Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

Bild:
<< vorherige Seite
Von Tragödien oder Trauerspielen.

Von diesen äusserlichen Stücken einer Tragödie, die auch
einem Ungelehrten in die Augen fallen, komme ich auf die in-
nere Einrichtung derselben, die nur ein Kunstverständiger
wahrnimmt. Hier bemerckt man nun, daß das Trauer-
Spiel einige Stücke mit dem Helden-Gedichte gemein hat:
in andern aber von ihm unterschieden ist. Es hat mit ihm
gemein die Fabel oder die Handlung, die Charactere, die
Schreib-Art oder den Ausdruck. Es ist aber von demselben
unterschieden in der Grösse der Fabel, oder ihrer Dauer; in
der Beschaffenheit des Ortes, wo sie vorgehen muß; in der
Art des Vortrages, welche hier gantz dramatisch ist, da dort
die Erzehlung herrschet. Hierzu kommt noch, daß in der Tra-
gödie die Gemüths-Bewegungen weit lebhafter und stärcker
vorgestellet werden; daß man die Music dabey brauchet,
und einer Schau-Bühne nöthig hat, die auf verschiedene Art
verzieret werden muß. Von allen diesen Stücken ins beson-
dre muß kürtzlich gehandelt werden.

Wie eine gute tragische Fabel gemacht werden müsse,
ist schon im IVten Capit. des I Th. einiger massen gewiesen
worden. Der Poet wehlet sich einen moralischen Lehr-Satz,
den er seinen Zuschauern auf eine sinnliche Art einprägen will.
Dazu ersinnt er sich eine allgemeine Fabel, daraus die
Wahrheit seines Satzes erhellet. Hiernechst sucht er in der
Historie solche berühmte Leute, denen etwas ähnliches begeg-
net ist: und von diesen entlehnet er die Nahmen, vor die Per-
sonen seiner Fabel, um derselben also ein Ansehen zu geben.
Er erdencket sodann alle Umstände dazu, um die Haupt-Fa-
bel recht wahrscheinlich zu machen, und das werden die Zwi-
schen-Fabeln, oder Episodia genannt. Dieses theilt er denn
in fünf Stücke ein, die ungefehr gleich groß sind, und ordnet
sie so, daß natürlicher Weise das letztere aus dem vorherge-
henden fliesset: Bekümmert sich aber weiter nicht, ob alles in
der Historie so vorgegangen, oder ob alle Neben-Personen
wircklich so und nicht anders geheißen. Zum Exempel kan
die oberwehnte Tragödie des Sophoclis dienen. Der Poet
wollte zeigen, daß GOtt auch die Laster, so unwissend began-
gen werden, nicht ungestraft lasse. Hierzu ersinnt er eine all-

ge-
Von Tragoͤdien oder Trauerſpielen.

Von dieſen aͤuſſerlichen Stuͤcken einer Tragoͤdie, die auch
einem Ungelehrten in die Augen fallen, komme ich auf die in-
nere Einrichtung derſelben, die nur ein Kunſtverſtaͤndiger
wahrnimmt. Hier bemerckt man nun, daß das Trauer-
Spiel einige Stuͤcke mit dem Helden-Gedichte gemein hat:
in andern aber von ihm unterſchieden iſt. Es hat mit ihm
gemein die Fabel oder die Handlung, die Charactere, die
Schreib-Art oder den Ausdruck. Es iſt aber von demſelben
unterſchieden in der Groͤſſe der Fabel, oder ihrer Dauer; in
der Beſchaffenheit des Ortes, wo ſie vorgehen muß; in der
Art des Vortrages, welche hier gantz dramatiſch iſt, da dort
die Erzehlung herrſchet. Hierzu kommt noch, daß in der Tra-
goͤdie die Gemuͤths-Bewegungen weit lebhafter und ſtaͤrcker
vorgeſtellet werden; daß man die Muſic dabey brauchet,
und einer Schau-Buͤhne noͤthig hat, die auf verſchiedene Art
verzieret werden muß. Von allen dieſen Stuͤcken ins beſon-
dre muß kuͤrtzlich gehandelt werden.

