Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

Bild:
<< vorherige Seite

Des II Theils X Capitel
bern der Music zu gefallen, alles durchgehends musicalisch
vorstellen lässet; aber dabey gantz und gar von der Natur ab-
gehet, und die gantze Wahrscheinlichkeit aufhebet.

Endlich und zuletzt müssen wir noch von den Maschinen
und andern Zierrathen der Schaubühne handeln. Durch
Maschinen versteht man die Erscheinungen der Götter, die
vom Himmel herunter kommen. Weil die Tragödie mensch-
liche, nicht aber göttliche Handlungen nachahmet: so kan
auch die Hauptperson niemahls eine Gottheit seyn. Weil
aber der Held zuweilen in solche Umstände gerathen kan; daß
er eines sichtbaren göttlichen Beystandes benöthiget ist: So
kan freylich wohl der Poet sich der Maschinen zuweilen bedie-
nen, seiner Fabel dadurch auszuhelfen. Allein er muß frey-
lich wohl zusehen, daß dieses wahrscheinlich heraus komme.
Die Erscheinungen der Götter in neuern Zeiten kommen uns
sehr unglaublich vor, weil wir selbst dergleichen nie gesehen,
und uns nicht einbilden können, daß es vor hundert oder zwey-
hundert Jahren anders gewesen seyn solle. Aber aus der al-
ten fabelhafften Zeit, sind wir es längst gewohnt, von Erschei-
nungen zu hören: und also nimmt es uns nicht Wunder,
wenn wir davon lesen. Wenn also Perseus etwa die An-
dromeda erlösen; oder Diana zum Endimion in die Höle des
Berges Latmos kommen; oder die drey Göttinnen dem Pa-
ris erscheinen sollten, u. d. g. so müsten wir schon die Götter
auf der Schaubühne vor nöthig ansehen, und sie nach ihrer
Art kleiden und characterisiren. Aber wer solches allezeit
und ohne die gröste Nothwendigkeit thun wollte; der würde
wieder die Regel Horatii handeln:

Nec Deus intersit, nisi dignus vindice nodus
Inciderit.

Es ist nehmlich keine Kunst, durch einen unmittelbaren Bey-
stand des Himmels und durch Wunderwercke, eine Fabel
glücklich auszuführen: Daher haben sich auch die berühmte-
sten Tragödienschreiber unter den Alten dieses Kunststückes
selten bedienet.

Eben dahin gehören auch die Zaubereyen, welche man
die Maschinen der neuern Zeiten nennen könnte. Sie schi-

cken

Des II Theils X Capitel
bern der Muſic zu gefallen, alles durchgehends muſicaliſch
vorſtellen laͤſſet; aber dabey gantz und gar von der Natur ab-
gehet, und die gantze Wahrſcheinlichkeit aufhebet.

Endlich und zuletzt muͤſſen wir noch von den Maſchinen
und andern Zierrathen der Schaubuͤhne handeln. Durch
Maſchinen verſteht man die Erſcheinungen der Goͤtter, die
vom Himmel herunter kommen. Weil die Tragoͤdie menſch-
liche, nicht aber goͤttliche Handlungen nachahmet: ſo kan
auch die Hauptperſon niemahls eine Gottheit ſeyn. Weil
aber der Held zuweilen in ſolche Umſtaͤnde gerathen kan; daß
er eines ſichtbaren goͤttlichen Beyſtandes benoͤthiget iſt: So
kan freylich wohl der Poet ſich der Maſchinen zuweilen bedie-
nen, ſeiner Fabel dadurch auszuhelfen. Allein er muß frey-
lich wohl zuſehen, daß dieſes wahrſcheinlich heraus komme.
Die Erſcheinungen der Goͤtter in neuern Zeiten kommen uns
ſehr unglaublich vor, weil wir ſelbſt dergleichen nie geſehen,
und uns nicht einbilden koͤnnen, daß es vor hundert oder zwey-
hundert Jahren anders geweſen ſeyn ſolle. Aber aus der al-
ten fabelhafften Zeit, ſind wir es laͤngſt gewohnt, von Erſchei-
nungen zu hoͤren: und alſo nimmt es uns nicht Wunder,
wenn wir davon leſen. Wenn alſo Perſeus etwa die An-
dromeda erloͤſen; oder Diana zum Endimion in die Hoͤle des
Berges Latmos kommen; oder die drey Goͤttinnen dem Pa-
ris erſcheinen ſollten, u. d. g. ſo muͤſten wir ſchon die Goͤtter
auf der Schaubuͤhne vor noͤthig anſehen, und ſie nach ihrer
Art kleiden und characteriſiren. Aber wer ſolches allezeit
und ohne die groͤſte Nothwendigkeit thun wollte; der wuͤrde
wieder die Regel Horatii handeln:

Nec Deus interſit, niſi dignus vindice nodus
Inciderit.

