führet worden? Virgil hergegen ist in die Fußtapfen Ho- meri getreten, und hat kein so großes Geschrey gemacht.
Nun folgt endlich die Anruffung der Musen, oder sonst einer Gottheit, Homerus hat dieselbe gleich mit seinem Vor- trage vermischet, Virgil aber besonders gemacht. Jener sagt nicht, daß er die Thaten seiner Helden erzehlen wolle: sondern er bittet die Musen solches zu thun. Dieser ver- spricht es zwar vor sich zu thun, bittet aber die Musen bald, ihn solches zu lehren. Dem sey nun wie ihm wolle, die An- ruffung muß nicht vergessen werden; weil in einem solchen Gedichte Dinge vorkommen, die der Dichter wahrscheinli- cher Weise, ohne die Eingebung einer Gottheit, nicht wissen könnte. Er setzt sich auch durch seine Gottesfurcht dergestalt bey seinem Leser in ein gutes Ansehen; ja bringt ihn in eine Verwunderung, und macht ihn begierig dergleichen hohe Sachen zu vernehmen. Was für Fehler hiebey pflegen be- gangen zu werden, ist im Vten Capitel des ersten Theils schon ausführlich erinnert worden. Jch eile zur Erzehlung selbst.
Diese ist der eigentliche Cörper des gantzen Gedichtes, und muß also gantz besondre Eigenschafften haben. Vors erste muß die Erzehlung einer Epischen Fabel angenehm seyn: denn sie muß gleichsam den Zucker abgeben, der die vorkom- menden Wahrheiten versüsset. Wir wissen daß alles ange- nehm ist, was gewisse Schönheiten an sich hat; folglich muß die Erzehlung eines Helden-Gedichts alle Schönheiten der Poetischen Schreibart an sich haben, davon im ersten Theile schon gehandelt worden. Es können aber auch die Personen und Sachen angenehm seyn, von welchen was erzehlt wird: Jene gefallen uns alsdann, wenn sie gewisse Charactere ha- ben, und so zu reden leben. Alles muß in einem Helden-Ge- dichte Sitten haben, sagt Aristoteles; das ist, es muß eine gewisse Gemüths-Art zeigen. Der Poet macht es wie die Mahler, die ihren Figuren dadurch ein grosses Leben zu ertheilen wissen. Die Sachen an sich müssen wunderbar und merckwürdig seyn; davon auch schon im Vten Capitel gehandelt worden. Eine Erzehlung, der alle diese Stücke fehlen, ist kalt und verdrüßlich.
Zwey-
Von der Epopee oder dem Helden-Gedichte.
fuͤhret worden? Virgil hergegen iſt in die Fußtapfen Ho- meri getreten, und hat kein ſo großes Geſchrey gemacht.
Nun folgt endlich die Anruffung der Muſen, oder ſonſt einer Gottheit, Homerus hat dieſelbe gleich mit ſeinem Vor- trage vermiſchet, Virgil aber beſonders gemacht. Jener ſagt nicht, daß er die Thaten ſeiner Helden erzehlen wolle: ſondern er bittet die Muſen ſolches zu thun. Dieſer ver- ſpricht es zwar vor ſich zu thun, bittet aber die Muſen bald, ihn ſolches zu lehren. Dem ſey nun wie ihm wolle, die An- ruffung muß nicht vergeſſen werden; weil in einem ſolchen Gedichte Dinge vorkommen, die der Dichter wahrſcheinli- cher Weiſe, ohne die Eingebung einer Gottheit, nicht wiſſen koͤnnte. Er ſetzt ſich auch durch ſeine Gottesfurcht dergeſtalt bey ſeinem Leſer in ein gutes Anſehen; ja bringt ihn in eine Verwunderung, und macht ihn begierig dergleichen hohe Sachen zu vernehmen. Was fuͤr Fehler hiebey pflegen be- gangen zu werden, iſt im Vten Capitel des erſten Theils ſchon ausfuͤhrlich erinnert worden. Jch eile zur Erzehlung ſelbſt.
