Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.
505 505 509 Ein men, wenn sie Vergebung hoffen wollen. Die menschliche Schwachheit, und un- vermeidliche Nothwendigkeit allein entschuldigt sie, wie die folgenden Verße zeigen. 496 Hier und dar. Die Fehler müssen sehr selten kommen, wenn man sie übersehen soll. Wo ein Gedichte von Schnitzern wimmelt, da fordert man verge- bens ein gelindes Urtheil. Das Schöne muß das Schlechte weit übertreffen, wenn ich einem was zu gute halten soll. An Opitzen, Dachen und Flemmingen entschul- dige ich viele Fehler wieder die Reinigkeit, die ich einem heutigen Stümper hoch anrechne. Das macht ihre Schrifften sind so voller Geist und Feuer, als die heu- tigen voller Schnee und Wasser. 505 Stets falsche Griffe. Ein Fehler muß nicht vielmahl wieder kommen, wenn man ihn übersehen soll: denn wo er offt begangen wird, zeigt er entweder von seines Meisters Unwissenheit oder Nachläßigkeit. 505 Chörilus. Dieß ist nicht der Chörilus, der in der LXXV. Olympias gelebt, und auf den Sieg der Athenienser über den Xerxes ein so schönes Gedichte gemacht, daß man ihm vor jede Zeile eine goldne Müntze zur Vergeltung gegeben, und befohlen sein Werck nebst Homero öffentlich zu lesen. Sondern dieß war der- jenige Chörilus, der zu des grossen Alexanders Zeiten gelebt, und bey diesem Prin- zen mehr Glück als Verdienst gehabt. Er muß auch wohl zuweilen ein paar kluge Zeilen mit darunter gemacht haben. Horatz spricht ihm dieses nicht ab. Aber er sagt, daß er darüber lachen müsse, und sich verwundre, daß er gleichwohl zuweilen was gutes zuwege gebracht. 509 Homer entschläft. Man führt diese Worte Horatii gemeiniglich ver-
stümmelt an, da sie denn eine gantz andre Bedeutung haben. Der Poet will nicht sagen, daß der gute Homer auch zuweilen fehle: sondern er will sagen, daß es ihm leid sey,
505 505 509 Ein men, wenn ſie Vergebung hoffen wollen. Die menſchliche Schwachheit, und un- vermeidliche Nothwendigkeit allein entſchuldigt ſie, wie die folgenden Verße zeigen. 496 Hier und dar. Die Fehler muͤſſen ſehr ſelten kommen, wenn man ſie uͤberſehen ſoll. Wo ein Gedichte von Schnitzern wimmelt, da fordert man verge- bens ein gelindes Urtheil. Das Schoͤne muß das Schlechte weit uͤbertreffen, wenn ich einem was zu gute halten ſoll. An Opitzen, Dachen und Flemmingen entſchul- dige ich viele Fehler wieder die Reinigkeit, die ich einem heutigen Stuͤmper hoch anrechne. Das macht ihre Schrifften ſind ſo voller Geiſt und Feuer, als die heu- tigen voller Schnee und Waſſer. 505 Stets falſche Griffe. Ein Fehler muß nicht vielmahl wieder kommen, wenn man ihn uͤberſehen ſoll: denn wo er offt begangen wird, zeigt er entweder von ſeines Meiſters Unwiſſenheit oder Nachlaͤßigkeit. 505 Chörilus. Dieß iſt nicht der Choͤrilus, der in der LXXV. Olympias gelebt, und auf den Sieg der Athenienſer uͤber den Xerxes ein ſo ſchoͤnes Gedichte gemacht, daß man ihm vor jede Zeile eine goldne Muͤntze zur Vergeltung gegeben, und befohlen ſein Werck nebſt Homero oͤffentlich zu leſen. Sondern dieß war der- jenige Choͤrilus, der zu des groſſen Alexanders Zeiten gelebt, und bey dieſem Prin- zen mehr Gluͤck als Verdienſt gehabt. Er muß auch wohl zuweilen ein paar kluge Zeilen mit darunter gemacht haben. Horatz ſpricht ihm dieſes nicht ab. Aber er ſagt, daß er daruͤber lachen muͤſſe, und ſich verwundre, daß er gleichwohl zuweilen was gutes zuwege gebracht. 509 Homer entſchläft. Man fuͤhrt dieſe Worte Horatii gemeiniglich ver-
