Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.Des II Theils X Capitel gemeine Fabel. Es war einmal ein Printz, wird es heißen,der sehr viel gute Eigenschafften an sich hatte, aber dabey ver- wegen, argwöhnisch und neugierig war. Dieser hatte ein- mahl vor dem Antritte seiner Regierung auf freyem Felde ei- nen Mord begangen; ohne zu wissen, daß er seinen eigenen Vater erschlagen. Durch seinen Verstand bringt er sich in einem fremden Lande in solches Ansehen; daß er zum Könige gemacht wird, und die verwittwete Königin heyrathet: ohne zu wissen, daß selbige seine eigene Mutter ist. Aber dieses al- les geht ihm nicht vor genossen aus. Seine Laster kommen ans Licht, und es treffen ihn alle die Flüche, die er selbst auf den Mörder seines Vorfahren im Regiment, ausgestossen hatte. Er wird des Reichs entsetzet, und ins Elend getrie- ben; nachdem er sich selbst aus Verzweifelung der Augen be- raubet hatte. Zu dieser allgemeinen Fabel nun, findet So- phocles in den alten Thebanischen Geschichten, den Oedipus geschickt. Er ist ein solcher Printz, als die Fabel erfordert: Er hat unwissend einen Vater-Mord und eine Blut-Schande begangen. Er ist dadurch auf eine Zeitlang glücklich gewor- den; allein, die Strafe bleibt nicht aus: sondern er muß end- alle die Würckungen seiner unerhörten Laster empfinden. Diese Fabel ist nun geschickt, Schrecken und Mitleiden Diese
Des II Theils X Capitel gemeine Fabel. Es war einmal ein Printz, wird es heißen,der ſehr viel gute Eigenſchafften an ſich hatte, aber dabey ver- wegen, argwoͤhniſch und neugierig war. Dieſer hatte ein- mahl vor dem Antritte ſeiner Regierung auf freyem Felde ei- nen Mord begangen; ohne zu wiſſen, daß er ſeinen eigenen Vater erſchlagen. Durch ſeinen Verſtand bringt er ſich in einem fremden Lande in ſolches Anſehen; daß er zum Koͤnige gemacht wird, und die verwittwete Koͤnigin heyrathet: ohne zu wiſſen, daß ſelbige ſeine eigene Mutter iſt. Aber dieſes al- les geht ihm nicht vor genoſſen aus. Seine Laſter kommen ans Licht, und es treffen ihn alle die Fluͤche, die er ſelbſt auf den Moͤrder ſeines Vorfahren im Regiment, ausgeſtoſſen hatte. Er wird des Reichs entſetzet, und ins Elend getrie- ben; nachdem er ſich ſelbſt aus Verzweifelung der Augen be- raubet hatte. Zu dieſer allgemeinen Fabel nun, findet So- phocles in den alten Thebaniſchen Geſchichten, den Oedipus geſchickt. Er iſt ein ſolcher Printz, als die Fabel erfordert: Er hat unwiſſend einen Vater-Mord und eine Blut-Schande begangen. Er iſt dadurch auf eine Zeitlang gluͤcklich gewor- den; allein, die Strafe bleibt nicht aus: ſondern er muß end- alle die Wuͤrckungen ſeiner unerhoͤrten Laſter empfinden. Dieſe Fabel iſt nun geſchickt, Schrecken und Mitleiden Dieſe
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0600" n="572"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Des <hi rendition="#aq">II</hi> Theils <hi rendition="#aq">X</hi> Capitel</hi></fw><lb/> gemeine Fabel. Es war einmal ein Printz, wird es heißen,<lb/> der ſehr viel gute Eigenſchafften an ſich hatte, aber dabey ver-<lb/> wegen, argwoͤhniſch und neugierig war. Dieſer hatte ein-<lb/> mahl vor dem Antritte ſeiner Regierung auf freyem Felde ei-<lb/> nen Mord begangen; ohne zu wiſſen, daß er ſeinen eigenen<lb/> Vater erſchlagen. Durch ſeinen Verſtand bringt er ſich in<lb/> einem fremden Lande in ſolches Anſehen; daß er zum Koͤnige<lb/> gemacht wird, und die verwittwete Koͤnigin heyrathet: ohne<lb/> zu wiſſen, daß ſelbige ſeine eigene Mutter iſt. Aber dieſes al-<lb/> les geht ihm nicht vor genoſſen aus. Seine Laſter kommen<lb/> ans Licht, und es treffen ihn alle die Fluͤche, die er ſelbſt auf<lb/> den Moͤrder ſeines Vorfahren im Regiment, ausgeſtoſſen<lb/> hatte. Er wird des Reichs entſetzet, und ins Elend getrie-<lb/> ben; nachdem er ſich ſelbſt aus Verzweifelung der Augen be-<lb/> raubet hatte. Zu dieſer allgemeinen Fabel nun, findet So-<lb/> phocles in den alten Thebaniſchen Geſchichten, den Oedipus<lb/> geſchickt. Er iſt ein ſolcher Printz, als die Fabel erfordert:<lb/> Er hat unwiſſend einen Vater-Mord und eine Blut-Schande<lb/> begangen. Er iſt dadurch auf eine Zeitlang gluͤcklich gewor-<lb/> den; allein, die Strafe bleibt nicht aus: ſondern er muß end-<lb/> alle die Wuͤrckungen ſeiner unerhoͤrten Laſter empfinden.