Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

Bild:
<< vorherige Seite
Horatius von der Dicht-Kunst.
Man sagt, daß Könige zum Truncke zwingen sollen,
Wenn sie der Diener Hertz und Art erforschen wollen;
Bevor sie sich vertraun. Machst du nun ein Gedicht,
620So traue doch durchaus den schlauen Schmeichlern nicht.

Jhr glatter Fuchs-Peltz deckt ein hinterlistig Wesen.
So offt man dem Quintil was pflegte vorzulesen,
So sprach er: Aendre dieß, und jenes bessre noch.
Jch kan nicht, sagte man; und gleichwohl hab ichs doch
625Mehr als einmahl versucht: So muß die Zeile weichen,

War sein gewohnter Rath; sie ist leicht auszustreichen,
Dann mustre deinen Vers und setz an ihrer statt
Was anders an den Ort, wo sie gestanden hat.
Vertheidigte man sich und blieb bey seinen Grillen:
630So sprach er weiter nichts, um solches Dünckels willen;

Und ließ den Affen gehn, der seine Jungen liebt,
Wenn ihm gleich sonst kein Mensch den mindsten Beyfall giebt.
So machts ein kluger Mann, er tadelt matte Zeilen,
Verwirft ein hartes Wort, bemerckt auch wohl zuweilen,
625
629
633
Am
ser seine Dicht-Kunst schrieb, denn wir finden eine Ode auf seinen Tod L. I. Od. 24.
Drum redet Horatz von ihm in der vergangenen Zeit. So pflegte sich ein römischer
Poet des andern Beurtheilung zu unterwerfen. Varus censirte den Virail u. Horatz,
und diese ihn wieder: daher wurden sie so vollkommen. Bavius und Mävius waren
vor sich allein klug, und liessen sich nicht censiren: darum blieben sie Stümper.
625 So muß die Zeile weichen. Das ist eine scharfe Censur. Viele mey-
nen, wenn sie eine schlechte Stelle ihrer Gedichte nicht ausbessern können, wiewohl
sie alle ihre Mühe daran gewandt: so sey es schon genug. Sie halten sich nunmehr
schon berechtiget, sie, so schlecht sie ist, stehen zu lassen. Allein vergebens. Es
ist noch ein Mittel übrig. Man streiche sie gar aus. Ja, spricht man, es ist gleich-
wohl ein schöner Gedancke! Umsonst, wenn der Verß nicht auch schön ist. Man
setze einen an die Stelle der noch schöner ist, und doch wohl klappt. Ein Poet muß
keine Affenliebe gegen seine Einfälle haben.
629 Vertheidigte man sich. Gewisse Leute bitten einen um seine Censur.
Man entschuldigt sich anfangs, man lobt sie, man will nicht daran. Allein umsonst:
sie lassen nicht nach. Endlich willfährt man ihnen und erinnert bald hie bald da
was. Aber was hilfts? Sie wissen alles besser. Man sage was man will: sie
ändern dennoch nichts. Was man tadelt, das bewundern sie destomehr, und es stecken
allzeit verborgene Schönheiten in ihren Fehlern. Was ist da zu thun? Man
mache es wie Varus gethan, und lasse die Affen gehn.
633 So machts. Dies ist eine schöne Stelle vor Poetische Gesellschafften, und
andre
D 2
Horatius von der Dicht-Kunſt.
Man ſagt, daß Koͤnige zum Truncke zwingen ſollen,
Wenn ſie der Diener Hertz und Art erforſchen wollen;
Bevor ſie ſich vertraun. Machſt du nun ein Gedicht,
620So traue doch durchaus den ſchlauen Schmeichlern nicht.

