Diese Fabel nun zu erdichten, sie recht wahrscheinlich einzurichten, und wohl auszuführen, das ist das allerschwerste in einer Tragödie. Es hat viele Poeten gegeben, die in allem andern Zubehör des Trauer-Spiels, in den Charactern, in dem Ausdrucke, in den Affecten etc. glücklich gewesen: Aber in der Fabel ist es sehr wenigen gelungen. Das macht, daß dieselbe eine dreyfache Einheit haben muß, wenn ich so reden darf: die Einheit der Handlung, der Zeit, und des Ortes.
Die gantze Fabel hat nur eine Haupt-Absicht: nehm- lich einen moralischen Satz; also muß sie auch nur eine Haupt-Handlung haben, um derentwegen alles übrige vor- gehet. Die Neben-Handlungen aber, die zur Ausfüh- rung der Haupt-Handlung gehören, können gar wohl andre moralische Wahrheiten in sich schliessen: wie zum Exempel im Oedipus die Erfüllung der Orackel, darüber Jocasta vor- her gespottet hatte; die Lehre giebt: daß die göttliche Allwis- senheit nicht fehlen könne. Alle Stücke sind also tadelhafft und verwerflich, die aus zwoen Handlungen bestehen, davon keine die vornehmste ist. Jch habe dergleichen im Jahr 1717. am Reformations-Feste in einer Schul-Comödie vor- stellen gesehen, wo der Jnnhalt der Eneis Virgilii, und die Reformation Lutheri zugleich vorgestellet wurde. Jn einer Scene war ein Trojaner, in der andern der Ablaß-Krämer Tetzel zu sehen. Bald handelte Eneas von der Stifftung des Römischen Reichs, bald kam Lutherus und reinigte die Kirche. Bald war Dido, bald die Babylonische Hure zu sehen u. s. w. Und diese beyde so verschiedene Handlungen hiengen nicht anders zusammen, als durch eine lustige Person, die zwischen solchen Scenen auftrat, und Z. E. den auf der See bestürmten Eneas mit dem in Gefahr schwebenden Kir- chen-Schiffiein verglich. Das ist nun ein sehr handgreifli- cher Fehler, wo zwey so verschiedene Dinge zugleich gespielet werden. Allein die andern, so etwas unmercklicher sind, ver- dienen deswegen keine Entschuldigung.
Die Einheit der Zeit ist das andre, so in der Tragödie unentbehrlich ist. Die Fabel eines Helden-Gedichtes kan viel Monate dauren, wie oben gewiesen worden: das macht,
sie
Von Tragoͤdien oder Trauerſpielen.
Dieſe Fabel nun zu erdichten, ſie recht wahrſcheinlich einzurichten, und wohl auszufuͤhren, das iſt das allerſchwerſte in einer Tragoͤdie. Es hat viele Poeten gegeben, die in allem andern Zubehoͤr des Trauer-Spiels, in den Charactern, in dem Ausdrucke, in den Affecten ꝛc. gluͤcklich geweſen: Aber in der Fabel iſt es ſehr wenigen gelungen. Das macht, daß dieſelbe eine dreyfache Einheit haben muß, wenn ich ſo reden darf: die Einheit der Handlung, der Zeit, und des Ortes.
Die gantze Fabel hat nur eine Haupt-Abſicht: nehm- lich einen moraliſchen Satz; alſo muß ſie auch nur eine Haupt-Handlung haben, um derentwegen alles uͤbrige vor- gehet. Die Neben-Handlungen aber, die zur Ausfuͤh- rung der Haupt-Handlung gehoͤren, koͤnnen gar wohl andre moraliſche Wahrheiten in ſich ſchlieſſen: wie zum Exempel im Oedipus die Erfuͤllung der Orackel, daruͤber Jocaſta vor- her geſpottet hatte; die Lehre giebt: daß die goͤttliche Allwiſ- ſenheit nicht fehlen koͤnne. Alle Stuͤcke ſind alſo tadelhafft und verwerflich, die aus zwoen Handlungen beſtehen, davon keine die vornehmſte iſt. Jch habe dergleichen im Jahr 1717. am Reformations-Feſte in einer Schul-Comoͤdie vor- ſtellen geſehen, wo der Jnnhalt der Eneis Virgilii, und die Reformation Lutheri zugleich vorgeſtellet wurde. Jn einer Scene war ein Trojaner, in der andern der Ablaß-Kraͤmer Tetzel zu ſehen. Bald handelte Eneas von der Stifftung des Roͤmiſchen Reichs, bald kam Lutherus und reinigte die Kirche. Bald war Dido, bald die Babyloniſche Hure zu ſehen u. ſ. w. Und dieſe beyde ſo verſchiedene Handlungen hiengen nicht anders zuſammen, als durch eine luſtige Perſon, die zwiſchen ſolchen Scenen auftrat, und Z. E. den auf der See beſtuͤrmten Eneas mit dem in Gefahr ſchwebenden Kir- chen-Schiffiein verglich. Das iſt nun ein ſehr handgreifli- cher Fehler, wo zwey ſo verſchiedene Dinge zugleich geſpielet werden. Allein die andern, ſo etwas unmercklicher ſind, ver- dienen deswegen keine Entſchuldigung.
