Ehe der Poet aber seine Erzehlung anfängt, gehen einige Stücke vorher, die man folglich auch muß kennen lernen. Das Erste ist der Nahme des Gedichtes; Das IIdre der Vor- trag seines Hauptsatzes, davon es handeln soll; Das IIIte aber die Anruffung der Musen. Einige möchten zwar noch die Zueignung des Gedichtes an einen Mäcenaten zum vier- ten Stücke machen wollen; weil etwa Boileau in seinem Lutrin, Tasso in seinem Gottfried, und selbst Virgil in seinen Büchern vom Feldbaue dergleichen gethan. Allein Home- rus hat dergleichen nicht gemacht, Virgil in seiner Eneis auch nicht; und also ist dieses kein unentbehrliches Stück eines Helden-Gedichtes. Wir wollen indessen jene nach der Ord- nung betrachten.
Weil das Helden-Gedicht eine Fabel ist; so taufet es ein Poet nicht anders, als Esopus die Seinigen getaufet hat. Er nennet sie aber allezeit nach dem Nahmen der Thiere, die darinn vorkommen, der Wolf und das Schaaf; die Stadt- und Feldmaus u. d. gl. Eben so machte es Homer mit seiner Odyssee, und Virgil mit seiner Eneis. Jene hat vom Ulysses, und diese vom Eneas ihren Nahmen: Der Unterscheid besteht nur darinn, daß dort zwey, auch wohl gar drey Nahmen, das ist, alle darinn vorkommende Personen genennet werden; hier aber nur eine einzige und zwar die Hauptsächlichste genennt wird. Das geht aber nicht an- ders an, weil dort so wenige, hierinn aber so viele vorkom- men, die man unmöglich alle nennen könnte. Hat aber Homer seine Jlias nicht eine Achilleis von der Haupt-Per- son, sondern Jlias von dem Orte genennt: so ist sonder Zwei- fel die Ursache, daß Achilles fast in dem gantzen Gedichte müßig ist; und also von ihm sehr wenig zu erzehlen vorfällt. Es sind aber neben ihm der Helden, die ihm an Würde noch überlegen sind; und denen er von rechtswegen gehorchen soll- te, so viel, daß man ihn fast darunter verlieren könnte. Nach seiner Aussöhnung wird er allererst wircksam und thätig; da aber das Gedichte bald zum Ende ist. Homerus hat also mit Recht ein Bedencken getragen, den Nahmen eines Helden über sein Gedicht zu setzen, von dem am wenigsten darinn vor-
kommt,
Von der Epopee oder dem Helden-Gedichte.
Ehe der Poet aber ſeine Erzehlung anfaͤngt, gehen einige Stuͤcke vorher, die man folglich auch muß kennen lernen. Das Erſte iſt der Nahme des Gedichtes; Das IIdre der Vor- trag ſeines Hauptſatzes, davon es handeln ſoll; Das IIIte aber die Anruffung der Muſen. Einige moͤchten zwar noch die Zueignung des Gedichtes an einen Maͤcenaten zum vier- ten Stuͤcke machen wollen; weil etwa Boileau in ſeinem Lutrin, Taſſo in ſeinem Gottfried, und ſelbſt Virgil in ſeinen Buͤchern vom Feldbaue dergleichen gethan. Allein Home- rus hat dergleichen nicht gemacht, Virgil in ſeiner Eneis auch nicht; und alſo iſt dieſes kein unentbehrliches Stuͤck eines Helden-Gedichtes. Wir wollen indeſſen jene nach der Ord- nung betrachten.
