gilio ist die gantze Geschicht von der Dido vor nichts anders anzusehen. Aber wie schon sonst gedacht worden, so ist die- ses eine Fehlerhaffte Zwischen-Fabel, weil es so unmöglich ist, daß diese beyde Personen einander hätten sprechen kön- nen: als wenn Voltaire Henrich den IV die Königin Anna hätte besuchen lassen, die damahls noch nicht gebohren war.
Was von dem Knoten einer Fabel, und zwar theils von der Verwickelung, theils von der Auflösung desselben zu sa- gen ist, erspare ich ins folgende Capitel von Tragödien; weil es sich daselbst bequemer wird abhandeln lassen: ungeachtet es auch in den Heldengedichten, eben so wohl als dort statt findet.
Das IIIte was wir an einem Helden-Gedichte zu be- trachten haben, ist die Erzehlung oder die Art wie der Poet seine Fabel vorträgt. Man kan vergangene Sachen auf zweyerley Art jemanden zu verstehen geben. Einmahl er- zehlt man schlechterdings mit eigenen Worten was dieser und jener gethan oder gesagt, und begnügt sich, alles der Wahrheit gemäß, ordentlich, deutlich und zierlich vorzutra- gen. Und so machen es die Historien-Schreiber. Die Poesie ist mit dieser einfältigen Erzehlung nicht zufrieden. Man weiß, daß eine gar zu einträchtige Rede endlich die Leute einschläfert; daher sucht sie ihren Vortrag lebhaffter zu ma- chen, und die Einbildung ihrer Leser zu erhitzen. Sie weckt derowegen die Verstorbenen gleichsam auf, mahlt sie so deut- lich ab, als wenn sie uns noch vor Augen stünden, ja läßt sie reden und handeln, wie sie bey ihrem Leben würden gethan haben. Dieses ist die Poetische Art zu erzehlen, die sonder- lich in epischen Gedichten statt findet. Sie heißen aber gleichwohl epische Gedichte, ob sie der Poet gleich so drama- tisch, das ist, wircksam machet, als es ihm möglich ist: weil doch allezeit der Poet darzwischen erzehlet, und nur zuweilen an die Stelle seiner Personen tritt, und in ihrem Nahmen alles sagt. Und dadurch wird das epische Gedicht vom dramati- schen unterschieden, wo der Poet in seinem eigenen Nahmen gar nichts sagt; sondern alles von den aufgeführten Perso- nen sagen und handeln läßt.
Ehe
Des II Theils IX Capitel
gilio iſt die gantze Geſchicht von der Dido vor nichts anders anzuſehen. Aber wie ſchon ſonſt gedacht worden, ſo iſt die- ſes eine Fehlerhaffte Zwiſchen-Fabel, weil es ſo unmoͤglich iſt, daß dieſe beyde Perſonen einander haͤtten ſprechen koͤn- nen: als wenn Voltaire Henrich den IV die Koͤnigin Anna haͤtte beſuchen laſſen, die damahls noch nicht gebohren war.
Was von dem Knoten einer Fabel, und zwar theils von der Verwickelung, theils von der Aufloͤſung deſſelben zu ſa- gen iſt, erſpare ich ins folgende Capitel von Tragoͤdien; weil es ſich daſelbſt bequemer wird abhandeln laſſen: ungeachtet es auch in den Heldengedichten, eben ſo wohl als dort ſtatt findet.
