Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

Bild:
<< vorherige Seite
Des II Theils X Capitel


Das zehnte Capitel.
Von Tragödien oder Trauerspielen.

WJe vorzeiten die gantze Poesie mit der Music verein-
baret gewesen, so hat auch die Tragödie ihren Ur-
sprung aus gewissen Liedern, die dem Bacchus zu
Ehren gesungen worden. Es traten an Fest-Tagen etliche
Sänger zusammen, die ein gantzes Chor ausmachten, spiel-
ten, tantzten und sungen nach Art der alten Religion, dem
Weingotte dadurch seinen Gottesdienst zu leisten. Wie sie
aber gemeiniglich sowohl als ihre Zuhörer ein Räuschchen
hatten; so waren auch ihre Lieder so ernsthafft nicht: son-
dern es liefen allerley lustige Possen mit unter. Jemehr man
sich in solchen Gesängen übte, je weiter brachte mans darinn:
und desto lieber hörte man solchen Sängern zu. Daher kam
es, daß sich ihre Zahl vermehrte; und eine Bande der andern
es zuvor zu thun suchte. Sie giengen wohl gar einen Wett-
streit darüber ein, und der Preis war nach der alten Art schon
groß genug, wenn man dem besten Sänger einen Bock zum
Gewinste zuerkannte. Ein Bock heist griechisch Tragos
und ein Lied ode; daher kommt das Wort Tragödie, ein
Bocklied, wie solches theils Aristoteles in seiner Poetick,
theils Horatz in seiner Dichtkunst bezeiget, wenn er schreibt:

Carmine qui tragico vilem certauit ob Hircum.

Man ward aber des beständigen Singens mit der Zeit
überdrüssig, und sehnte sich nach einer Veränderung.
Thespis, der mit seinen Sängern in Griechenland von einem
Orte zum andern herumzog, erdachte was neues, als er die
Lieder in Theile absonderte, und zwischen zwey und zwey al-
lemahl eine Person auftreten ließ, die etwas ungesungen er-
zehlen muste. Mehrerer Bequemlichkeit halber, machte er
seinen Wagen zur Schaubühne, indem er Bretter drüber
legte, und seine Leute droben singen und spielen ließ, damit

sie
Des II Theils X Capitel


Das zehnte Capitel.
Von Tragoͤdien oder Trauerſpielen.

WJe vorzeiten die gantze Poeſie mit der Muſic verein-
baret geweſen, ſo hat auch die Tragoͤdie ihren Ur-
ſprung aus gewiſſen Liedern, die dem Bacchus zu
Ehren geſungen worden. Es traten an Feſt-Tagen etliche
Saͤnger zuſammen, die ein gantzes Chor ausmachten, ſpiel-
ten, tantzten und ſungen nach Art der alten Religion, dem
Weingotte dadurch ſeinen Gottesdienſt zu leiſten. Wie ſie
aber gemeiniglich ſowohl als ihre Zuhoͤrer ein Raͤuſchchen
hatten; ſo waren auch ihre Lieder ſo ernſthafft nicht: ſon-
dern es liefen allerley luſtige Poſſen mit unter. Jemehr man
ſich in ſolchen Geſaͤngen uͤbte, je weiter brachte mans darinn:
und deſto lieber hoͤrte man ſolchen Saͤngern zu. Daher kam
es, daß ſich ihre Zahl vermehrte; und eine Bande der andern
es zuvor zu thun ſuchte. Sie giengen wohl gar einen Wett-
ſtreit daruͤber ein, und der Preis war nach der alten Art ſchon
groß genug, wenn man dem beſten Saͤnger einen Bock zum
Gewinſte zuerkannte. Ein Bock heiſt griechiſch Τραγος
und ein Lied ωδη; daher kommt das Wort Tragoͤdie, ein
Bocklied, wie ſolches theils Ariſtoteles in ſeiner Poetick,
theils Horatz in ſeiner Dichtkunſt bezeiget, wenn er ſchreibt:

Carmine qui tragico vilem certauit ob Hircum.

Man ward aber des beſtaͤndigen Singens mit der Zeit
uͤberdruͤſſig, und ſehnte ſich nach einer Veraͤnderung.
Thespis, der mit ſeinen Saͤngern in Griechenland von einem
Orte zum andern herumzog, erdachte was neues, als er die
Lieder in Theile abſonderte, und zwiſchen zwey und zwey al-
lemahl eine Perſon auftreten ließ, die etwas ungeſungen er-
zehlen muſte. Mehrerer Bequemlichkeit halber, machte er
ſeinen Wagen zur Schaubuͤhne, indem er Bretter druͤber
legte, und ſeine Leute droben ſingen und ſpielen ließ, damit