Wie eine gute tragiſche Fabel gemacht werden muͤſſe,
iſt ſchon im IVten Capit. des I Th. einiger maſſen gewieſen
worden. Der Poet wehlet ſich einen moraliſchen Lehr-Satz,
den er ſeinen Zuſchauern auf eine ſinnliche Art einpraͤgen will.
Dazu erſinnt er ſich eine allgemeine Fabel, daraus die
Wahrheit ſeines Satzes erhellet. Hiernechſt ſucht er in der
Hiſtorie ſolche beruͤhmte Leute, denen etwas aͤhnliches begeg-
net iſt: und von dieſen entlehnet er die Nahmen, vor die Per-
ſonen ſeiner Fabel, um derſelben alſo ein Anſehen zu geben.
Er erdencket ſodann alle Umſtaͤnde dazu, um die Haupt-Fa-
bel recht wahrſcheinlich zu machen, und das werden die Zwi-
ſchen-Fabeln, oder Epiſodia genannt. Dieſes theilt er denn
in fuͤnf Stuͤcke ein, die ungefehr gleich groß ſind, und ordnet
ſie ſo, daß natuͤrlicher Weiſe das letztere aus dem vorherge-
henden flieſſet: Bekuͤmmert ſich aber weiter nicht, ob alles in
der Hiſtorie ſo vorgegangen, oder ob alle Neben-Perſonen
wircklich ſo und nicht anders geheißen. Zum Exempel kan
die oberwehnte Tragoͤdie des Sophoclis dienen. Der Poet
wollte zeigen, daß GOtt auch die Laſter, ſo unwiſſend began-
gen werden, nicht ungeſtraft laſſe. Hierzu erſinnt er eine all-