Das IIIte was wir an einem Helden-Gedichte zu be- trachten haben, iſt die Erzehlung oder die Art wie der Poet ſeine Fabel vortraͤgt. Man kan vergangene Sachen auf zweyerley Art jemanden zu verſtehen geben. Einmahl er- zehlt man ſchlechterdings mit eigenen Worten was dieſer und jener gethan oder geſagt, und begnuͤgt ſich, alles der Wahrheit gemaͤß, ordentlich, deutlich und zierlich vorzutra- gen. Und ſo machen es die Hiſtorien-Schreiber. Die Poeſie iſt mit dieſer einfaͤltigen Erzehlung nicht zufrieden. Man weiß, daß eine gar zu eintraͤchtige Rede endlich die Leute einſchlaͤfert; daher ſucht ſie ihren Vortrag lebhaffter zu ma- chen, und die Einbildung ihrer Leſer zu erhitzen. Sie weckt derowegen die Verſtorbenen gleichſam auf, mahlt ſie ſo deut- lich ab, als wenn ſie uns noch vor Augen ſtuͤnden, ja laͤßt ſie reden und handeln, wie ſie bey ihrem Leben wuͤrden gethan haben. Dieſes iſt die Poetiſche Art zu erzehlen, die ſonder- lich in epiſchen Gedichten ſtatt findet. Sie heißen aber gleichwohl epiſche Gedichte, ob ſie der Poet gleich ſo drama- tiſch, das iſt, wirckſam machet, als es ihm moͤglich iſt: weil doch allezeit der Poet darzwiſchen erzehlet, und nur zuweilen an die Stelle ſeiner Perſonen tritt, und in ihrem Nahmen alles ſagt. Und dadurch wird das epiſche Gedicht vom dramati- ſchen unterſchieden, wo der Poet in ſeinem eigenen Nahmen gar nichts ſagt; ſondern alles von den aufgefuͤhrten Perſo- nen ſagen und handeln laͤßt.
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[554/0582]
Des II Theils IX Capitel
gilio iſt die gantze Geſchicht von der Dido vor nichts anders
anzuſehen. Aber wie ſchon ſonſt gedacht worden, ſo iſt die-
ſes eine Fehlerhaffte Zwiſchen-Fabel, weil es ſo unmoͤglich
iſt, daß dieſe beyde Perſonen einander haͤtten ſprechen koͤn-
nen: als wenn Voltaire Henrich den IV die Koͤnigin Anna
haͤtte beſuchen laſſen, die damahls noch nicht gebohren war.
Was von dem Knoten einer Fabel, und zwar theils von
der Verwickelung, theils von der Aufloͤſung deſſelben zu ſa-
gen iſt, erſpare ich ins folgende Capitel von Tragoͤdien; weil
es ſich daſelbſt bequemer wird abhandeln laſſen: ungeachtet es
auch in den Heldengedichten, eben ſo wohl als dort ſtatt findet.
Das IIIte was wir an einem Helden-Gedichte zu be-
trachten haben, iſt die Erzehlung oder die Art wie der Poet
ſeine Fabel vortraͤgt. Man kan vergangene Sachen auf
zweyerley Art jemanden zu verſtehen geben. Einmahl er-
zehlt man ſchlechterdings mit eigenen Worten was dieſer
und jener gethan oder geſagt, und begnuͤgt ſich, alles der
Wahrheit gemaͤß, ordentlich, deutlich und zierlich vorzutra-
gen. Und ſo machen es die Hiſtorien-Schreiber. Die
Poeſie iſt mit dieſer einfaͤltigen Erzehlung nicht zufrieden.
Man weiß, daß eine gar zu eintraͤchtige Rede endlich die Leute
einſchlaͤfert; daher ſucht ſie ihren Vortrag lebhaffter zu ma-
chen, und die Einbildung ihrer Leſer zu erhitzen. Sie weckt
derowegen die Verſtorbenen gleichſam auf, mahlt ſie ſo deut-
lich ab, als wenn ſie uns noch vor Augen ſtuͤnden, ja laͤßt ſie
reden und handeln, wie ſie bey ihrem Leben wuͤrden gethan
haben. Dieſes iſt die Poetiſche Art zu erzehlen, die ſonder-
lich in epiſchen Gedichten ſtatt findet. Sie heißen aber
gleichwohl epiſche Gedichte, ob ſie der Poet gleich ſo drama-
tiſch, das iſt, wirckſam machet, als es ihm moͤglich iſt: weil
doch allezeit der Poet darzwiſchen erzehlet, und nur zuweilen an
die Stelle ſeiner Perſonen tritt, und in ihrem Nahmen alles
ſagt. Und dadurch wird das epiſche Gedicht vom dramati-
ſchen unterſchieden, wo der Poet in ſeinem eigenen Nahmen
gar nichts ſagt; ſondern alles von den aufgefuͤhrten Perſo-
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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 554. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/582>, abgerufen am 22.11.2024.
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