Jhr glatter Fuchs-Peltz deckt ein hinterliſtig Weſen.
So offt man dem Quintil was pflegte vorzuleſen,
So ſprach er: Aendre dieß, und jenes beſſre noch.
Jch kan nicht, ſagte man; und gleichwohl hab ichs doch
625Mehr als einmahl verſucht: So muß die Zeile weichen,

War ſein gewohnter Rath; ſie iſt leicht auszuſtreichen,
Dann muſtre deinen Vers und ſetz an ihrer ſtatt
Was anders an den Ort, wo ſie geſtanden hat.
Vertheidigte man ſich und blieb bey ſeinen Grillen:
630So ſprach er weiter nichts, um ſolches Duͤnckels willen;

Und ließ den Affen gehn, der ſeine Jungen liebt,
Wenn ihm gleich ſonſt kein Menſch den mindſten Beyfall giebt.
So machts ein kluger Mann, er tadelt matte Zeilen,
Verwirft ein hartes Wort, bemerckt auch wohl zuweilen,
625
629
633
Am
ſer ſeine Dicht-Kunſt ſchrieb, denn wir finden eine Ode auf ſeinen Tod L. I. Od. 24.
Drum redet Horatz von ihm in der vergangenen Zeit. So pflegte ſich ein roͤmiſcher
Poet des andern Beurtheilung zu unterwerfen. Varus cenſirte den Virail u. Horatz,
und dieſe ihn wieder: daher wurden ſie ſo vollkommen. Bavius und Maͤvius waren
vor ſich allein klug, und lieſſen ſich nicht cenſiren: darum blieben ſie Stuͤmper.
625 So muß die Zeile weichen. Das iſt eine ſcharfe Cenſur. Viele mey-
nen, wenn ſie eine ſchlechte Stelle ihrer Gedichte nicht ausbeſſern koͤnnen, wiewohl
ſie alle ihre Muͤhe daran gewandt: ſo ſey es ſchon genug. Sie halten ſich nunmehr
ſchon berechtiget, ſie, ſo ſchlecht ſie iſt, ſtehen zu laſſen. Allein vergebens. Es
iſt noch ein Mittel uͤbrig. Man ſtreiche ſie gar aus. Ja, ſpricht man, es iſt gleich-
wohl ein ſchoͤner Gedancke! Umſonſt, wenn der Verß nicht auch ſchoͤn iſt. Man
ſetze einen an die Stelle der noch ſchoͤner iſt, und doch wohl klappt. Ein Poet muß
keine Affenliebe gegen ſeine Einfaͤlle haben.
629 Vertheidigte man ſich. Gewiſſe Leute bitten einen um ſeine Cenſur.
Man entſchuldigt ſich anfangs, man lobt ſie, man will nicht daran. Allein umſonſt:
ſie laſſen nicht nach. Endlich willfaͤhrt man ihnen und erinnert bald hie bald da
was. Aber was hilfts? Sie wiſſen alles beſſer. Man ſage was man will: ſie
aͤndern dennoch nichts. Was man tadelt, das bewundern ſie deſtomehr, und es ſtecken
allzeit verborgene Schoͤnheiten in ihren Fehlern. Was iſt da zu thun? Man
mache es wie Varus gethan, und laſſe die Affen gehn.
633 So machts. Dies iſt eine ſchoͤne Stelle vor Poetiſche Geſellſchafften, und
andre
D 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <lg type="poem">
            <pb facs="#f0079" n="51"/>
            <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">Horatius von der Dicht-Kun&#x017F;t.</hi> </fw><lb/>
            <lg n="30">
              <l>Man &#x017F;agt, daß Ko&#x0364;nige zum Truncke zwingen &#x017F;ollen,</l><lb/>
              <l>Wenn &#x017F;ie der Diener Hertz und Art erfor&#x017F;chen wollen;</l><lb/>
              <l>Bevor &#x017F;ie &#x017F;ich vertraun. Mach&#x017F;t du nun ein Gedicht,<lb/><note place="left">620</note>So traue doch durchaus den &#x017F;chlauen Schmeichlern nicht.</l><lb/>
