kommt, und von dem nicht viel erzehlet werden konnte, weil er nur dessen Zorn und Enthaltung vom Streite, nicht aber seine Tapferkeit besingen wollen. Tasso ist dem erstern Exempel gefolgt, weil er sein Gedichte nach dem Heerführer der Armee, Gottfried von Bouillon, Gottfried nennt. Vol- taire hat es auch so gemacht; denn da die erste Auflage la Ligue hieß, hat er die andre lieber Henriade nennen wollen. Der Pucelle d'Orleans, und unsers Wittekinds voritzo nicht zu gedencken.
Der Vortrag ist nichts anders als eine kurtzgefaßte An- zeigung von demjenigen, was der Poet zu erzehlen willens ist. Da nun die Handlung der Fabel dasjenige ist, was die Ma- terie oder den Jnhalt des Gedichtes ausmacht; so muß er auch dieselbe nahmhafft machen. So machts Homerus: Er sagt: Jch besinge den Zorn Achillis, der so verderblich vor die Griechen gewesen. Nun scheint zwar der Zorn keine Handlung sondern eine Leidenschafft gewesen zu seyn: Allein Achilles zürnte aus Rachgier, weil er wohl wuste, daß man ohne ihn nichts ausrichten würde. Und also war seine Lei- denschafft von so großer Wirckung als die eifrigste Hand- lung. Jn der Odyssee sagt der Poet zwar, er wolle von ei- nem Manne singen; allein er setzt gleich hinzu, daß es ein sol- cher sey, der sehr viel erlitten habe, als er in sein Land zurücke kehren wollen. Virgil hat es nicht viel anders gemacht, und also darf man sich dabey nicht aufhalten. Man mercke nur, daß dieser Vortrag auf keine prahlerische und hochtrabende Art geschehen muß. Horatius verbietet solches ausdrücklich:
Nec sic ineipies, vt scriptor cyclicus olim: Fortunam Priami cantabo & nobile bellum. Quid dignum tanto feret hic promissor hiatu? Parturiunt montes, nascetur ridiculus mus.
Er lobt dagegen den Homer, daß er seinen Vortrag in der Odyssee so bescheiden gemacht als es möglich gewesen. Lu- can ist in diesem Stücke auch zu tadeln, weil er einen überaus schwülstigen Anfang zu seiner Pharsale gemacht hat. Und was würde Horatz gesagt haben, wenn er des Statii Achil- leis hätte lesen sollen, deren Anfang schon im vorigen ange-
führet
Des II Theils IX Capitel
kommt, und von dem nicht viel erzehlet werden konnte, weil er nur deſſen Zorn und Enthaltung vom Streite, nicht aber ſeine Tapferkeit beſingen wollen. Taſſo iſt dem erſtern Exempel gefolgt, weil er ſein Gedichte nach dem Heerfuͤhrer der Armee, Gottfried von Bouillon, Gottfried nennt. Vol- taire hat es auch ſo gemacht; denn da die erſte Auflage la Ligue hieß, hat er die andre lieber Henriade nennen wollen. Der Pucelle d’Orleans, und unſers Wittekinds voritzo nicht zu gedencken.
Der Vortrag iſt nichts anders als eine kurtzgefaßte An- zeigung von demjenigen, was der Poet zu erzehlen willens iſt. Da nun die Handlung der Fabel dasjenige iſt, was die Ma- terie oder den Jnhalt des Gedichtes ausmacht; ſo muß er auch dieſelbe nahmhafft machen. So machts Homerus: Er ſagt: Jch beſinge den Zorn Achillis, der ſo verderblich vor die Griechen geweſen. Nun ſcheint zwar der Zorn keine Handlung ſondern eine Leidenſchafft geweſen zu ſeyn: Allein Achilles zuͤrnte aus Rachgier, weil er wohl wuſte, daß man ohne ihn nichts ausrichten wuͤrde. Und alſo war ſeine Lei- denſchafft von ſo großer Wirckung als die eifrigſte Hand- lung. Jn der Odyſſee ſagt der Poet zwar, er wolle von ei- nem Manne ſingen; allein er ſetzt gleich hinzu, daß es ein ſol- cher ſey, der ſehr viel erlitten habe, als er in ſein Land zuruͤcke kehren wollen. Virgil hat es nicht viel anders gemacht, und alſo darf man ſich dabey nicht aufhalten. Man mercke nur, daß dieſer Vortrag auf keine prahleriſche und hochtrabende Art geſchehen muß. Horatius verbietet ſolches ausdruͤcklich:
Nec ſic ineipies, vt ſcriptor cyclicus olim: Fortunam Priami cantabo & nobile bellum. Quid dignum tanto feret hic promiſſor hiatu? Parturiunt montes, naſcetur ridiculus mus.