Die Einheit der Zeit iſt das andre, ſo in der Tragoͤdie unentbehrlich iſt. Die Fabel eines Helden-Gedichtes kan viel Monate dauren, wie oben gewieſen worden: das macht,
ſie
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Von Tragoͤdien oder Trauerſpielen.
Dieſe Fabel nun zu erdichten, ſie recht wahrſcheinlich
einzurichten, und wohl auszufuͤhren, das iſt das allerſchwerſte
in einer Tragoͤdie. Es hat viele Poeten gegeben, die in allem
andern Zubehoͤr des Trauer-Spiels, in den Charactern, in
dem Ausdrucke, in den Affecten ꝛc. gluͤcklich geweſen: Aber
in der Fabel iſt es ſehr wenigen gelungen. Das macht, daß
dieſelbe eine dreyfache Einheit haben muß, wenn ich ſo reden
darf: die Einheit der Handlung, der Zeit, und des Ortes.
Die gantze Fabel hat nur eine Haupt-Abſicht: nehm-
lich einen moraliſchen Satz; alſo muß ſie auch nur eine
Haupt-Handlung haben, um derentwegen alles uͤbrige vor-
gehet. Die Neben-Handlungen aber, die zur Ausfuͤh-
rung der Haupt-Handlung gehoͤren, koͤnnen gar wohl andre
moraliſche Wahrheiten in ſich ſchlieſſen: wie zum Exempel
im Oedipus die Erfuͤllung der Orackel, daruͤber Jocaſta vor-
her geſpottet hatte; die Lehre giebt: daß die goͤttliche Allwiſ-
ſenheit nicht fehlen koͤnne. Alle Stuͤcke ſind alſo tadelhafft
und verwerflich, die aus zwoen Handlungen beſtehen, davon
keine die vornehmſte iſt. Jch habe dergleichen im Jahr 1717.
am Reformations-Feſte in einer Schul-Comoͤdie vor-
ſtellen geſehen, wo der Jnnhalt der Eneis Virgilii, und die
Reformation Lutheri zugleich vorgeſtellet wurde. Jn einer
Scene war ein Trojaner, in der andern der Ablaß-Kraͤmer
Tetzel zu ſehen. Bald handelte Eneas von der Stifftung
des Roͤmiſchen Reichs, bald kam Lutherus und reinigte die
Kirche. Bald war Dido, bald die Babyloniſche Hure zu
ſehen u. ſ. w. Und dieſe beyde ſo verſchiedene Handlungen
hiengen nicht anders zuſammen, als durch eine luſtige Perſon,
die zwiſchen ſolchen Scenen auftrat, und Z. E. den auf der
See beſtuͤrmten Eneas mit dem in Gefahr ſchwebenden Kir-
chen-Schiffiein verglich. Das iſt nun ein ſehr handgreifli-
cher Fehler, wo zwey ſo verſchiedene Dinge zugleich geſpielet
werden. Allein die andern, ſo etwas unmercklicher ſind, ver-
dienen deswegen keine Entſchuldigung.
Die Einheit der Zeit iſt das andre, ſo in der Tragoͤdie
unentbehrlich iſt. Die Fabel eines Helden-Gedichtes kan
viel Monate dauren, wie oben gewieſen worden: das macht,
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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 573. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/601>, abgerufen am 22.11.2024.
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