              <l>Jhr glatter Fuchs-Peltz deckt ein hinterli&#x017F;tig We&#x017F;en.</l><lb/>
              <l>So offt man dem Quintil was pflegte vorzule&#x017F;en,</l><lb/>
              <l>So &#x017F;prach er: Aendre dieß, und jenes be&#x017F;&#x017F;re noch.</l><lb/>
              <l>Jch kan nicht, &#x017F;agte man; und gleichwohl hab ichs doch<lb/><note place="left">625</note>Mehr als einmahl ver&#x017F;ucht: So muß die Zeile weichen,</l><lb/>
              <l>War &#x017F;ein gewohnter Rath; &#x017F;ie i&#x017F;t leicht auszu&#x017F;treichen,</l><lb/>
              <l>Dann mu&#x017F;tre deinen Vers und &#x017F;etz an ihrer &#x017F;tatt</l><lb/>
              <l>Was anders an den Ort, wo &#x017F;ie ge&#x017F;tanden hat.</l><lb/>
              <l>Vertheidigte man &#x017F;ich und blieb bey &#x017F;einen Grillen:<lb/><note place="left">630</note>So &#x017F;prach er weiter nichts, um &#x017F;olches Du&#x0364;nckels willen;</l><lb/>
              <l>Und ließ den Affen gehn, der &#x017F;eine Jungen liebt,</l><lb/>
              <l>Wenn ihm gleich &#x017F;on&#x017F;t kein Men&#x017F;ch den mind&#x017F;ten Beyfall giebt.</l>
            </lg><lb/>
            <lg n="31">
              <l>So machts ein kluger Mann, er tadelt matte Zeilen,</l><lb/>
              <l>Verwirft ein hartes Wort, bemerckt auch wohl zuweilen,<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">D 2</fw><fw place="bottom" type="catch">Am</fw><lb/><note xml:id="f48" prev="#f47" place="foot" n="622">&#x017F;er &#x017F;eine Dicht-Kun&#x017F;t &#x017F;chrieb, denn wir finden eine Ode auf &#x017F;einen Tod <hi rendition="#aq">L. I. Od.</hi> 24.<lb/>
Drum redet Horatz von ihm in der vergangenen Zeit. So pflegte &#x017F;ich ein ro&#x0364;mi&#x017F;cher<lb/>
Poet des andern Beurtheilung zu unterwerfen. Varus cen&#x017F;irte den Virail u. Horatz,<lb/>
und die&#x017F;e ihn wieder: daher wurden &#x017F;ie &#x017F;o vollkommen. Bavius und Ma&#x0364;vius waren<lb/>
vor &#x017F;ich allein klug, und lie&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ich nicht cen&#x017F;iren: darum blieben &#x017F;ie Stu&#x0364;mper.</note><lb/><note place="foot" n="625"><hi rendition="#fr">So muß die Zeile weichen.</hi> Das i&#x017F;t eine &#x017F;charfe Cen&#x017F;ur. Viele mey-<lb/>
nen, wenn &#x017F;ie eine &#x017F;chlechte Stelle ihrer Gedichte nicht ausbe&#x017F;&#x017F;ern ko&#x0364;nnen, wiewohl<lb/>
&#x017F;ie alle ihre Mu&#x0364;he daran gewandt: &#x017F;o &#x017F;ey es &#x017F;chon genug. Sie halten &#x017F;ich nunmehr<lb/>
&#x017F;chon berechtiget, &#x017F;ie, &#x017F;o &#x017F;chlecht &#x017F;ie i&#x017F;t, &#x017F;tehen zu la&#x017F;&#x017F;en. Allein vergebens. Es<lb/>
i&#x017F;t noch ein Mittel u&#x0364;brig. Man &#x017F;treiche &#x017F;ie gar aus. Ja, &#x017F;pricht man, es i&#x017F;t gleich-<lb/>
wohl ein &#x017F;cho&#x0364;ner Gedancke! Um&#x017F;on&#x017F;t, wenn der Verß nicht auch &#x017F;cho&#x0364;n i&#x017F;t. Man<lb/>
&#x017F;etze einen an die Stelle der noch &#x017F;cho&#x0364;ner i&#x017F;t, und doch wohl klappt. Ein Poet muß<lb/>