Weil das Helden-Gedicht eine Fabel iſt; ſo taufet es ein Poet nicht anders, als Eſopus die Seinigen getaufet hat. Er nennet ſie aber allezeit nach dem Nahmen der Thiere, die darinn vorkommen, der Wolf und das Schaaf; die Stadt- und Feldmaus u. d. gl. Eben ſo machte es Homer mit ſeiner Odyſſee, und Virgil mit ſeiner Eneis. Jene hat vom Ulyſſes, und dieſe vom Eneas ihren Nahmen: Der Unterſcheid beſteht nur darinn, daß dort zwey, auch wohl gar drey Nahmen, das iſt, alle darinn vorkommende Perſonen genennet werden; hier aber nur eine einzige und zwar die Hauptſaͤchlichſte genennt wird. Das geht aber nicht an- ders an, weil dort ſo wenige, hierinn aber ſo viele vorkom- men, die man unmoͤglich alle nennen koͤnnte. Hat aber Homer ſeine Jlias nicht eine Achilleis von der Haupt-Per- ſon, ſondern Jlias von dem Orte genennt: ſo iſt ſonder Zwei- fel die Urſache, daß Achilles faſt in dem gantzen Gedichte muͤßig iſt; und alſo von ihm ſehr wenig zu erzehlen vorfaͤllt. Es ſind aber neben ihm der Helden, die ihm an Wuͤrde noch uͤberlegen ſind; und denen er von rechtswegen gehorchen ſoll- te, ſo viel, daß man ihn faſt darunter verlieren koͤnnte. Nach ſeiner Ausſoͤhnung wird er allererſt wirckſam und thaͤtig; da aber das Gedichte bald zum Ende iſt. Homerus hat alſo mit Recht ein Bedencken getragen, den Nahmen eines Helden uͤber ſein Gedicht zu ſetzen, von dem am wenigſten darinn vor-
kommt,
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[555/0583]
Von der Epopee oder dem Helden-Gedichte.
Ehe der Poet aber ſeine Erzehlung anfaͤngt, gehen einige
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Das Erſte iſt der Nahme des Gedichtes; Das IIdre der Vor-
trag ſeines Hauptſatzes, davon es handeln ſoll; Das IIIte
aber die Anruffung der Muſen. Einige moͤchten zwar noch
die Zueignung des Gedichtes an einen Maͤcenaten zum vier-
ten Stuͤcke machen wollen; weil etwa Boileau in ſeinem
Lutrin, Taſſo in ſeinem Gottfried, und ſelbſt Virgil in ſeinen
Buͤchern vom Feldbaue dergleichen gethan. Allein Home-
rus hat dergleichen nicht gemacht, Virgil in ſeiner Eneis auch
nicht; und alſo iſt dieſes kein unentbehrliches Stuͤck eines
Helden-Gedichtes. Wir wollen indeſſen jene nach der Ord-
nung betrachten.
Weil das Helden-Gedicht eine Fabel iſt; ſo taufet es ein
Poet nicht anders, als Eſopus die Seinigen getaufet hat.
Er nennet ſie aber allezeit nach dem Nahmen der Thiere, die
darinn vorkommen, der Wolf und das Schaaf; die
Stadt- und Feldmaus u. d. gl. Eben ſo machte es Homer
mit ſeiner Odyſſee, und Virgil mit ſeiner Eneis. Jene hat
vom Ulyſſes, und dieſe vom Eneas ihren Nahmen: Der
Unterſcheid beſteht nur darinn, daß dort zwey, auch wohl gar
drey Nahmen, das iſt, alle darinn vorkommende Perſonen
genennet werden; hier aber nur eine einzige und zwar die
Hauptſaͤchlichſte genennt wird. Das geht aber nicht an-
ders an, weil dort ſo wenige, hierinn aber ſo viele vorkom-
men, die man unmoͤglich alle nennen koͤnnte. Hat aber
Homer ſeine Jlias nicht eine Achilleis von der Haupt-Per-
ſon, ſondern Jlias von dem Orte genennt: ſo iſt ſonder Zwei-
fel die Urſache, daß Achilles faſt in dem gantzen Gedichte
muͤßig iſt; und alſo von ihm ſehr wenig zu erzehlen vorfaͤllt.
Es ſind aber neben ihm der Helden, die ihm an Wuͤrde noch
uͤberlegen ſind; und denen er von rechtswegen gehorchen ſoll-
te, ſo viel, daß man ihn faſt darunter verlieren koͤnnte. Nach
ſeiner Ausſoͤhnung wird er allererſt wirckſam und thaͤtig; da
aber das Gedichte bald zum Ende iſt. Homerus hat alſo mit
Recht ein Bedencken getragen, den Nahmen eines Helden
uͤber ſein Gedicht zu ſetzen, von dem am wenigſten darinn vor-
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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 555. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/583>, abgerufen am 22.11.2024.
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