Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.
Zwar Dichter fehlen auch: und man verzeiht es leicht, 490Jndem die Seyte doch nicht stets den Thon erreicht, Den Hand und Ohr verlangt. Es soll offt niedrig klingen. Doch lässt die Laute kaum den Mittel-Thon erzwingen. Ein Bogen trifft nicht stets, wornach er abgezielt. Allein wenn ein Poet dem Phöbus nachgespielt, 480 481 483 489 Und 480 Der Hexen, Lamiae. Die Alten glaubten einen König der Lestrigonier, Lamius, der Menschen-Fleisch fressen sollte. Daher dichtete man auch eine Köni- gin, Lamia, die da Kinder fressen muste. Die Römer machten nachmahls eine grausame Zauberin daraus, und schreckten ihre Kinder damit. Ohne Zweifel hatte etwa ein damahliger Poet eine solche Hexe auf die Bühne gebracht, und ihr das verzehrte Kind wieder lebendig aus dem Leibe reissen lassen. Das ist nun die un- glaublichste Sache von der Welt: so groß die Macht einer Hexe immermehr ange- nommen wird. Es ist eben so als wenn ein Mensch zum Hunde würde. 481 Die Aeltesten. Die ansehnlichsten Männer von reifem Verstande, und ernsthafftem Wesen, mögen kein Schauspiel sehen, darinn nichts kluges vorkommt. Kinderpossen und lauter lustige Schwencke schicken sich vor ihre Jahre nicht. Bey uns gehts eben so. So lange man lauter italienische Burlesquen aufführen wird, hat man keine ansehnliche Zuschauer zu hoffen. Man spiele aber ernsthaffte Trauer- spiele, so werden die vernünftigsten Männer sich in den Schauplatz dringen. 483 Der hohe Ritterstand. Celsi Rhamnes. Die Römer waren vom Ro- mulus in drey Classen getheilet worden, davon waren die Rhamnenser die ersten. Das Wort Celsi machts also, daß man nicht den römischen Pöbel, sondern den Adel dadurch versteht, da man sonst das gantze Volck dadurch verstehen könnte. Die Ritter und Edlen nun, mochten in Rom kein gar zu ernsthafftes Wesen gern hören, sondern liebten was lustiges; dergleichen die Comödien waren. Daher folgt, ein Poet müsse sich nach beyden richten. 489 Zwar Dichter fehlen auch. Poeten sind auch Menschen; daher können
sie leicht fehlen; und verdienen auch, daß man ihnen zuweilen etwas übersieht. Aber ihre Fehler müssen weder aus Unwissenheit, noch aus Nachläßigkeit herkom- men,
Zwar Dichter fehlen auch: und man verzeiht es leicht, 490Jndem die Seyte doch nicht ſtets den Thon erreicht, Den Hand und Ohr verlangt. Es ſoll offt niedrig klingen. Doch laͤſſt die Laute kaum den Mittel-Thon erzwingen. Ein Bogen trifft nicht ſtets, wornach er abgezielt. Allein wenn ein Poet dem Phoͤbus nachgeſpielt, 480 481 483 489 Und 480 Der Hexen, Lamiae. Die Alten glaubten einen Koͤnig der Leſtrigonier, Lamius, der Menſchen-Fleiſch freſſen ſollte. Daher dichtete man auch eine Koͤni- gin, Lamia, die da Kinder freſſen muſte. Die Roͤmer machten nachmahls eine grauſame Zauberin daraus, und ſchreckten ihre Kinder damit. Ohne Zweifel hatte etwa ein damahliger Poet eine ſolche Hexe auf die Buͤhne gebracht, und ihr das verzehrte Kind wieder lebendig aus dem Leibe reiſſen laſſen. Das iſt nun die un- glaublichſte Sache von der Welt: ſo groß die Macht einer Hexe immermehr ange- nommen wird. Es iſt eben ſo als wenn ein Menſch zum Hunde wuͤrde. 481 Die Aelteſten. Die anſehnlichſten Maͤnner von reifem Verſtande, und ernſthafftem Weſen, moͤgen kein Schauſpiel ſehen, darinn nichts kluges vorkommt. Kinderpoſſen und lauter luſtige Schwencke ſchicken ſich vor ihre Jahre nicht. Bey uns gehts eben ſo. So lange man lauter italieniſche Burlesquen auffuͤhren wird, hat man keine anſehnliche Zuſchauer zu hoffen. Man ſpiele aber ernſthaffte Trauer- ſpiele, ſo werden die vernuͤnftigſten Maͤnner ſich in den Schauplatz dringen. 483 Der hohe Ritterſtand. Celſi Rhamnes. Die Roͤmer waren vom Ro- mulus in drey Claſſen getheilet worden, davon waren die Rhamnenſer die erſten. Das Wort Celſi machts alſo, daß man nicht den roͤmiſchen Poͤbel, ſondern den Adel dadurch verſteht, da man ſonſt das gantze Volck dadurch verſtehen koͤnnte. Die Ritter und Edlen nun, mochten in Rom kein gar zu ernſthafftes Weſen gern hoͤren, ſondern liebten was luſtiges; dergleichen die Comoͤdien waren. Daher folgt, ein Poet muͤſſe ſich nach beyden richten. 489 Zwar Dichter fehlen auch. Poeten ſind auch Menſchen; daher koͤnnen