ſtuͤmmelt an, da ſie denn eine gantz andre Bedeutung haben. Der Poet will nicht ſagen, daß der gute Homer auch zuweilen fehle: ſondern er will ſagen, daß es ihm leid ſey, <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <lg type="poem"> <lg n="22"> <l><pb facs="#f0071" n="43"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Horatius von der Dicht-Kunſt.</hi></fw><lb/><note place="left">495</note>Und ſeine Lieder uns faſt durch und durch gefallen,</l><lb/> <l>Denn mag nur hier und da was hartes drunter ſchallen.</l><lb/> <l>Es geht gantz menſchlich zu. Wie leicht iſt es geſchehn,</l><lb/> <l>Daß wir zu ſorgloß ſind, und irgend was verſehn.</l><lb/> <l>Was folgt indeſſen draus? Wie wir der Schreiber lachen,<lb/><note place="left">500</note>Die, wenn man ſie gleich ſtraft, doch ſtets die Fehler machen,</l><lb/> <l>Davor man ſie gewarnt; und wie ein Leyermann,</l><lb/> <l>Der nur ſein altes Lied auf einer Seyte kan,</l><lb/> <l>Ein Spott der Kinder wird: So ſetz ich den Poeten,</l><lb/> <l>Der keinen Thon verſteht, und auf den heiſchen Floͤten<lb/><note place="left">505</note>Stets falſche Griffe macht, zu jenem Choͤrilus,</l><lb/> <l>Bey deſſen Verſen ich verwundernd lachen muß,</l><lb/> <l>Wenn er zuweilen noch was leidliches getroffen.</l><lb/> <l>Hingegen ſchmertzt es mich, wenn wieder Wunſch und Hoffen</l><lb/> <l>Homer einmahl entſchlaͤft: Obwohl es leicht geſchieht,<lb/><note place="left">510</note>Daß ein ſo langes Werck den Schlummer nach ſich zieht.</l> </lg><lb/> <fw place="bottom" type="catch">Ein</fw><lb/> <note xml:id="f36" prev="#f35" place="foot" n="489">men, wenn ſie Vergebung hoffen wollen. Die menſchliche Schwachheit, und un-<lb/> vermeidliche Nothwendigkeit allein entſchuldigt ſie, wie die folgenden Verße zeigen.</note><lb/> <note place="foot" n="496"><hi rendition="#fr">Hier und dar.</hi> Die Fehler muͤſſen ſehr ſelten kommen, wenn man ſie<lb/> uͤberſehen ſoll. Wo ein Gedichte von Schnitzern wimmelt, da fordert man verge-<lb/> bens ein gelindes Urtheil. Das Schoͤne muß das Schlechte weit uͤbertreffen, wenn<lb/> ich einem was zu gute halten ſoll. An Opitzen, Dachen und Flemmingen entſchul-<lb/> dige ich viele Fehler wieder die Reinigkeit, die ich einem heutigen Stuͤmper hoch<lb/> anrechne. Das macht ihre Schrifften ſind ſo voller Geiſt und Feuer, als die heu-<lb/> tigen voller Schnee und Waſſer.</note><lb/> <note place="foot" n="505"><hi rendition="#fr">Stets falſche Griffe.</hi> Ein Fehler muß nicht vielmahl wieder kommen,<lb/> wenn man ihn uͤberſehen ſoll: denn wo er offt begangen wird, zeigt er entweder von<lb/> ſeines Meiſters Unwiſſenheit oder Nachlaͤßigkeit.</note><lb/> <note place="foot" n="505"><hi rendition="#fr">Chörilus.</hi> Dieß iſt nicht der Choͤrilus, der in der <hi rendition="#aq">LXXV.</hi> Olympias<lb/> gelebt, und auf den Sieg der Athenienſer uͤber den Xerxes ein ſo ſchoͤnes Gedichte<lb/> gemacht, daß man ihm vor jede Zeile eine goldne Muͤntze zur Vergeltung gegeben,<lb/> und befohlen ſein Werck nebſt Homero oͤffentlich zu leſen. Sondern dieß war der-<lb/> jenige Choͤrilus, der zu des groſſen Alexanders Zeiten gelebt, und bey dieſem Prin-<lb/> zen mehr Gluͤck als Verdienſt gehabt. Er muß auch wohl zuweilen ein paar kluge<lb/> Zeilen mit darunter gemacht haben. Horatz ſpricht ihm dieſes nicht ab. Aber er<lb/> ſagt, daß er daruͤber lachen muͤſſe, und ſich verwundre, daß er gleichwohl zuweilen<lb/> was gutes zuwege gebracht.</note><lb/> <note xml:id="f37" next="#f38" place="foot" n="509"><hi rendition="#fr">Homer entſchläft.</hi> Man fuͤhrt dieſe Worte Horatii gemeiniglich ver-<lb/> ſtuͤmmelt an, da ſie denn eine gantz andre Bedeutung haben. Der Poet will nicht<lb/> ſagen, daß der gute Homer auch zuweilen fehle: ſondern er will ſagen, daß es ihm leid<lb/> <fw place="bottom" type="catch">ſey,</fw></note><lb/> </lg> </div> </div> </body> </text> </TEI> [43/0071]
Horatius von der Dicht-Kunſt.