ge-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0599" n="571"/>
          <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">Von Trago&#x0364;dien oder Trauer&#x017F;pielen.</hi> </fw><lb/>
          <p>Von die&#x017F;en a&#x0364;u&#x017F;&#x017F;erlichen Stu&#x0364;cken einer Trago&#x0364;die, die auch<lb/>
einem Ungelehrten in die Augen fallen, komme ich auf die in-<lb/>
nere Einrichtung der&#x017F;elben, die nur ein Kun&#x017F;tver&#x017F;ta&#x0364;ndiger<lb/>
wahrnimmt. Hier bemerckt man nun, daß das Trauer-<lb/>
Spiel einige Stu&#x0364;cke mit dem Helden-Gedichte gemein hat:<lb/>
in andern aber von ihm unter&#x017F;chieden i&#x017F;t. Es hat mit ihm<lb/>
gemein die Fabel oder die Handlung, die Charactere, die<lb/>
Schreib-Art oder den Ausdruck. Es i&#x017F;t aber von dem&#x017F;elben<lb/>
unter&#x017F;chieden in der Gro&#x0364;&#x017F;&#x017F;e der Fabel, oder ihrer Dauer; in<lb/>
der Be&#x017F;chaffenheit des Ortes, wo &#x017F;ie vorgehen muß; in der<lb/>
Art des Vortrages, welche hier gantz dramati&#x017F;ch i&#x017F;t, da dort<lb/>
die Erzehlung herr&#x017F;chet. Hierzu kommt noch, daß in der Tra-<lb/>
go&#x0364;die die Gemu&#x0364;ths-Bewegungen weit lebhafter und &#x017F;ta&#x0364;rcker<lb/>
vorge&#x017F;tellet werden; daß man die Mu&#x017F;ic dabey brauchet,<lb/>
und einer Schau-Bu&#x0364;hne no&#x0364;thig hat, die auf ver&#x017F;chiedene Art<lb/>
verzieret werden muß. Von allen die&#x017F;en Stu&#x0364;cken ins be&#x017F;on-<lb/>
dre muß ku&#x0364;rtzlich gehandelt werden.</p><lb/>
          <p>Wie eine gute tragi&#x017F;che Fabel gemacht werden mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e,<lb/>
i&#x017F;t &#x017F;chon im <hi rendition="#aq">IV</hi>ten Capit. des <hi rendition="#aq">I</hi> Th. einiger ma&#x017F;&#x017F;en gewie&#x017F;en<lb/>
worden. Der Poet wehlet &#x017F;ich einen morali&#x017F;chen Lehr-Satz,<lb/>
den er &#x017F;einen Zu&#x017F;chauern auf eine &#x017F;innliche Art einpra&#x0364;gen will.<lb/>
Dazu er&#x017F;innt er &#x017F;ich eine allgemeine Fabel, daraus die<lb/>
Wahrheit &#x017F;eines Satzes erhellet. Hiernech&#x017F;t &#x017F;ucht er in der<lb/>
Hi&#x017F;torie &#x017F;olche beru&#x0364;hmte Leute, denen etwas a&#x0364;hnliches begeg-<lb/>
net i&#x017F;t: und von die&#x017F;en entlehnet er die Nahmen, vor die Per-<lb/>
&#x017F;onen &#x017F;einer Fabel, um der&#x017F;elben al&#x017F;o ein An&#x017F;ehen zu geben.<lb/>
Er erdencket &#x017F;odann alle Um&#x017F;ta&#x0364;nde dazu, um die Haupt-Fa-<lb/>
bel recht wahr&#x017F;cheinlich zu machen, und das werden die Zwi-<lb/>
&#x017F;chen-Fabeln, oder Epi&#x017F;odia genannt. Die&#x017F;es theilt er denn<lb/>
in fu&#x0364;nf Stu&#x0364;cke ein, die ungefehr gleich groß &#x017F;ind, und ordnet<lb/>
&#x017F;ie &#x017F;o, daß natu&#x0364;rlicher Wei&#x017F;e das letztere aus dem vorherge-<lb/>
henden flie&#x017F;&#x017F;et: Beku&#x0364;mmert &#x017F;ich aber weiter nicht, ob alles in<lb/>
der Hi&#x017F;torie &#x017F;o vorgegangen, oder ob alle Neben-Per&#x017F;onen<lb/>
wircklich &#x017F;o und nicht anders geheißen. Zum Exempel kan<lb/>
die oberwehnte Trago&#x0364;die des Sophoclis dienen. Der Poet<lb/>
wollte zeigen, daß GOtt auch die La&#x017F;ter, &#x017F;o unwi&#x017F;&#x017F;end began-<lb/>
gen werden, nicht unge&#x017F;traft la&#x017F;&#x017F;e. Hierzu er&#x017F;innt er eine all-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">ge-</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[571/0599] Von Tragoͤdien oder Trauerſpielen. Von dieſen aͤuſſerlichen Stuͤcken einer Tragoͤdie, die auch einem Ungelehrten in die Augen fallen, komme ich auf die in- nere Einrichtung derſelben, die nur ein Kunſtverſtaͤndiger wahrnimmt. Hier bemerckt man nun, daß das Trauer- Spiel einige Stuͤcke mit dem Helden-Gedichte gemein hat: in andern aber von ihm unterſchieden iſt. Es hat mit ihm gemein die Fabel oder die Handlung, die Charactere, die Schreib-Art oder den Ausdruck. Es iſt aber von demſelben unterſchieden in der Groͤſſe der Fabel, oder ihrer Dauer; in der Beſchaffenheit des Ortes, wo ſie vorgehen muß; in der Art des Vortrages, welche hier gantz dramatiſch iſt, da dort die Erzehlung herrſchet. Hierzu kommt noch, daß in der Tra- goͤdie die Gemuͤths-Bewegungen weit lebhafter und ſtaͤrcker vorgeſtellet werden; daß man die Muſic dabey brauchet, und einer Schau-Buͤhne noͤthig hat, die auf verſchiedene Art verzieret werden muß. Von allen dieſen Stuͤcken ins beſon- dre muß kuͤrtzlich gehandelt werden. Wie eine gute tragiſche Fabel gemacht werden muͤſſe, iſt ſchon im IVten Capit. des I Th. einiger maſſen gewieſen worden. Der Poet wehlet ſich einen moraliſchen Lehr-Satz, den er ſeinen Zuſchauern auf eine ſinnliche Art einpraͤgen will. Dazu erſinnt er ſich eine allgemeine Fabel, daraus die Wahrheit ſeines Satzes erhellet. Hiernechſt ſucht er in der Hiſtorie ſolche beruͤhmte Leute, denen etwas aͤhnliches begeg- net iſt: und von dieſen entlehnet er die Nahmen, vor die Per- ſonen ſeiner Fabel, um derſelben alſo ein Anſehen zu geben. Er erdencket ſodann alle Umſtaͤnde dazu, um die Haupt-Fa- bel recht wahrſcheinlich zu machen, und das werden die Zwi- ſchen-Fabeln, oder Epiſodia genannt. Dieſes theilt er denn in fuͤnf Stuͤcke ein, die ungefehr gleich groß ſind, und ordnet ſie ſo, daß natuͤrlicher Weiſe das letztere aus dem vorherge- henden flieſſet: Bekuͤmmert ſich aber weiter nicht, ob alles in der Hiſtorie ſo vorgegangen, oder ob alle Neben-Perſonen wircklich ſo und nicht anders geheißen. Zum Exempel kan die oberwehnte Tragoͤdie des Sophoclis dienen. Der Poet wollte zeigen, daß GOtt auch die Laſter, ſo unwiſſend began- gen werden, nicht ungeſtraft laſſe. Hierzu erſinnt er eine all- ge-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/599
Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 571. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/599>, abgerufen am 22.11.2024.