Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

Bild:
<< vorherige Seite

Von Tragödien oder Trauerspielen.
cken sich vor unsre aufgeklärte Zeiten nicht mehr, weil sie fast
niemand mehr glaubt: Also enthält sich ein Poet mit gutem
Grunde solcher Vorstellungen, die nicht mehr wahrscheinlich
sind, und nur in der ernsthafftesten Sache ein Gelächter er-
wecken würden.

Einen bessern Zierrath geben die Veränderungen der
Schaubühne ab, dadurch dieselbe allemahl denjenigen Ort
vorstellig macht, wo das gantze Stück vorgegangen seyn soll.
Dieser muß nun zwar die gantze Tragödie hindurch einerley
bleiben: Allein in verschiedenen Trauerspielen muß sich bald
eine Straße der Stadt, ein königlich Zimmer, ein Feldlager,
ein Wald, ein Dorf, ein Garten, u. s. w. vorstellen. Doch
dieses geht den Poeten nicht weiter an, als in soweit er sagt,
wo der Schauplatz des Stückes gewesen, darnach sich der
Theatern-Meister hernach richten muß.

Eben das ist von den Kleidungen zu sagen. Hier sollen
von rechtswegen die Personen bald in Römischer, bald in Grie-
chischer, bald in Persianischer, bald in Spanischer, bald in
altdeutscher Tracht auf der Schaubühne erscheinen; und die-
selbe so natürlich nachahmen als es möglich ist. Je näher
man es darinn der Vollkommenheit bringet, desto größer
wird die Wahrscheinlichkeit, und destomehr wird das Auge
der Zuschauer vergnüget. Daher ist es lächerlich, wenn wir
die Römischen Bürger in Soldaten-Kleidern mit Degen an
der Seite vorstellen: da sie doch lange weite Kleider von
weißer Farbe, trugen. Noch seltsamer aber ist es, wenn
man ihnen gar Staats-Perrücken und Hüte mit Federn auf-
setzet, u. d. gl. Hier muß ein verständiger Aufseher der
Schaubühne sich in den Alterthümern umgesehen haben; und
die Trachten aller Nationen in Bildern ausstudiren, die er
aufzuführen willens ist.

Endlich kommt der Vortrag selbst, das ist die Ausspra-
che und die Geberden der spielenden Personen. Hierauf
kommt in der Vorstellung eines Trauer-Spieles fast alles
an. Das beste Stück wird lächerlich, wenn es schlecht und
kaltsinnig hergesagt wird: hergegen das elendeste Zeug zu-
weilen erträglich, wenn eine gute Aussprache ihm zu statten

kommt.
O o 4

Von Tragoͤdien oder Trauerſpielen.
cken ſich vor unſre aufgeklaͤrte Zeiten nicht mehr, weil ſie faſt
niemand mehr glaubt: Alſo enthaͤlt ſich ein Poet mit gutem
Grunde ſolcher Vorſtellungen, die nicht mehr wahrſcheinlich
ſind, und nur in der ernſthaffteſten Sache ein Gelaͤchter er-
wecken wuͤrden.

Einen beſſern Zierrath geben die Veraͤnderungen der
Schaubuͤhne ab, dadurch dieſelbe allemahl denjenigen Ort
vorſtellig macht, wo das gantze Stuͤck vorgegangen ſeyn ſoll.
Dieſer muß nun zwar die gantze Tragoͤdie hindurch einerley
bleiben: Allein in verſchiedenen Trauerſpielen muß ſich bald
eine Straße der Stadt, ein koͤniglich Zimmer, ein Feldlager,
ein Wald, ein Dorf, ein Garten, u. ſ. w. vorſtellen. Doch
dieſes geht den Poeten nicht weiter an, als in ſoweit er ſagt,
wo der Schauplatz des Stuͤckes geweſen, darnach ſich der
Theatern-Meiſter hernach richten muß.

Eben das iſt von den Kleidungen zu ſagen. Hier ſollen
von rechtswegen die Perſonen bald in Roͤmiſcher, bald in Grie-
chiſcher, bald in Perſianiſcher, bald in Spaniſcher, bald in
altdeutſcher Tracht auf der Schaubuͤhne erſcheinen; und die-
ſelbe ſo natuͤrlich nachahmen als es moͤglich iſt. Je naͤher
man es darinn der Vollkommenheit bringet, deſto groͤßer
wird die Wahrſcheinlichkeit, und deſtomehr wird das Auge
der Zuſchauer vergnuͤget. Daher iſt es laͤcherlich, wenn wir
die Roͤmiſchen Buͤrger in Soldaten-Kleidern mit Degen an
der Seite vorſtellen: da ſie doch lange weite Kleider von
weißer Farbe, trugen. Noch ſeltſamer aber iſt es, wenn
man ihnen gar Staats-Perruͤcken und Huͤte mit Federn auf-
ſetzet, u. d. gl. Hier muß ein verſtaͤndiger Aufſeher der
Schaubuͤhne ſich in den Alterthuͤmern umgeſehen haben; und
die Trachten aller Nationen in Bildern ausſtudiren, die er
aufzufuͤhren willens iſt.

