met. Wer sieht aber nicht, daß die Oper alle Fehler der oben beschriebenen Schau-Spiele zu ihren grösten Schön- heiten angenommen hat; und gantz und gar weg fallen, oder doch ihre fürnehmste Anmuth verliehren würde, wenn man sie davon befreyen wollte?
Einmahl ist es gewiß, daß die Handlungen und dazu ge- hörigen Fabeln, mit den alten Ritter-Büchern und Roma- nen mehr Aehnlichkeit haben; als mit der Natur, so wie wir sie vor Augen haben. Wir müssen uns einbilden, wir wären in einer andern Welt, wenn wir eine Oper in ihrem Zusam- menhange ansehen: So gar unnatürlich ist alles. Die Leu- te dencken, reden und handeln gantz anders, als man im ge- meinen Leben thut, und man würde vor närrisch angesehen werden, wenn man im geringsten Stücke so lebte, als es uns die Opern vorstellen. Sie sehen daher einer Zauberey viel ähn- licher, als der Wahrheit, welche Ordnung und einen zulängli- chen Grund in allen Stücken erfordert. Wo sieht man im gemeinen Leben Leute, die sich als Götter einander anbeten; Liebhaber, die auf den Knien vor ihrer Gebieterin liegen, und sich das Leben nehmen wollen; Printzen die in Gestalt der Scla- ven in weitentlegene Länder ziehen, weil sie sich in den bloßen Ruf von einer Schönheit verliebet hatten; Könige ihre Kro- nen um eines schönen Weibes halber verlassen, und was der- gleichen Phantasien mehr sind. Wo hört man die gewöhn- liche Oper-Sprache, von Sternen und Sonnen, von Fel- sen-Brüsten und Aetna-gleichen Hertzen, von verfluchten Geburts-Stunden um eines scheelen Blickes wegen, und grausamen Donner-Keilen des unerbittlichen Verhängnis- ses, welches eine verliebte Seele nur zu lauter Marter erkoh- ren hat? Alle diese Dinge sind uns so fremde, daß wir sie in keiner Reise-Beschreibung von Liliput vor erträglich halten würden: und gleichwohl sollen sie in der Opera schön seyn. Jch schweige noch von der seltsamen Vereinbarung der Mu- sic mit allen Worten der Redenden. Sie sprechen nicht mehr, wie es die Natur ihrer Kehle, die Gewohnheit des Landes, die Art der Gemüths-Bewegungen und der Sachen, davon ge- handelt wird, es erfordert: Sondern sie dehnen, erheben,
und
Von Opern oder Singſpielen.
met. Wer ſieht aber nicht, daß die Oper alle Fehler der oben beſchriebenen Schau-Spiele zu ihren groͤſten Schoͤn- heiten angenommen hat; und gantz und gar weg fallen, oder doch ihre fuͤrnehmſte Anmuth verliehren wuͤrde, wenn man ſie davon befreyen wollte?
Einmahl iſt es gewiß, daß die Handlungen und dazu ge- hoͤrigen Fabeln, mit den alten Ritter-Buͤchern und Roma- nen mehr Aehnlichkeit haben; als mit der Natur, ſo wie wir ſie vor Augen haben. Wir muͤſſen uns einbilden, wir waͤren in einer andern Welt, wenn wir eine Oper in ihrem Zuſam- menhange anſehen: So gar unnatuͤrlich iſt alles. Die Leu- te dencken, reden und handeln gantz anders, als man im ge- meinen Leben thut, und man wuͤrde vor naͤrriſch angeſehen werden, wenn man im geringſten Stuͤcke ſo lebte, als es uns die Opern vorſtellen. Sie ſehen daher einer Zauberey viel aͤhn- licher, als der Wahrheit, welche Ordnung und einen zulaͤngli- chen Grund in allen Stuͤcken erfordert. Wo ſieht man im gemeinen Leben Leute, die ſich als Goͤtter einander anbeten; Liebhaber, die auf den Knien vor ihrer Gebieterin liegen, und ſich das Leben nehmen wollen; Printzen die in Geſtalt der Scla- ven in weitentlegene Laͤnder ziehen, weil ſie ſich in den bloßen Ruf von einer Schoͤnheit verliebet hatten; Koͤnige ihre Kro- nen um eines ſchoͤnen Weibes halber verlaſſen, und was der- gleichen Phantaſien mehr ſind. Wo hoͤrt man die gewoͤhn- liche Oper-Sprache, von Sternen und Sonnen, von Fel- ſen-Bruͤſten und Aetna-gleichen Hertzen, von verfluchten Geburts-Stunden um eines ſcheelen Blickes wegen, und grauſamen Donner-Keilen des unerbittlichen Verhaͤngniſ- ſes, welches eine verliebte Seele nur zu lauter Marter erkoh- ren hat? Alle dieſe Dinge ſind uns ſo fremde, daß wir ſie in keiner Reiſe-Beſchreibung von Liliput vor ertraͤglich halten wuͤrden: und gleichwohl ſollen ſie in der Opera ſchoͤn ſeyn. Jch ſchweige noch von der ſeltſamen Vereinbarung der Mu- ſic mit allen Worten der Redenden. Sie ſprechen nicht mehr, wie es die Natur ihrer Kehle, die Gewohnheit des Landes, die Art der Gemuͤths-Bewegungen und der Sachen, davon ge- handelt wird, es erfordert: Sondern ſie dehnen, erheben,
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Von Opern oder Singſpielen.
