hineinflicken, was er im Vorrathe hätte, und demselben eine gewisse Schönheit zu geben schiene, wie Horatz sagt:
Purpureus late qui splendeat vnus & alter Assuitur pannus.
Allein das thut kein Meister. Esopus würde auslachenswür- dig seyn, wenn er von dem Wolfe, der eine Heerde in wäh- render Uneinigkeit ihrer Hirten zerstreuete, erzehlet hätte, daß er sich einmahl einen Dorn in den Fuß getreten hätte, und nach vielen Schmertzen allererst geheilet worden wäre. Das gehörte ja gar nicht zu der Handlung des Wolfes. Aber wenn etwa der Wolf in der Fabel von den Hunden er- griffen werden sollte; und wegen eines lahmen Fußes ihnen nicht hätte entgehen können: Alsdann hätte Esopus derglei- chen Umstand gar wohl mit in die Fabel ziehen können. So hat es Homerus mit dem Fusse Ulyssis gemacht, davon ich schon gedacht habe. Er erzehlt, daß dieser Held einmahl auf dem Berge Parnaß daran verletzet worden: Aber warum? Weil eben die Narbe dazu diente, daß man ihn daran erkannt, nachdem er so lange abwesend gewesen. Eben so verhält sichs auch mit der verstellten Narrheit Ulyssis; wie Aristote- les solches selbst angemerckt und gebilliget hat.
Solche Kleinigkeiten nun, die von ungefehr in einem Helden-Gedichte berühret werden, sind nicht die Materie ei- nes Helden-Gedichtes selbst; sondern nur Neben-Dinge, die aber sehr genau mit etwas nothwendigem zusammen hän- gen, so daß aus dem einen das andre nothwendig erfolgen müsse. Gantz anders ist es mit den Zwischen-Fabeln be- schaffen: Diese müssen zwar mit der Haupt-Sache auch zu- sammen hängen, aber nicht so nothwendiger Weise. Der Poet hätte sie auch auslassen und andre an die Stelle setzen können. Z. E. Die Fabel von der Circe oder Calypso in der Odyssee, hängt sehr wohl mit dem gantzen Gedichte zu- sammen: aber sie waren beyde nicht unentbehrlich. Ueber- haupt muste zwar Ulysses in seiner Abwesenheit von Hause irgendwo seyn: Aber deswegen nicht gerade bey der Circe. Voltaire hat in seiner Henriade ein solch Episodium gemacht, als er den Henrich nach Engelland reisen läst. Und im Vir-
gilio
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Von der Epopee oder dem Helden-Gedichte.
hineinflicken, was er im Vorrathe haͤtte, und demſelben eine gewiſſe Schoͤnheit zu geben ſchiene, wie Horatz ſagt:
Purpureus late qui ſplendeat vnus & alter Aſſuitur pannus.
Allein das thut kein Meiſter. Eſopus wuͤrde auslachenswuͤr- dig ſeyn, wenn er von dem Wolfe, der eine Heerde in waͤh- render Uneinigkeit ihrer Hirten zerſtreuete, erzehlet haͤtte, daß er ſich einmahl einen Dorn in den Fuß getreten haͤtte, und nach vielen Schmertzen allererſt geheilet worden waͤre. Das gehoͤrte ja gar nicht zu der Handlung des Wolfes. Aber wenn etwa der Wolf in der Fabel von den Hunden er- griffen werden ſollte; und wegen eines lahmen Fußes ihnen nicht haͤtte entgehen koͤnnen: Alsdann haͤtte Eſopus derglei- chen Umſtand gar wohl mit in die Fabel ziehen koͤnnen. So hat es Homerus mit dem Fuſſe Ulyſſis gemacht, davon ich ſchon gedacht habe. Er erzehlt, daß dieſer Held einmahl auf dem Berge Parnaß daran verletzet worden: Aber warum? Weil eben die Narbe dazu diente, daß man ihn daran erkannt, nachdem er ſo lange abweſend geweſen. Eben ſo verhaͤlt ſichs auch mit der verſtellten Narrheit Ulyſſis; wie Ariſtote- les ſolches ſelbſt angemerckt und gebilliget hat.