Dieſe iſt der eigentliche Coͤrper des gantzen Gedichtes, und muß alſo gantz beſondre Eigenſchafften haben. Vors erſte muß die Erzehlung einer Epiſchen Fabel angenehm ſeyn: denn ſie muß gleichſam den Zucker abgeben, der die vorkom- menden Wahrheiten verſuͤſſet. Wir wiſſen daß alles ange- nehm iſt, was gewiſſe Schoͤnheiten an ſich hat; folglich muß die Erzehlung eines Helden-Gedichts alle Schoͤnheiten der Poetiſchen Schreibart an ſich haben, davon im erſten Theile ſchon gehandelt worden. Es koͤnnen aber auch die Perſonen und Sachen angenehm ſeyn, von welchen was erzehlt wird: Jene gefallen uns alsdann, wenn ſie gewiſſe Charactere ha- ben, und ſo zu reden leben. Alles muß in einem Helden-Ge- dichte Sitten haben, ſagt Ariſtoteles; das iſt, es muß eine gewiſſe Gemuͤths-Art zeigen. Der Poet macht es wie die Mahler, die ihren Figuren dadurch ein groſſes Leben zu ertheilen wiſſen. Die Sachen an ſich muͤſſen wunderbar und merckwuͤrdig ſeyn; davon auch ſchon im Vten Capitel gehandelt worden. Eine Erzehlung, der alle dieſe Stuͤcke fehlen, iſt kalt und verdruͤßlich.
Zwey-
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[557/0585]
Von der Epopee oder dem Helden-Gedichte.
fuͤhret worden? Virgil hergegen iſt in die Fußtapfen Ho-
meri getreten, und hat kein ſo großes Geſchrey gemacht.
Nun folgt endlich die Anruffung der Muſen, oder ſonſt
einer Gottheit, Homerus hat dieſelbe gleich mit ſeinem Vor-
trage vermiſchet, Virgil aber beſonders gemacht. Jener
ſagt nicht, daß er die Thaten ſeiner Helden erzehlen wolle:
ſondern er bittet die Muſen ſolches zu thun. Dieſer ver-
ſpricht es zwar vor ſich zu thun, bittet aber die Muſen bald,
ihn ſolches zu lehren. Dem ſey nun wie ihm wolle, die An-
ruffung muß nicht vergeſſen werden; weil in einem ſolchen
Gedichte Dinge vorkommen, die der Dichter wahrſcheinli-
cher Weiſe, ohne die Eingebung einer Gottheit, nicht wiſſen
koͤnnte. Er ſetzt ſich auch durch ſeine Gottesfurcht dergeſtalt
bey ſeinem Leſer in ein gutes Anſehen; ja bringt ihn in eine
Verwunderung, und macht ihn begierig dergleichen hohe
Sachen zu vernehmen. Was fuͤr Fehler hiebey pflegen be-
gangen zu werden, iſt im Vten Capitel des erſten Theils ſchon
ausfuͤhrlich erinnert worden. Jch eile zur Erzehlung ſelbſt.
Dieſe iſt der eigentliche Coͤrper des gantzen Gedichtes,
und muß alſo gantz beſondre Eigenſchafften haben. Vors
erſte muß die Erzehlung einer Epiſchen Fabel angenehm ſeyn:
denn ſie muß gleichſam den Zucker abgeben, der die vorkom-
menden Wahrheiten verſuͤſſet. Wir wiſſen daß alles ange-
nehm iſt, was gewiſſe Schoͤnheiten an ſich hat; folglich muß
die Erzehlung eines Helden-Gedichts alle Schoͤnheiten der
Poetiſchen Schreibart an ſich haben, davon im erſten Theile
ſchon gehandelt worden. Es koͤnnen aber auch die Perſonen
und Sachen angenehm ſeyn, von welchen was erzehlt wird:
Jene gefallen uns alsdann, wenn ſie gewiſſe Charactere ha-
ben, und ſo zu reden leben. Alles muß in einem Helden-Ge-
dichte Sitten haben, ſagt Ariſtoteles; das iſt, es muß eine
gewiſſe Gemuͤths-Art zeigen. Der Poet macht es wie
die Mahler, die ihren Figuren dadurch ein groſſes Leben zu
ertheilen wiſſen. Die Sachen an ſich muͤſſen wunderbar
und merckwuͤrdig ſeyn; davon auch ſchon im Vten Capitel
gehandelt worden. Eine Erzehlung, der alle dieſe Stuͤcke
fehlen, iſt kalt und verdruͤßlich.
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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 557. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/585>, abgerufen am 22.11.2024.
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