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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Horatius von der Dicht-Kunst.
Ein Vers ist Bildern gleich, wo manches uns gefällt,
Wenn mans genau besieht und nah vor Augen stellt,
Jndem sich andre nur von ferne trefflich zeigen.
Dem einen ist die Macht und Dunckelheit fast eigen,
515Das andre liebt den Tag und volles Sonnen-Licht,

Und scheuet dergestalt die schärfste Prüfung nicht.
Dieß mag man kaum einmahl; und das wohl zehnmahl leiden,
Denn man erblickt es stets mit neuer Lust und Freuden.
Drum Piso, mercke dir die güldne Regel an,
520Wiewohl des Vaters Wort dich sattsam leiten kan,

Und du schon selber weist: die Sachen zu entscheiden:
Man kan in mancher Kunst die Mittelstrasse leiden.
Ein Rechtsgelehrter mag nur mittelmässig seyn,
Ein Redner ebenfals darf nicht so ungemein
525Als ein Casselius und ein Messalla sprechen;

Doch hält man beyde wehrt und wird sich nicht entbrechen,
511
514
525
Sie
sey, wenn der gute Mann einmahl was versehen habe. Es schmertzt ihn, daß die-
ser grosse Dichter hier und da was schläfriges mit einfliessen lassen. Indignor quan-
doque bonus dormitat Homerus. Quandoque
heist hier quoties, nicht in-
terdum.
Das ist ein großes Lob vor Homerum. Das Gute ist bey ihm in grosser,
die Fehler aber sind nur in geringer Anzahl zu finden. Und diese können noch durch
die Grösse seiner Gedichte entschuldiget werden.
511 Ein Vers ist Bildern gleich. Dacier erklärt dieses auch von lauter guten
Gedichten, und meynt, daß mancher guter Vers bey genauer Prüfung Stich hal-
ten, ein andrer aber nur oben hin angesehen werden müsse; nicht anders als wie
Bilder von gewisser Art ihre gewisse Stellung oder Entfernung erfordern. Von
Gemählden hat dieses seine Richtigkeit: Aber von Verßen ist es gantz anders. Ein
Gedichte so nicht die Prüfung eines Critici aushält, taugt so wenig als das Gold so
nicht Strich hält. Das Gleichniß Horatii muß von solchen Bildern verstanden
werden, die im dunckeln oder von weitem schön zu seyn scheinen: aber in der That
schlecht sind: da hingegen andre desto mehr Schönheiten zeigen, je länger und ge-
nauer man sie betrachtet.
514 Dem einen ist die Nacht. Das sind die schönen Wercke der Poeten, die
bey dem Pöbel so viel Beyfall finden, Kennern aber nicht gefallen. Man muß sie
nur bey neblichtem Wetter lesen; sonst gefallen sie einem nicht. Jch will sagen, man
muß einen finstern Verstand haben, wenn man sie bewundern will. Bey dem Lichte
einer gesunden Critick verschwinden alle ihre Schönheiten. Daher fürchten auch
ihre Urheber nichts mehr, als die Prüfung eines scharfsichtigen Kenners.
525 Cassellius und Messalla, zwey grosse Redner damahliger Zeiten. Die-
ser hieß Messala Corvinus, dessen Horatz auch in der XXI. Ode des III. B. gedenckt,
und
Horatius von der Dicht-Kunſt.
Ein Vers iſt Bildern gleich, wo manches uns gefaͤllt,
Wenn mans genau beſieht und nah vor Augen ſtellt,
Jndem ſich andre nur von ferne trefflich zeigen.
Dem einen iſt die Macht und Dunckelheit faſt eigen,
515Das andre liebt den Tag und volles Sonnen-Licht,

Und ſcheuet dergeſtalt die ſchaͤrfſte Pruͤfung nicht.
Dieß mag man kaum einmahl; und das wohl zehnmahl leiden,
Denn man erblickt es ſtets mit neuer Luſt und Freuden.
Drum Piſo, mercke dir die guͤldne Regel an,
520Wiewohl des Vaters Wort dich ſattſam leiten kan,

Und du ſchon ſelber weiſt: die Sachen zu entſcheiden:
Man kan in mancher Kunſt die Mittelſtraſſe leiden.
Ein Rechtsgelehrter mag nur mittelmaͤſſig ſeyn,
Ein Redner ebenfals darf nicht ſo ungemein
525Als ein Caſſelius und ein Meſſalla ſprechen;