ſie leicht fehlen; und verdienen auch, daß man ihnen zuweilen etwas uͤberſieht. Aber ihre Fehler muͤſſen weder aus Unwiſſenheit, noch aus Nachlaͤßigkeit herkom- men, <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <lg type="poem"> <lg n="21"> <l> <pb facs="#f0070" n="42"/> <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">Horatius von der Dicht-Kunſt.</hi> </fw> </l><lb/> <l>Und fordre nicht von uns, daß man ihr alles glaͤube.<lb/><note place="left">480</note>Man reiſſe nicht das Kind der Hexen aus dem Leibe,</l><lb/> <l>Die es bereits verzehrt. Die aͤlteſten der Stadt,</l><lb/> <l>Verachten ein Gedicht, ſo nichts geſetztes hat.</l><lb/> <l>Der hohe Ritter-Stand mag lauter Ernſt nicht hoͤren.</l><lb/> <l>Der wird vollkommen ſeyn, der theils geſchickte Lehren,<lb/><note place="left">485</note>Und theils was liebliches, durch ſeinen Vers beſingt:</l><lb/> <l>Zum theil dem Leſer nuͤtzt, zum theil Ergoͤtzung bringt,</l><lb/> <l>Ein ſolch Gedicht geht ab, wird weit und breit verfuͤhret,</l><lb/> <l>Biß es dem Dichter gar Unſterblichkeit gebuͤhret.</l> </lg><lb/> <lg n="22"> <l>Zwar Dichter fehlen auch: und man verzeiht es leicht,<lb/><note place="left">490</note>Jndem die Seyte doch nicht ſtets den Thon erreicht,</l><lb/> <l>Den Hand und Ohr verlangt. Es ſoll offt niedrig klingen.</l><lb/> <l>Doch laͤſſt die Laute kaum den Mittel-Thon erzwingen.</l><lb/> <l>Ein Bogen trifft nicht ſtets, wornach er abgezielt.</l><lb/> <l>Allein wenn ein Poet dem Phoͤbus nachgeſpielt,<lb/> <fw place="bottom" type="catch">Und</fw><lb/><note place="foot" n="480"><hi rendition="#fr">Der Hexen,</hi><hi rendition="#aq">Lamiae.</hi> Die Alten glaubten einen Koͤnig der Leſtrigonier,<lb/> Lamius, der Menſchen-Fleiſch freſſen ſollte. Daher dichtete man auch eine Koͤni-<lb/> gin, Lamia, die da Kinder freſſen muſte. Die Roͤmer machten nachmahls eine<lb/> grauſame Zauberin daraus, und ſchreckten ihre Kinder damit. Ohne Zweifel hatte<lb/> etwa ein damahliger Poet eine ſolche Hexe auf die Buͤhne gebracht, und ihr das<lb/> verzehrte Kind wieder lebendig aus dem Leibe reiſſen laſſen. Das iſt nun die un-<lb/> glaublichſte Sache von der Welt: ſo groß die Macht einer Hexe immermehr ange-<lb/> nommen wird. Es iſt eben ſo als wenn ein Menſch zum Hunde wuͤrde.</note><lb/><note place="foot" n="481"><hi rendition="#fr">Die Aelteſten.</hi> Die anſehnlichſten Maͤnner von reifem Verſtande, und<lb/> ernſthafftem Weſen, moͤgen kein Schauſpiel ſehen, darinn nichts kluges vorkommt.<lb/> Kinderpoſſen und lauter luſtige Schwencke ſchicken ſich vor ihre Jahre nicht. Bey<lb/> uns gehts eben ſo. So lange man lauter italieniſche Burlesquen auffuͤhren wird,<lb/> hat man keine anſehnliche Zuſchauer zu hoffen. Man ſpiele aber ernſthaffte Trauer-<lb/> ſpiele, ſo werden die vernuͤnftigſten Maͤnner ſich in den Schauplatz dringen.</note><lb/><note place="foot" n="483"><hi rendition="#fr">Der hohe Ritterſtand.</hi><hi rendition="#aq">Celſi Rhamnes.</hi> Die Roͤmer waren vom Ro-<lb/> mulus in drey Claſſen getheilet worden, davon waren die Rhamnenſer die erſten.<lb/> Das Wort <hi rendition="#aq">Celſi</hi> machts alſo, daß man nicht den roͤmiſchen Poͤbel, ſondern den Adel<lb/> dadurch verſteht, da man ſonſt das gantze Volck dadurch verſtehen koͤnnte. Die<lb/> Ritter und Edlen nun, mochten in Rom kein gar zu ernſthafftes Weſen gern hoͤren,<lb/> ſondern liebten was luſtiges; dergleichen die Comoͤdien waren. Daher folgt, ein<lb/> Poet muͤſſe ſich nach beyden richten.</note><lb/><note xml:id="f35" next="#f36" place="foot" n="489"><hi rendition="#fr">Zwar Dichter fehlen auch.</hi> Poeten ſind auch Menſchen; daher koͤnnen<lb/> ſie leicht fehlen; und verdienen auch, daß man ihnen zuweilen etwas uͤberſieht.<lb/> Aber ihre Fehler muͤſſen weder aus Unwiſſenheit, noch aus Nachlaͤßigkeit herkom-<lb/> <fw place="bottom" type="catch">men,</fw></note><lb/></l> </lg> </lg> </div> </div> </body> </text> </TEI> [42/0070]
Horatius von der Dicht-Kunſt.