Und ſeine Lieder uns faſt durch und durch gefallen,
Denn mag nur hier und da was hartes drunter ſchallen.
Es geht gantz menſchlich zu. Wie leicht iſt es geſchehn,
Daß wir zu ſorgloß ſind, und irgend was verſehn.
Was folgt indeſſen draus? Wie wir der Schreiber lachen,
Die, wenn man ſie gleich ſtraft, doch ſtets die Fehler machen,
Davor man ſie gewarnt; und wie ein Leyermann,
Der nur ſein altes Lied auf einer Seyte kan,
Ein Spott der Kinder wird: So ſetz ich den Poeten,
Der keinen Thon verſteht, und auf den heiſchen Floͤten
Stets falſche Griffe macht, zu jenem Choͤrilus,
Bey deſſen Verſen ich verwundernd lachen muß,
Wenn er zuweilen noch was leidliches getroffen.
Hingegen ſchmertzt es mich, wenn wieder Wunſch und Hoffen
Homer einmahl entſchlaͤft: Obwohl es leicht geſchieht,
Daß ein ſo langes Werck den Schlummer nach ſich zieht.
Ein
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489 men, wenn ſie Vergebung hoffen wollen. Die menſchliche Schwachheit, und un-
vermeidliche Nothwendigkeit allein entſchuldigt ſie, wie die folgenden Verße zeigen.
496 Hier und dar. Die Fehler muͤſſen ſehr ſelten kommen, wenn man ſie
uͤberſehen ſoll. Wo ein Gedichte von Schnitzern wimmelt, da fordert man verge-
bens ein gelindes Urtheil. Das Schoͤne muß das Schlechte weit uͤbertreffen, wenn
ich einem was zu gute halten ſoll. An Opitzen, Dachen und Flemmingen entſchul-
dige ich viele Fehler wieder die Reinigkeit, die ich einem heutigen Stuͤmper hoch
anrechne. Das macht ihre Schrifften ſind ſo voller Geiſt und Feuer, als die heu-
tigen voller Schnee und Waſſer.
505 Stets falſche Griffe. Ein Fehler muß nicht vielmahl wieder kommen,
wenn man ihn uͤberſehen ſoll: denn wo er offt begangen wird, zeigt er entweder von
ſeines Meiſters Unwiſſenheit oder Nachlaͤßigkeit.
505 Chörilus. Dieß iſt nicht der Choͤrilus, der in der LXXV. Olympias
gelebt, und auf den Sieg der Athenienſer uͤber den Xerxes ein ſo ſchoͤnes Gedichte
gemacht, daß man ihm vor jede Zeile eine goldne Muͤntze zur Vergeltung gegeben,
und befohlen ſein Werck nebſt Homero oͤffentlich zu leſen. Sondern dieß war der-
jenige Choͤrilus, der zu des groſſen Alexanders Zeiten gelebt, und bey dieſem Prin-
zen mehr Gluͤck als Verdienſt gehabt. Er muß auch wohl zuweilen ein paar kluge
Zeilen mit darunter gemacht haben. Horatz ſpricht ihm dieſes nicht ab. Aber er
ſagt, daß er daruͤber lachen muͤſſe, und ſich verwundre, daß er gleichwohl zuweilen
was gutes zuwege gebracht.
509 Homer entſchläft. Man fuͤhrt dieſe Worte Horatii gemeiniglich ver-
ſtuͤmmelt an, da ſie denn eine gantz andre Bedeutung haben. Der Poet will nicht
ſagen, daß der gute Homer auch zuweilen fehle: ſondern er will ſagen, daß es ihm leid
ſey,
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