Er lobt dagegen den Homer, daß er ſeinen Vortrag in der Odyſſee ſo beſcheiden gemacht als es moͤglich geweſen. Lu- can iſt in dieſem Stuͤcke auch zu tadeln, weil er einen uͤberaus ſchwuͤlſtigen Anfang zu ſeiner Pharſale gemacht hat. Und was wuͤrde Horatz geſagt haben, wenn er des Statii Achil- leis haͤtte leſen ſollen, deren Anfang ſchon im vorigen ange-
fuͤhret
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[556/0584]
Des II Theils IX Capitel
kommt, und von dem nicht viel erzehlet werden konnte, weil
er nur deſſen Zorn und Enthaltung vom Streite, nicht aber
ſeine Tapferkeit beſingen wollen. Taſſo iſt dem erſtern
Exempel gefolgt, weil er ſein Gedichte nach dem Heerfuͤhrer
der Armee, Gottfried von Bouillon, Gottfried nennt. Vol-
taire hat es auch ſo gemacht; denn da die erſte Auflage
la Ligue hieß, hat er die andre lieber Henriade nennen wollen.
Der Pucelle d’Orleans, und unſers Wittekinds voritzo nicht
zu gedencken.
Der Vortrag iſt nichts anders als eine kurtzgefaßte An-
zeigung von demjenigen, was der Poet zu erzehlen willens iſt.
Da nun die Handlung der Fabel dasjenige iſt, was die Ma-
terie oder den Jnhalt des Gedichtes ausmacht; ſo muß er
auch dieſelbe nahmhafft machen. So machts Homerus:
Er ſagt: Jch beſinge den Zorn Achillis, der ſo verderblich
vor die Griechen geweſen. Nun ſcheint zwar der Zorn keine
Handlung ſondern eine Leidenſchafft geweſen zu ſeyn: Allein
Achilles zuͤrnte aus Rachgier, weil er wohl wuſte, daß man
ohne ihn nichts ausrichten wuͤrde. Und alſo war ſeine Lei-
denſchafft von ſo großer Wirckung als die eifrigſte Hand-
lung. Jn der Odyſſee ſagt der Poet zwar, er wolle von ei-
nem Manne ſingen; allein er ſetzt gleich hinzu, daß es ein ſol-
cher ſey, der ſehr viel erlitten habe, als er in ſein Land zuruͤcke
kehren wollen. Virgil hat es nicht viel anders gemacht, und
alſo darf man ſich dabey nicht aufhalten. Man mercke nur,
daß dieſer Vortrag auf keine prahleriſche und hochtrabende
Art geſchehen muß. Horatius verbietet ſolches ausdruͤcklich:
Nec ſic ineipies, vt ſcriptor cyclicus olim:
Fortunam Priami cantabo & nobile bellum.
Quid dignum tanto feret hic promiſſor hiatu?
Parturiunt montes, naſcetur ridiculus mus.
Er lobt dagegen den Homer, daß er ſeinen Vortrag in der
Odyſſee ſo beſcheiden gemacht als es moͤglich geweſen. Lu-
can iſt in dieſem Stuͤcke auch zu tadeln, weil er einen uͤberaus
ſchwuͤlſtigen Anfang zu ſeiner Pharſale gemacht hat. Und
was wuͤrde Horatz geſagt haben, wenn er des Statii Achil-
leis haͤtte leſen ſollen, deren Anfang ſchon im vorigen ange-
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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 556. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/584>, abgerufen am 22.11.2024.
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