Und fordre nicht von uns, daß man ihr alles glaͤube.
Man reiſſe nicht das Kind der Hexen aus dem Leibe,
Die es bereits verzehrt. Die aͤlteſten der Stadt,
Verachten ein Gedicht, ſo nichts geſetztes hat.
Der hohe Ritter-Stand mag lauter Ernſt nicht hoͤren.
Der wird vollkommen ſeyn, der theils geſchickte Lehren,
Und theils was liebliches, durch ſeinen Vers beſingt:
Zum theil dem Leſer nuͤtzt, zum theil Ergoͤtzung bringt,
Ein ſolch Gedicht geht ab, wird weit und breit verfuͤhret,
Biß es dem Dichter gar Unſterblichkeit gebuͤhret.
Zwar Dichter fehlen auch: und man verzeiht es leicht,
Jndem die Seyte doch nicht ſtets den Thon erreicht,
Den Hand und Ohr verlangt. Es ſoll offt niedrig klingen.
Doch laͤſſt die Laute kaum den Mittel-Thon erzwingen.
Ein Bogen trifft nicht ſtets, wornach er abgezielt.
Allein wenn ein Poet dem Phoͤbus nachgeſpielt,
Und
480
481
483
489
480 Der Hexen, Lamiae. Die Alten glaubten einen Koͤnig der Leſtrigonier,
Lamius, der Menſchen-Fleiſch freſſen ſollte. Daher dichtete man auch eine Koͤni-
gin, Lamia, die da Kinder freſſen muſte. Die Roͤmer machten nachmahls eine
grauſame Zauberin daraus, und ſchreckten ihre Kinder damit. Ohne Zweifel hatte
etwa ein damahliger Poet eine ſolche Hexe auf die Buͤhne gebracht, und ihr das
verzehrte Kind wieder lebendig aus dem Leibe reiſſen laſſen. Das iſt nun die un-
glaublichſte Sache von der Welt: ſo groß die Macht einer Hexe immermehr ange-
nommen wird. Es iſt eben ſo als wenn ein Menſch zum Hunde wuͤrde.
481 Die Aelteſten. Die anſehnlichſten Maͤnner von reifem Verſtande, und
ernſthafftem Weſen, moͤgen kein Schauſpiel ſehen, darinn nichts kluges vorkommt.
Kinderpoſſen und lauter luſtige Schwencke ſchicken ſich vor ihre Jahre nicht. Bey
uns gehts eben ſo. So lange man lauter italieniſche Burlesquen auffuͤhren wird,
hat man keine anſehnliche Zuſchauer zu hoffen. Man ſpiele aber ernſthaffte Trauer-
ſpiele, ſo werden die vernuͤnftigſten Maͤnner ſich in den Schauplatz dringen.
483 Der hohe Ritterſtand. Celſi Rhamnes. Die Roͤmer waren vom Ro-
mulus in drey Claſſen getheilet worden, davon waren die Rhamnenſer die erſten.
Das Wort Celſi machts alſo, daß man nicht den roͤmiſchen Poͤbel, ſondern den Adel
dadurch verſteht, da man ſonſt das gantze Volck dadurch verſtehen koͤnnte. Die
Ritter und Edlen nun, mochten in Rom kein gar zu ernſthafftes Weſen gern hoͤren,
ſondern liebten was luſtiges; dergleichen die Comoͤdien waren. Daher folgt, ein
Poet muͤſſe ſich nach beyden richten.
489 Zwar Dichter fehlen auch. Poeten ſind auch Menſchen; daher koͤnnen
ſie leicht fehlen; und verdienen auch, daß man ihnen zuweilen etwas uͤberſieht.
Aber ihre Fehler muͤſſen weder aus Unwiſſenheit, noch aus Nachlaͤßigkeit herkom-
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| Zitationshilfe: | Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 42. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/70>, abgerufen am 26.11.2024. |
