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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Von Comödien oder Lustspielen.
sischen Advocaten lächerlich, die in ihren Klag- und Schutzre-
den eine übel angebrachte Gelehrsamkeit zeigen wollen. Die-
ses ist nun das wahre Belustigende in der Comödie. Allein
kleine Geister, die keine Einsicht in die Moral besitzen, und das
ungereimte Wesen in den menschlichen Handlungen weder
wahrnehmen noch satirisch vorstellen können, haben sich auf
eine andre Art zu helfen gesucht. Sie haben das Lächerliche
nicht in den Sachen, sondern in Worten und Geberden zu fin-
den gemeynet. Daher hat Harleckin und Scaramutz die
Hauptperson ihrer Lustspiele werden müssen. Diese müssen
durch närrische Kleider, wunderliche Posituren und garstige
Fratzen, den Pöbel zum Gelächter reitzen. Von diesem allen
haben die Alten nichts gewust; und es gehört mit unter die
phantastischen Erfindungen der Jtaliener, die jemand in der
Vorrede zu einer französischen Comödie, Harlequin aux
champs Elisees,
verspottet hat. Terentz hat seine Comödien
ohne eine lustige Person lächerlich genug zu machen gewust,
und ein Poet setzet sich also in den Verdacht, als verstünde er
sein Handwerck, das ist, die Satire nicht: wenn er ohne die
Beyhülfe eines unflätigen Possenreißers nichts lustiges auf die
Schaubühne bringen kan. Boileau hat diese schmutzige Zo-
ten seinen Schülern ernstlich untersagt; und den Moliere
selbst nicht geschont, der sich auch offt dem Pöbel in diesem
Stücke bequemet hat.

Etudiez la Cour, & connoissez la Ville
L'une & l'autre est toujours en modeles fertile.
C'est par la que Moliere, illustrant ses ecrits,
Peut-etre de son art eut remporte le prix;
Si moins ami du peuple, en ses doctes peintures,
Il n'eut point fait souvent grimacer les figures;
Quitte pour le bouffon, l'agreable & le fin,
Et sans honte a Terence allie Tabarin.

Hieraus ist nun leicht zu schließen, was von dem Theatre de
la Foire,
wo lauter abgeschmacktes Zeug vorkommt, vor ein
Wercks zu machen sey; darüber ein Kluger entweder gar
nicht lacht; oder sich doch schämt, gelachet zu haben.

Maschinen müssen in Comödien nicht vorkommen: weil
die Götter sich in die thörichten Handlungen schlechter Leute

nicht
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Von Comoͤdien oder Luſtſpielen.
ſiſchen Advocaten laͤcherlich, die in ihren Klag- und Schutzre-
den eine uͤbel angebrachte Gelehrſamkeit zeigen wollen. Die-
ſes iſt nun das wahre Beluſtigende in der Comoͤdie. Allein
kleine Geiſter, die keine Einſicht in die Moral beſitzen, und das
ungereimte Weſen in den menſchlichen Handlungen weder
wahrnehmen noch ſatiriſch vorſtellen koͤnnen, haben ſich auf
eine andre Art zu helfen geſucht. Sie haben das Laͤcherliche
nicht in den Sachen, ſondern in Worten und Geberden zu fin-
den gemeynet. Daher hat Harleckin und Scaramutz die
Hauptperſon ihrer Luſtſpiele werden muͤſſen. Dieſe muͤſſen
durch naͤrriſche Kleider, wunderliche Poſituren und garſtige
Fratzen, den Poͤbel zum Gelaͤchter reitzen. Von dieſem allen
haben die Alten nichts gewuſt; und es gehoͤrt mit unter die
phantaſtiſchen Erfindungen der Jtaliener, die jemand in der
Vorrede zu einer franzoͤſiſchen Comoͤdie, Harlequin aux
champs Eliſées,
verſpottet hat. Terentz hat ſeine Comoͤdien
ohne eine luſtige Perſon laͤcherlich genug zu machen gewuſt,
und ein Poet ſetzet ſich alſo in den Verdacht, als verſtuͤnde er
ſein Handwerck, das iſt, die Satire nicht: wenn er ohne die
Beyhuͤlfe eines unflaͤtigen Poſſenreißers nichts luſtiges auf die
Schaubuͤhne bringen kan. Boileau hat dieſe ſchmutzige Zo-
ten ſeinen Schuͤlern ernſtlich unterſagt; und den Moliere
ſelbſt nicht geſchont, der ſich auch offt dem Poͤbel in dieſem
Stuͤcke bequemet hat.