Es iſt nehmlich keine Kunſt, durch einen unmittelbaren Bey-
ſtand des Himmels und durch Wunderwercke, eine Fabel
gluͤcklich auszufuͤhren: Daher haben ſich auch die beruͤhmte-
ſten Tragoͤdienſchreiber unter den Alten dieſes Kunſtſtuͤckes
ſelten bedienet.

Eben dahin gehoͤren auch die Zaubereyen, welche man
die Maſchinen der neuern Zeiten nennen koͤnnte. Sie ſchi-

cken
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0610" n="582"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Des <hi rendition="#aq">II</hi> Theils <hi rendition="#aq">X</hi> Capitel</hi></fw><lb/>
bern der Mu&#x017F;ic zu gefallen, alles durchgehends mu&#x017F;icali&#x017F;ch<lb/>
vor&#x017F;tellen la&#x0364;&#x017F;&#x017F;et; aber dabey gantz und gar von der Natur ab-<lb/>
gehet, und die gantze Wahr&#x017F;cheinlichkeit aufhebet.</p><lb/>
          <p>Endlich und zuletzt mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en wir noch von den Ma&#x017F;chinen<lb/>
und andern Zierrathen der Schaubu&#x0364;hne handeln. Durch<lb/>
Ma&#x017F;chinen ver&#x017F;teht man die Er&#x017F;cheinungen der Go&#x0364;tter, die<lb/>
vom Himmel herunter kommen. Weil die Trago&#x0364;die men&#x017F;ch-<lb/>
liche, nicht aber go&#x0364;ttliche Handlungen nachahmet: &#x017F;o kan<lb/>
auch die Hauptper&#x017F;on niemahls eine Gottheit &#x017F;eyn. Weil<lb/>
aber der Held zuweilen in &#x017F;olche Um&#x017F;ta&#x0364;nde gerathen kan; daß<lb/>
er eines &#x017F;ichtbaren go&#x0364;ttlichen Bey&#x017F;tandes beno&#x0364;thiget i&#x017F;t: So<lb/>
kan freylich wohl der Poet &#x017F;ich der Ma&#x017F;chinen zuweilen bedie-<lb/>
nen, &#x017F;einer Fabel dadurch auszuhelfen. Allein er muß frey-<lb/>
lich wohl zu&#x017F;ehen, daß die&#x017F;es wahr&#x017F;cheinlich heraus komme.<lb/>
Die Er&#x017F;cheinungen der Go&#x0364;tter in neuern Zeiten kommen uns<lb/>
&#x017F;ehr unglaublich vor, weil wir &#x017F;elb&#x017F;t dergleichen nie ge&#x017F;ehen,<lb/>
und uns nicht einbilden ko&#x0364;nnen, daß es vor hundert oder zwey-<lb/>
hundert Jahren anders gewe&#x017F;en &#x017F;eyn &#x017F;olle. Aber aus der al-<lb/>
ten fabelhafften Zeit, &#x017F;ind wir es la&#x0364;ng&#x017F;t gewohnt, von Er&#x017F;chei-<lb/>
nungen zu ho&#x0364;ren: und al&#x017F;o nimmt es uns nicht Wunder,<lb/>
wenn wir davon le&#x017F;en. Wenn al&#x017F;o Per&#x017F;eus etwa die An-<lb/>
dromeda erlo&#x0364;&#x017F;en; oder Diana zum Endimion in die Ho&#x0364;le des<lb/>
Berges Latmos kommen; oder die drey Go&#x0364;ttinnen dem Pa-<lb/>
ris er&#x017F;cheinen &#x017F;ollten, u. d. g. &#x017F;o mu&#x0364;&#x017F;ten wir &#x017F;chon die Go&#x0364;tter<lb/>
auf der Schaubu&#x0364;hne vor no&#x0364;thig an&#x017F;ehen, und &#x017F;ie nach ihrer<lb/>
Art kleiden und characteri&#x017F;iren. Aber wer &#x017F;olches allezeit<lb/>
und ohne die gro&#x0364;&#x017F;te Nothwendigkeit thun wollte; der wu&#x0364;rde<lb/>
wieder die Regel Horatii handeln:</p><lb/>
          <cit>
            <quote> <hi rendition="#aq">Nec Deus inter&#x017F;it, ni&#x017F;i dignus vindice nodus<lb/>