Endlich kommt der Vortrag ſelbſt, das iſt die Ausſpra-
che und die Geberden der ſpielenden Perſonen. Hierauf
kommt in der Vorſtellung eines Trauer-Spieles faſt alles
an. Das beſte Stuͤck wird laͤcherlich, wenn es ſchlecht und
kaltſinnig hergeſagt wird: hergegen das elendeſte Zeug zu-
weilen ertraͤglich, wenn eine gute Ausſprache ihm zu ſtatten

kommt.
O o 4
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0611" n="583"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Von Trago&#x0364;dien oder Trauer&#x017F;pielen.</hi></fw><lb/>
cken &#x017F;ich vor un&#x017F;re aufgekla&#x0364;rte Zeiten nicht mehr, weil &#x017F;ie fa&#x017F;t<lb/>
niemand mehr glaubt: Al&#x017F;o entha&#x0364;lt &#x017F;ich ein Poet mit gutem<lb/>
Grunde &#x017F;olcher Vor&#x017F;tellungen, die nicht mehr wahr&#x017F;cheinlich<lb/>
&#x017F;ind, und nur in der ern&#x017F;thaffte&#x017F;ten Sache ein Gela&#x0364;chter er-<lb/>
wecken wu&#x0364;rden.</p><lb/>
          <p>Einen be&#x017F;&#x017F;ern Zierrath geben die Vera&#x0364;nderungen der<lb/>
Schaubu&#x0364;hne ab, dadurch die&#x017F;elbe allemahl denjenigen Ort<lb/>
vor&#x017F;tellig macht, wo das gantze Stu&#x0364;ck vorgegangen &#x017F;eyn &#x017F;oll.<lb/>
Die&#x017F;er muß nun zwar die gantze Trago&#x0364;die hindurch einerley<lb/>
bleiben: Allein in ver&#x017F;chiedenen Trauer&#x017F;pielen muß &#x017F;ich bald<lb/>
eine Straße der Stadt, ein ko&#x0364;niglich Zimmer, ein Feldlager,<lb/>
ein Wald, ein Dorf, ein Garten, u. &#x017F;. w. vor&#x017F;tellen. Doch<lb/>
die&#x017F;es geht den Poeten nicht weiter an, als in &#x017F;oweit er &#x017F;agt,<lb/>
wo der Schauplatz des Stu&#x0364;ckes gewe&#x017F;en, darnach &#x017F;ich der<lb/>
Theatern-Mei&#x017F;ter hernach richten muß.</p><lb/>
          <p>Eben das i&#x017F;t von den Kleidungen zu &#x017F;agen. Hier &#x017F;ollen<lb/>
von rechtswegen die Per&#x017F;onen bald in Ro&#x0364;mi&#x017F;cher, bald in Grie-<lb/>
chi&#x017F;cher, bald in Per&#x017F;iani&#x017F;cher, bald in Spani&#x017F;cher, bald in<lb/>
altdeut&#x017F;cher Tracht auf der Schaubu&#x0364;hne er&#x017F;cheinen; und die-<lb/>
&#x017F;elbe &#x017F;o natu&#x0364;rlich nachahmen als es mo&#x0364;glich i&#x017F;t. Je na&#x0364;her<lb/>
man es darinn der Vollkommenheit bringet, de&#x017F;to gro&#x0364;ßer<lb/>
wird die Wahr&#x017F;cheinlichkeit, und de&#x017F;tomehr wird das Auge<lb/>
der Zu&#x017F;chauer vergnu&#x0364;get. Daher i&#x017F;t es la&#x0364;cherlich, wenn wir<lb/>
die Ro&#x0364;mi&#x017F;chen Bu&#x0364;rger in Soldaten-Kleidern mit Degen an<lb/>
der Seite vor&#x017F;tellen: da &#x017F;ie doch lange weite Kleider von<lb/>
weißer Farbe, trugen. Noch &#x017F;elt&#x017F;amer aber i&#x017F;t es, wenn<lb/>
man ihnen gar Staats-Perru&#x0364;cken und Hu&#x0364;te mit Federn auf-<lb/>
&#x017F;etzet, u. d. gl. Hier muß ein ver&#x017F;ta&#x0364;ndiger Auf&#x017F;eher der<lb/>
Schaubu&#x0364;hne &#x017F;ich in den Alterthu&#x0364;mern umge&#x017F;ehen haben; und<lb/>
die Trachten aller Nationen in Bildern aus&#x017F;tudiren, die er<lb/>