ſie
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0592" n="564"/>
        <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">Des <hi rendition="#aq">II</hi> Theils <hi rendition="#aq">X</hi> Capitel</hi> </fw><lb/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        <div n="2">
          <head> <hi rendition="#b">Das zehnte Capitel.<lb/>
Von Trago&#x0364;dien oder Trauer&#x017F;pielen.</hi> </head><lb/>
          <p><hi rendition="#in">W</hi>Je vorzeiten die gantze Poe&#x017F;ie mit der Mu&#x017F;ic verein-<lb/>
baret gewe&#x017F;en, &#x017F;o hat auch die Trago&#x0364;die ihren Ur-<lb/>
&#x017F;prung aus gewi&#x017F;&#x017F;en Liedern, die dem Bacchus zu<lb/>
Ehren ge&#x017F;ungen worden. Es traten an Fe&#x017F;t-Tagen etliche<lb/>
Sa&#x0364;nger zu&#x017F;ammen, die ein gantzes Chor ausmachten, &#x017F;piel-<lb/>
ten, tantzten und &#x017F;ungen nach Art der alten Religion, dem<lb/>
Weingotte dadurch &#x017F;einen Gottesdien&#x017F;t zu lei&#x017F;ten. Wie &#x017F;ie<lb/>
aber gemeiniglich &#x017F;owohl als ihre Zuho&#x0364;rer ein Ra&#x0364;u&#x017F;chchen<lb/>
hatten; &#x017F;o waren auch ihre Lieder &#x017F;o ern&#x017F;thafft nicht: &#x017F;on-<lb/>
dern es liefen allerley lu&#x017F;tige Po&#x017F;&#x017F;en mit unter. Jemehr man<lb/>
&#x017F;ich in &#x017F;olchen Ge&#x017F;a&#x0364;ngen u&#x0364;bte, je weiter brachte mans darinn:<lb/>
und de&#x017F;to lieber ho&#x0364;rte man &#x017F;olchen Sa&#x0364;ngern zu. Daher kam<lb/>
es, daß &#x017F;ich ihre Zahl vermehrte; und eine Bande der andern<lb/>
es zuvor zu thun &#x017F;uchte. Sie giengen wohl gar einen Wett-<lb/>
&#x017F;treit daru&#x0364;ber ein, und der Preis war nach der alten Art &#x017F;chon<lb/>
groß genug, wenn man dem be&#x017F;ten Sa&#x0364;nger einen Bock zum<lb/>
Gewin&#x017F;te zuerkannte. Ein Bock hei&#x017F;t griechi&#x017F;ch &#x03A4;&#x03C1;&#x03B1;&#x03B3;&#x03BF;&#x03C2;<lb/>
und ein Lied &#x03C9;&#x03B4;&#x03B7;; daher kommt das Wort Trago&#x0364;die, ein<lb/>
Bocklied, wie &#x017F;olches theils Ari&#x017F;toteles in &#x017F;einer Poetick,<lb/>
theils Horatz in &#x017F;einer Dichtkun&#x017F;t bezeiget, wenn er &#x017F;chreibt:</p><lb/>
          <cit>
            <quote> <hi rendition="#aq">Carmine qui tragico vilem certauit ob Hircum.</hi> </quote>
          </cit><lb/>
          <p>Man ward aber des be&#x017F;ta&#x0364;ndigen Singens mit der Zeit<lb/>
u&#x0364;berdru&#x0364;&#x017F;&#x017F;ig, und &#x017F;ehnte &#x017F;ich nach einer Vera&#x0364;nderung.<lb/>
Thespis, der mit &#x017F;einen Sa&#x0364;ngern in Griechenland von einem<lb/>
Orte zum andern herumzog, erdachte was neues, als er die<lb/>
Lieder in Theile ab&#x017F;onderte, und zwi&#x017F;chen zwey und zwey al-<lb/>
lemahl eine Per&#x017F;on auftreten ließ, die etwas unge&#x017F;ungen er-<lb/>
zehlen mu&#x017F;te. Mehrerer Bequemlichkeit halber, machte er<lb/>
&#x017F;einen Wagen zur Schaubu&#x0364;hne, indem er Bretter dru&#x0364;ber<lb/>
legte, und &#x017F;eine Leute droben &#x017F;ingen und &#x017F;pielen ließ, damit<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">&#x017F;ie</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[564/0592] Des II Theils X Capitel Das zehnte Capitel. Von Tragoͤdien oder Trauerſpielen. WJe vorzeiten die gantze Poeſie mit der Muſic verein- baret geweſen, ſo hat auch die Tragoͤdie ihren Ur- ſprung aus gewiſſen Liedern, die dem Bacchus zu Ehren geſungen worden. Es traten an Feſt-Tagen etliche Saͤnger zuſammen, die ein gantzes Chor ausmachten, ſpiel- ten, tantzten und ſungen nach Art der alten Religion, dem Weingotte dadurch ſeinen Gottesdienſt zu leiſten. Wie ſie aber gemeiniglich ſowohl als ihre Zuhoͤrer ein Raͤuſchchen hatten; ſo waren auch ihre Lieder ſo ernſthafft nicht: ſon- dern es liefen allerley luſtige Poſſen mit unter. Jemehr man ſich in ſolchen Geſaͤngen uͤbte, je weiter brachte mans darinn: und deſto lieber hoͤrte man ſolchen Saͤngern zu. Daher kam es, daß ſich ihre Zahl vermehrte; und eine Bande der andern es zuvor zu thun ſuchte. Sie giengen wohl gar einen Wett- ſtreit daruͤber ein, und der Preis war nach der alten Art ſchon groß genug, wenn man dem beſten Saͤnger einen Bock zum Gewinſte zuerkannte. Ein Bock heiſt griechiſch Τραγος und ein Lied ωδη; daher kommt das Wort Tragoͤdie, ein Bocklied, wie ſolches theils Ariſtoteles in ſeiner Poetick, theils Horatz in ſeiner Dichtkunſt bezeiget, wenn er ſchreibt: Carmine qui tragico vilem certauit ob Hircum. Man ward aber des beſtaͤndigen Singens mit der Zeit uͤberdruͤſſig, und ſehnte ſich nach einer Veraͤnderung. Thespis, der mit ſeinen Saͤngern in Griechenland von einem Orte zum andern herumzog, erdachte was neues, als er die Lieder in Theile abſonderte, und zwiſchen zwey und zwey al- lemahl eine Perſon auftreten ließ, die etwas ungeſungen er- zehlen muſte. Mehrerer Bequemlichkeit halber, machte er ſeinen Wagen zur Schaubuͤhne, indem er Bretter druͤber legte, und ſeine Leute droben ſingen und ſpielen ließ, damit ſie

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/592
Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 564. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/592>, abgerufen am 22.11.2024.