Doch haͤlt man beyde wehrt und wird ſich nicht entbrechen,
511
514
525
Sie
ſey, wenn der gute Mann einmahl was verſehen habe. Es ſchmertzt ihn, daß die-
ſer groſſe Dichter hier und da was ſchlaͤfriges mit einflieſſen laſſen. Indignor quan-
doque bonus dormitat Homerus. Quandoque
heiſt hier quoties, nicht in-
terdum.
Das iſt ein großes Lob vor Homerum. Das Gute iſt bey ihm in groſſer,
die Fehler aber ſind nur in geringer Anzahl zu finden. Und dieſe koͤnnen noch durch
die Groͤſſe ſeiner Gedichte entſchuldiget werden.
511 Ein Vers iſt Bildern gleich. Dacier erklaͤrt dieſes auch von lauter guten
Gedichten, und meynt, daß mancher guter Vers bey genauer Pruͤfung Stich hal-
ten, ein andrer aber nur oben hin angeſehen werden muͤſſe; nicht anders als wie
Bilder von gewiſſer Art ihre gewiſſe Stellung oder Entfernung erfordern. Von
Gemaͤhlden hat dieſes ſeine Richtigkeit: Aber von Verßen iſt es gantz anders. Ein
Gedichte ſo nicht die Pruͤfung eines Critici aushaͤlt, taugt ſo wenig als das Gold ſo
nicht Strich haͤlt. Das Gleichniß Horatii muß von ſolchen Bildern verſtanden
werden, die im dunckeln oder von weitem ſchoͤn zu ſeyn ſcheinen: aber in der That
ſchlecht ſind: da hingegen andre deſto mehr Schoͤnheiten zeigen, je laͤnger und ge-
nauer man ſie betrachtet.
514 Dem einen iſt die Nacht. Das ſind die ſchoͤnen Wercke der Poeten, die
bey dem Poͤbel ſo viel Beyfall finden, Kennern aber nicht gefallen. Man muß ſie
nur bey neblichtem Wetter leſen; ſonſt gefallen ſie einem nicht. Jch will ſagen, man
muß einen finſtern Verſtand haben, wenn man ſie bewundern will. Bey dem Lichte
einer geſunden Critick verſchwinden alle ihre Schoͤnheiten. Daher fuͤrchten auch
ihre Urheber nichts mehr, als die Pruͤfung eines ſcharfſichtigen Kenners.
525 Caſſellius und Meſſalla, zwey groſſe Redner damahliger Zeiten. Die-
ſer hieß Meſſala Corvinus, deſſen Horatz auch in der XXI. Ode des III. B. gedenckt,
und
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[44/0072] Horatius von der Dicht-Kunſt. Ein Vers iſt Bildern gleich, wo manches uns gefaͤllt, Wenn mans genau beſieht und nah vor Augen ſtellt, Jndem ſich andre nur von ferne trefflich zeigen. Dem einen iſt die Macht und Dunckelheit faſt eigen, Das andre liebt den Tag und volles Sonnen-Licht, Und ſcheuet dergeſtalt die ſchaͤrfſte Pruͤfung nicht. Dieß mag man kaum einmahl; und das wohl zehnmahl leiden, Denn man erblickt es ſtets mit neuer Luſt und Freuden. Drum Piſo, mercke dir die guͤldne Regel an, Wiewohl des Vaters Wort dich ſattſam leiten kan, Und du ſchon ſelber weiſt: die Sachen zu entſcheiden: Man kan in mancher Kunſt die Mittelſtraſſe leiden. Ein Rechtsgelehrter mag nur mittelmaͤſſig ſeyn, Ein Redner ebenfals darf nicht ſo ungemein Als ein Caſſelius und ein Meſſalla ſprechen; Doch haͤlt man beyde wehrt und wird ſich nicht entbrechen, Sie 509 511 514 525 509 ſey, wenn der gute Mann einmahl was verſehen habe. Es ſchmertzt ihn, daß die- ſer groſſe Dichter hier und da was ſchlaͤfriges mit einflieſſen laſſen. Indignor quan- doque bonus dormitat Homerus. Quandoque heiſt hier quoties, nicht in- terdum. Das iſt ein großes Lob vor Homerum. Das Gute iſt bey ihm in groſſer, die Fehler aber ſind nur in geringer Anzahl zu finden. Und dieſe koͤnnen noch durch die Groͤſſe ſeiner Gedichte entſchuldiget werden. 511 Ein Vers iſt Bildern gleich. Dacier erklaͤrt dieſes auch von lauter guten Gedichten, und meynt, daß mancher guter Vers bey genauer Pruͤfung Stich hal- ten, ein andrer aber nur oben hin angeſehen werden muͤſſe; nicht anders als wie Bilder von gewiſſer Art ihre gewiſſe Stellung oder Entfernung erfordern. Von Gemaͤhlden hat dieſes ſeine Richtigkeit: Aber von Verßen iſt es gantz anders. Ein Gedichte ſo nicht die Pruͤfung eines Critici aushaͤlt, taugt ſo wenig als das Gold ſo nicht Strich haͤlt. Das Gleichniß Horatii muß von ſolchen Bildern verſtanden werden, die im dunckeln oder von weitem ſchoͤn zu ſeyn ſcheinen: aber in der That ſchlecht ſind: da hingegen andre deſto mehr Schoͤnheiten zeigen, je laͤnger und ge- nauer man ſie betrachtet. 514 Dem einen iſt die Nacht. Das ſind die ſchoͤnen Wercke der Poeten, die bey dem Poͤbel ſo viel Beyfall finden, Kennern aber nicht gefallen. Man muß ſie nur bey neblichtem Wetter leſen; ſonſt gefallen ſie einem nicht. Jch will ſagen, man muß einen finſtern Verſtand haben, wenn man ſie bewundern will. Bey dem Lichte einer geſunden Critick verſchwinden alle ihre Schoͤnheiten. Daher fuͤrchten auch ihre Urheber nichts mehr, als die Pruͤfung eines ſcharfſichtigen Kenners. 525 Caſſellius und Meſſalla, zwey groſſe Redner damahliger Zeiten. Die- ſer hieß Meſſala Corvinus, deſſen Horatz auch in der XXI. Ode des III. B. gedenckt, und

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 44. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/72>, abgerufen am 26.11.2024.