Solche Kleinigkeiten nun, die von ungefehr in einem Helden-Gedichte beruͤhret werden, ſind nicht die Materie ei- nes Helden-Gedichtes ſelbſt; ſondern nur Neben-Dinge, die aber ſehr genau mit etwas nothwendigem zuſammen haͤn- gen, ſo daß aus dem einen das andre nothwendig erfolgen muͤſſe. Gantz anders iſt es mit den Zwiſchen-Fabeln be- ſchaffen: Dieſe muͤſſen zwar mit der Haupt-Sache auch zu- ſammen haͤngen, aber nicht ſo nothwendiger Weiſe. Der Poet haͤtte ſie auch auslaſſen und andre an die Stelle ſetzen koͤnnen. Z. E. Die Fabel von der Circe oder Calypſo in der Odyſſee, haͤngt ſehr wohl mit dem gantzen Gedichte zu- ſammen: aber ſie waren beyde nicht unentbehrlich. Ueber- haupt muſte zwar Ulyſſes in ſeiner Abweſenheit von Hauſe irgendwo ſeyn: Aber deswegen nicht gerade bey der Circe. Voltaire hat in ſeiner Henriade ein ſolch Epiſodium gemacht, als er den Henrich nach Engelland reiſen laͤſt. Und im Vir-
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Von der Epopee oder dem Helden-Gedichte.
hineinflicken, was er im Vorrathe haͤtte, und demſelben eine
gewiſſe Schoͤnheit zu geben ſchiene, wie Horatz ſagt:
Purpureus late qui ſplendeat vnus & alter
Aſſuitur pannus.
Allein das thut kein Meiſter. Eſopus wuͤrde auslachenswuͤr-
dig ſeyn, wenn er von dem Wolfe, der eine Heerde in waͤh-
render Uneinigkeit ihrer Hirten zerſtreuete, erzehlet haͤtte,
daß er ſich einmahl einen Dorn in den Fuß getreten haͤtte, und
nach vielen Schmertzen allererſt geheilet worden waͤre.
Das gehoͤrte ja gar nicht zu der Handlung des Wolfes.
Aber wenn etwa der Wolf in der Fabel von den Hunden er-
griffen werden ſollte; und wegen eines lahmen Fußes ihnen
nicht haͤtte entgehen koͤnnen: Alsdann haͤtte Eſopus derglei-
chen Umſtand gar wohl mit in die Fabel ziehen koͤnnen. So
hat es Homerus mit dem Fuſſe Ulyſſis gemacht, davon ich
ſchon gedacht habe. Er erzehlt, daß dieſer Held einmahl auf
dem Berge Parnaß daran verletzet worden: Aber warum?
Weil eben die Narbe dazu diente, daß man ihn daran erkannt,
nachdem er ſo lange abweſend geweſen. Eben ſo verhaͤlt
ſichs auch mit der verſtellten Narrheit Ulyſſis; wie Ariſtote-
les ſolches ſelbſt angemerckt und gebilliget hat.
Solche Kleinigkeiten nun, die von ungefehr in einem
Helden-Gedichte beruͤhret werden, ſind nicht die Materie ei-
nes Helden-Gedichtes ſelbſt; ſondern nur Neben-Dinge,
die aber ſehr genau mit etwas nothwendigem zuſammen haͤn-
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muͤſſe. Gantz anders iſt es mit den Zwiſchen-Fabeln be-
ſchaffen: Dieſe muͤſſen zwar mit der Haupt-Sache auch zu-
ſammen haͤngen, aber nicht ſo nothwendiger Weiſe. Der
Poet haͤtte ſie auch auslaſſen und andre an die Stelle ſetzen
koͤnnen. Z. E. Die Fabel von der Circe oder Calypſo in
der Odyſſee, haͤngt ſehr wohl mit dem gantzen Gedichte zu-
ſammen: aber ſie waren beyde nicht unentbehrlich. Ueber-
haupt muſte zwar Ulyſſes in ſeiner Abweſenheit von Hauſe
irgendwo ſeyn: Aber deswegen nicht gerade bey der Circe.
Voltaire hat in ſeiner Henriade ein ſolch Epiſodium gemacht,
als er den Henrich nach Engelland reiſen laͤſt. Und im Vir-
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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 553. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/581>, abgerufen am 22.11.2024.
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