Etudiez la Cour, & connoiſſez la Ville
L’une & l’autre eſt toujours en modéles fertile.
C’eſt par là que Moliere, illuſtrant ſes ecrits,
Peut-être de ſon art êut remporté le prix;
Si moins ami du peuple, en ſes doctes peintures,
Il n’eut point fait ſouvent grimacer les figures;
Quitté pour le bouffon, l’agreable & le fin,
Et ſans honte à Terence allié Tabarin.

Hieraus iſt nun leicht zu ſchließen, was von dem Theatre de
la Foire,
wo lauter abgeſchmacktes Zeug vorkommt, vor ein
Wercks zu machen ſey; daruͤber ein Kluger entweder gar
nicht lacht; oder ſich doch ſchaͤmt, gelachet zu haben.

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die Goͤtter ſich in die thoͤrichten Handlungen ſchlechter Leute

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[601/0629] Von Comoͤdien oder Luſtſpielen. ſiſchen Advocaten laͤcherlich, die in ihren Klag- und Schutzre- den eine uͤbel angebrachte Gelehrſamkeit zeigen wollen. Die- ſes iſt nun das wahre Beluſtigende in der Comoͤdie. Allein kleine Geiſter, die keine Einſicht in die Moral beſitzen, und das ungereimte Weſen in den menſchlichen Handlungen weder wahrnehmen noch ſatiriſch vorſtellen koͤnnen, haben ſich auf eine andre Art zu helfen geſucht. Sie haben das Laͤcherliche nicht in den Sachen, ſondern in Worten und Geberden zu fin- den gemeynet. Daher hat Harleckin und Scaramutz die Hauptperſon ihrer Luſtſpiele werden muͤſſen. Dieſe muͤſſen durch naͤrriſche Kleider, wunderliche Poſituren und garſtige Fratzen, den Poͤbel zum Gelaͤchter reitzen. Von dieſem allen haben die Alten nichts gewuſt; und es gehoͤrt mit unter die phantaſtiſchen Erfindungen der Jtaliener, die jemand in der Vorrede zu einer franzoͤſiſchen Comoͤdie, Harlequin aux champs Eliſées, verſpottet hat. Terentz hat ſeine Comoͤdien ohne eine luſtige Perſon laͤcherlich genug zu machen gewuſt, und ein Poet ſetzet ſich alſo in den Verdacht, als verſtuͤnde er ſein Handwerck, das iſt, die Satire nicht: wenn er ohne die Beyhuͤlfe eines unflaͤtigen Poſſenreißers nichts luſtiges auf die Schaubuͤhne bringen kan. Boileau hat dieſe ſchmutzige Zo- ten ſeinen Schuͤlern ernſtlich unterſagt; und den Moliere ſelbſt nicht geſchont, der ſich auch offt dem Poͤbel in dieſem Stuͤcke bequemet hat. Etudiez la Cour, & connoiſſez la Ville L’une & l’autre eſt toujours en modéles fertile. C’eſt par là que Moliere, illuſtrant ſes ecrits, Peut-être de ſon art êut remporté le prix; Si moins ami du peuple, en ſes doctes peintures, Il n’eut point fait ſouvent grimacer les figures; Quitté pour le bouffon, l’agreable & le fin, Et ſans honte à Terence allié Tabarin. Hieraus iſt nun leicht zu ſchließen, was von dem Theatre de la Foire, wo lauter abgeſchmacktes Zeug vorkommt, vor ein Wercks zu machen ſey; daruͤber ein Kluger entweder gar nicht lacht; oder ſich doch ſchaͤmt, gelachet zu haben. Maſchinen muͤſſen in Comoͤdien nicht vorkommen: weil die Goͤtter ſich in die thoͤrichten Handlungen ſchlechter Leute nicht P p 5

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 601. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/629>, abgerufen am 23.11.2024.