Inciderit.</hi> </quote>
          </cit><lb/>
          <p>Es i&#x017F;t nehmlich keine Kun&#x017F;t, durch einen unmittelbaren Bey-<lb/>
&#x017F;tand des Himmels und durch Wunderwercke, eine Fabel<lb/>
glu&#x0364;cklich auszufu&#x0364;hren: Daher haben &#x017F;ich auch die beru&#x0364;hmte-<lb/>
&#x017F;ten Trago&#x0364;dien&#x017F;chreiber unter den Alten die&#x017F;es Kun&#x017F;t&#x017F;tu&#x0364;ckes<lb/>
&#x017F;elten bedienet.</p><lb/>
          <p>Eben dahin geho&#x0364;ren auch die Zaubereyen, welche man<lb/>
die Ma&#x017F;chinen der neuern Zeiten nennen ko&#x0364;nnte. Sie &#x017F;chi-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">cken</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[582/0610] Des II Theils X Capitel bern der Muſic zu gefallen, alles durchgehends muſicaliſch vorſtellen laͤſſet; aber dabey gantz und gar von der Natur ab- gehet, und die gantze Wahrſcheinlichkeit aufhebet. Endlich und zuletzt muͤſſen wir noch von den Maſchinen und andern Zierrathen der Schaubuͤhne handeln. Durch Maſchinen verſteht man die Erſcheinungen der Goͤtter, die vom Himmel herunter kommen. Weil die Tragoͤdie menſch- liche, nicht aber goͤttliche Handlungen nachahmet: ſo kan auch die Hauptperſon niemahls eine Gottheit ſeyn. Weil aber der Held zuweilen in ſolche Umſtaͤnde gerathen kan; daß er eines ſichtbaren goͤttlichen Beyſtandes benoͤthiget iſt: So kan freylich wohl der Poet ſich der Maſchinen zuweilen bedie- nen, ſeiner Fabel dadurch auszuhelfen. Allein er muß frey- lich wohl zuſehen, daß dieſes wahrſcheinlich heraus komme. Die Erſcheinungen der Goͤtter in neuern Zeiten kommen uns ſehr unglaublich vor, weil wir ſelbſt dergleichen nie geſehen, und uns nicht einbilden koͤnnen, daß es vor hundert oder zwey- hundert Jahren anders geweſen ſeyn ſolle. Aber aus der al- ten fabelhafften Zeit, ſind wir es laͤngſt gewohnt, von Erſchei- nungen zu hoͤren: und alſo nimmt es uns nicht Wunder, wenn wir davon leſen. Wenn alſo Perſeus etwa die An- dromeda erloͤſen; oder Diana zum Endimion in die Hoͤle des Berges Latmos kommen; oder die drey Goͤttinnen dem Pa- ris erſcheinen ſollten, u. d. g. ſo muͤſten wir ſchon die Goͤtter auf der Schaubuͤhne vor noͤthig anſehen, und ſie nach ihrer Art kleiden und characteriſiren. Aber wer ſolches allezeit und ohne die groͤſte Nothwendigkeit thun wollte; der wuͤrde wieder die Regel Horatii handeln: Nec Deus interſit, niſi dignus vindice nodus Inciderit. Es iſt nehmlich keine Kunſt, durch einen unmittelbaren Bey- ſtand des Himmels und durch Wunderwercke, eine Fabel gluͤcklich auszufuͤhren: Daher haben ſich auch die beruͤhmte- ſten Tragoͤdienſchreiber unter den Alten dieſes Kunſtſtuͤckes ſelten bedienet. Eben dahin gehoͤren auch die Zaubereyen, welche man die Maſchinen der neuern Zeiten nennen koͤnnte. Sie ſchi- cken

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/610
Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 582. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/610>, abgerufen am 23.11.2024.