met. Wer ſieht aber nicht, daß die Oper alle Fehler der
oben beſchriebenen Schau-Spiele zu ihren groͤſten Schoͤn-
heiten angenommen hat; und gantz und gar weg fallen, oder
doch ihre fuͤrnehmſte Anmuth verliehren wuͤrde, wenn man
ſie davon befreyen wollte?
Einmahl iſt es gewiß, daß die Handlungen und dazu ge-
hoͤrigen Fabeln, mit den alten Ritter-Buͤchern und Roma-
nen mehr Aehnlichkeit haben; als mit der Natur, ſo wie wir
ſie vor Augen haben. Wir muͤſſen uns einbilden, wir waͤren
in einer andern Welt, wenn wir eine Oper in ihrem Zuſam-
menhange anſehen: So gar unnatuͤrlich iſt alles. Die Leu-
te dencken, reden und handeln gantz anders, als man im ge-
meinen Leben thut, und man wuͤrde vor naͤrriſch angeſehen
werden, wenn man im geringſten Stuͤcke ſo lebte, als es uns die
Opern vorſtellen. Sie ſehen daher einer Zauberey viel aͤhn-
licher, als der Wahrheit, welche Ordnung und einen zulaͤngli-
chen Grund in allen Stuͤcken erfordert. Wo ſieht man im
gemeinen Leben Leute, die ſich als Goͤtter einander anbeten;
Liebhaber, die auf den Knien vor ihrer Gebieterin liegen, und
ſich das Leben nehmen wollen; Printzen die in Geſtalt der Scla-
ven in weitentlegene Laͤnder ziehen, weil ſie ſich in den bloßen
Ruf von einer Schoͤnheit verliebet hatten; Koͤnige ihre Kro-
nen um eines ſchoͤnen Weibes halber verlaſſen, und was der-
gleichen Phantaſien mehr ſind. Wo hoͤrt man die gewoͤhn-
liche Oper-Sprache, von Sternen und Sonnen, von Fel-
ſen-Bruͤſten und Aetna-gleichen Hertzen, von verfluchten
Geburts-Stunden um eines ſcheelen Blickes wegen, und
grauſamen Donner-Keilen des unerbittlichen Verhaͤngniſ-
ſes, welches eine verliebte Seele nur zu lauter Marter erkoh-
ren hat? Alle dieſe Dinge ſind uns ſo fremde, daß wir ſie in
keiner Reiſe-Beſchreibung von Liliput vor ertraͤglich halten
wuͤrden: und gleichwohl ſollen ſie in der Opera ſchoͤn ſeyn.
Jch ſchweige noch von der ſeltſamen Vereinbarung der Mu-
ſic mit allen Worten der Redenden. Sie ſprechen nicht mehr,
wie es die Natur ihrer Kehle, die Gewohnheit des Landes, die
Art der Gemuͤths-Bewegungen und der Sachen, davon ge-
handelt wird, es erfordert: Sondern ſie dehnen, erheben,
und
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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 605. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/633>, abgerufen am 24.11.2024.
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