</p><lb/> <p>Dieſe Fabel iſt nun geſchickt, Schrecken und Mitleiden<lb/> zu erwecken, und alſo die Gemuͤths-Bewegungen der Zu-<lb/> ſchauer auf eine der Tugend gemaͤſſe Weiſe zu erregen.<lb/> Man ſieht auch, daß der Chor in dieſer Tragoͤdie dadurch be-<lb/> wogen wird, recht erbauliche Betrachtungen uͤber die Unbe-<lb/> ſtaͤndigkeit des Gluͤckes der Groſſen dieſer Welt und uͤber die<lb/> Schandbarkeit ſeiner Laſter anzuſtellen; und zuletzt in dem<lb/> Beſchluſſe die Thebaner ſo anzureden: Jhr Einwohner von<lb/> Theben, ſehet hier den Oedipus, der durch ſeine Weisheit<lb/> Raͤtzel erklaͤren konnte, und an Tapferkeit alles uͤbertraf; ja<lb/> der ſeine Hoheit ſonſt keinem, als ſeinem Verſtande und Hel-<lb/> den-Muthe zu dancken hatte: Seht in was vor ſchreckliche<lb/> Truͤbſalen er gerathen iſt; und wenn ihr dieſes unſeelige En-<lb/> de deſſelben erweget, ſo lernt doch niemanden vor gluͤcklich<lb/> halten, bis ihr ihn ſeine letzte Stunde gluͤcklich habt errei-<lb/> chen geſehen.</p><lb/> <fw place="bottom" type="catch">Dieſe</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [572/0600]
Des II Theils X Capitel
gemeine Fabel. Es war einmal ein Printz, wird es heißen,
der ſehr viel gute Eigenſchafften an ſich hatte, aber dabey ver-
wegen, argwoͤhniſch und neugierig war. Dieſer hatte ein-
mahl vor dem Antritte ſeiner Regierung auf freyem Felde ei-
nen Mord begangen; ohne zu wiſſen, daß er ſeinen eigenen
Vater erſchlagen. Durch ſeinen Verſtand bringt er ſich in
einem fremden Lande in ſolches Anſehen; daß er zum Koͤnige
gemacht wird, und die verwittwete Koͤnigin heyrathet: ohne
zu wiſſen, daß ſelbige ſeine eigene Mutter iſt. Aber dieſes al-
les geht ihm nicht vor genoſſen aus. Seine Laſter kommen
ans Licht, und es treffen ihn alle die Fluͤche, die er ſelbſt auf
den Moͤrder ſeines Vorfahren im Regiment, ausgeſtoſſen
hatte. Er wird des Reichs entſetzet, und ins Elend getrie-
ben; nachdem er ſich ſelbſt aus Verzweifelung der Augen be-
raubet hatte. Zu dieſer allgemeinen Fabel nun, findet So-
phocles in den alten Thebaniſchen Geſchichten, den Oedipus
geſchickt. Er iſt ein ſolcher Printz, als die Fabel erfordert:
Er hat unwiſſend einen Vater-Mord und eine Blut-Schande
begangen. Er iſt dadurch auf eine Zeitlang gluͤcklich gewor-
den; allein, die Strafe bleibt nicht aus: ſondern er muß end-
alle die Wuͤrckungen ſeiner unerhoͤrten Laſter empfinden.
Dieſe Fabel iſt nun geſchickt, Schrecken und Mitleiden
zu erwecken, und alſo die Gemuͤths-Bewegungen der Zu-
ſchauer auf eine der Tugend gemaͤſſe Weiſe zu erregen.
Man ſieht auch, daß der Chor in dieſer Tragoͤdie dadurch be-
wogen wird, recht erbauliche Betrachtungen uͤber die Unbe-
ſtaͤndigkeit des Gluͤckes der Groſſen dieſer Welt und uͤber die
Schandbarkeit ſeiner Laſter anzuſtellen; und zuletzt in dem
Beſchluſſe die Thebaner ſo anzureden: Jhr Einwohner von
Theben, ſehet hier den Oedipus, der durch ſeine Weisheit
Raͤtzel erklaͤren konnte, und an Tapferkeit alles uͤbertraf; ja
der ſeine Hoheit ſonſt keinem, als ſeinem Verſtande und Hel-
den-Muthe zu dancken hatte: Seht in was vor ſchreckliche
Truͤbſalen er gerathen iſt; und wenn ihr dieſes unſeelige En-
de deſſelben erweget, ſo lernt doch niemanden vor gluͤcklich
halten, bis ihr ihn ſeine letzte Stunde gluͤcklich habt errei-
chen geſehen.
Dieſe
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |