidete Printzeßinnen, Zauber-Schloͤſſer, He- xen-Meiſter, Liebes-Geſchichte und Abentheuer die Menge darinnen vorkamen. Jndeſſen hat er die Fabel ſelbſt, ſo ziemlich nach den Regeln Ariſtotelis eingerichtet, weil er nichts als die Eroberung Jeruſalems zur Haupt-Handlung hat, und alles, was dazu gehoͤrte, ausfuͤhrlich erzehlet; den klugen und tapfern Gottfried aber zu gleicher Zeit ſehr erhebt. Nur mit der Moral ſieht es ein wenig ſeltſam aus; und nichts M m

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 545. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/573>, abgerufen am 22.11.2024.