aufzufu&#x0364;hren willens i&#x017F;t.</p><lb/>
          <p>Endlich kommt der Vortrag &#x017F;elb&#x017F;t, das i&#x017F;t die Aus&#x017F;pra-<lb/>
che und die Geberden der &#x017F;pielenden Per&#x017F;onen. Hierauf<lb/>
kommt in der Vor&#x017F;tellung eines Trauer-Spieles fa&#x017F;t alles<lb/>
an. Das be&#x017F;te Stu&#x0364;ck wird la&#x0364;cherlich, wenn es &#x017F;chlecht und<lb/>
kalt&#x017F;innig herge&#x017F;agt wird: hergegen das elende&#x017F;te Zeug zu-<lb/>
weilen ertra&#x0364;glich, wenn eine gute Aus&#x017F;prache ihm zu &#x017F;tatten<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">O o 4</fw><fw place="bottom" type="catch">kommt.</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[583/0611] Von Tragoͤdien oder Trauerſpielen. cken ſich vor unſre aufgeklaͤrte Zeiten nicht mehr, weil ſie faſt niemand mehr glaubt: Alſo enthaͤlt ſich ein Poet mit gutem Grunde ſolcher Vorſtellungen, die nicht mehr wahrſcheinlich ſind, und nur in der ernſthaffteſten Sache ein Gelaͤchter er- wecken wuͤrden. Einen beſſern Zierrath geben die Veraͤnderungen der Schaubuͤhne ab, dadurch dieſelbe allemahl denjenigen Ort vorſtellig macht, wo das gantze Stuͤck vorgegangen ſeyn ſoll. Dieſer muß nun zwar die gantze Tragoͤdie hindurch einerley bleiben: Allein in verſchiedenen Trauerſpielen muß ſich bald eine Straße der Stadt, ein koͤniglich Zimmer, ein Feldlager, ein Wald, ein Dorf, ein Garten, u. ſ. w. vorſtellen. Doch dieſes geht den Poeten nicht weiter an, als in ſoweit er ſagt, wo der Schauplatz des Stuͤckes geweſen, darnach ſich der Theatern-Meiſter hernach richten muß. Eben das iſt von den Kleidungen zu ſagen. Hier ſollen von rechtswegen die Perſonen bald in Roͤmiſcher, bald in Grie- chiſcher, bald in Perſianiſcher, bald in Spaniſcher, bald in altdeutſcher Tracht auf der Schaubuͤhne erſcheinen; und die- ſelbe ſo natuͤrlich nachahmen als es moͤglich iſt. Je naͤher man es darinn der Vollkommenheit bringet, deſto groͤßer wird die Wahrſcheinlichkeit, und deſtomehr wird das Auge der Zuſchauer vergnuͤget. Daher iſt es laͤcherlich, wenn wir die Roͤmiſchen Buͤrger in Soldaten-Kleidern mit Degen an der Seite vorſtellen: da ſie doch lange weite Kleider von weißer Farbe, trugen. Noch ſeltſamer aber iſt es, wenn man ihnen gar Staats-Perruͤcken und Huͤte mit Federn auf- ſetzet, u. d. gl. Hier muß ein verſtaͤndiger Aufſeher der Schaubuͤhne ſich in den Alterthuͤmern umgeſehen haben; und die Trachten aller Nationen in Bildern ausſtudiren, die er aufzufuͤhren willens iſt. Endlich kommt der Vortrag ſelbſt, das iſt die Ausſpra- che und die Geberden der ſpielenden Perſonen. Hierauf kommt in der Vorſtellung eines Trauer-Spieles faſt alles an. Das beſte Stuͤck wird laͤcherlich, wenn es ſchlecht und kaltſinnig hergeſagt wird: hergegen das elendeſte Zeug zu- weilen ertraͤglich, wenn eine gute Ausſprache ihm zu ſtatten kommt. O o 4

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/611
Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 583. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/611>, abgerufen am 24.11.2024.