keine Affenliebe gegen &#x017F;eine Einfa&#x0364;lle haben.</note><lb/><note place="foot" n="629"><hi rendition="#fr">Vertheidigte man &#x017F;ich.</hi> Gewi&#x017F;&#x017F;e Leute bitten einen um &#x017F;eine Cen&#x017F;ur.<lb/>
Man ent&#x017F;chuldigt &#x017F;ich anfangs, man lobt &#x017F;ie, man will nicht daran. Allein um&#x017F;on&#x017F;t:<lb/>
&#x017F;ie la&#x017F;&#x017F;en nicht nach. Endlich willfa&#x0364;hrt man ihnen und erinnert bald hie bald da<lb/>
was. Aber was hilfts? Sie wi&#x017F;&#x017F;en alles be&#x017F;&#x017F;er. Man &#x017F;age was man will: &#x017F;ie<lb/>
a&#x0364;ndern dennoch nichts. Was man tadelt, das bewundern &#x017F;ie de&#x017F;tomehr, und es &#x017F;tecken<lb/>
allzeit verborgene Scho&#x0364;nheiten in ihren Fehlern. Was i&#x017F;t da zu thun? Man<lb/>
mache es wie Varus gethan, und la&#x017F;&#x017F;e die Affen gehn.</note><lb/><note xml:id="f49" next="#f50" place="foot" n="633"><hi rendition="#fr">So machts.</hi> Dies i&#x017F;t eine &#x017F;cho&#x0364;ne Stelle vor Poeti&#x017F;che Ge&#x017F;ell&#x017F;chafften, und<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">andre</fw></note><lb/></l>
            </lg>
          </lg>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[51/0079] Horatius von der Dicht-Kunſt. Man ſagt, daß Koͤnige zum Truncke zwingen ſollen, Wenn ſie der Diener Hertz und Art erforſchen wollen; Bevor ſie ſich vertraun. Machſt du nun ein Gedicht, So traue doch durchaus den ſchlauen Schmeichlern nicht. Jhr glatter Fuchs-Peltz deckt ein hinterliſtig Weſen. So offt man dem Quintil was pflegte vorzuleſen, So ſprach er: Aendre dieß, und jenes beſſre noch. Jch kan nicht, ſagte man; und gleichwohl hab ichs doch Mehr als einmahl verſucht: So muß die Zeile weichen, War ſein gewohnter Rath; ſie iſt leicht auszuſtreichen, Dann muſtre deinen Vers und ſetz an ihrer ſtatt Was anders an den Ort, wo ſie geſtanden hat. Vertheidigte man ſich und blieb bey ſeinen Grillen: So ſprach er weiter nichts, um ſolches Duͤnckels willen; Und ließ den Affen gehn, der ſeine Jungen liebt, Wenn ihm gleich ſonſt kein Menſch den mindſten Beyfall giebt. So machts ein kluger Mann, er tadelt matte Zeilen, Verwirft ein hartes Wort, bemerckt auch wohl zuweilen, Am 622 625 629 633 622 ſer ſeine Dicht-Kunſt ſchrieb, denn wir finden eine Ode auf ſeinen Tod L. I. Od. 24. Drum redet Horatz von ihm in der vergangenen Zeit. So pflegte ſich ein roͤmiſcher Poet des andern Beurtheilung zu unterwerfen. Varus cenſirte den Virail u. Horatz, und dieſe ihn wieder: daher wurden ſie ſo vollkommen. Bavius und Maͤvius waren vor ſich allein klug, und lieſſen ſich nicht cenſiren: darum blieben ſie Stuͤmper. 625 So muß die Zeile weichen. Das iſt eine ſcharfe Cenſur. Viele mey- nen, wenn ſie eine ſchlechte Stelle ihrer Gedichte nicht ausbeſſern koͤnnen, wiewohl ſie alle ihre Muͤhe daran gewandt: ſo ſey es ſchon genug. Sie halten ſich nunmehr ſchon berechtiget, ſie, ſo ſchlecht ſie iſt, ſtehen zu laſſen. Allein vergebens. Es iſt noch ein Mittel uͤbrig. Man ſtreiche ſie gar aus. Ja, ſpricht man, es iſt gleich- wohl ein ſchoͤner Gedancke! Umſonſt, wenn der Verß nicht auch ſchoͤn iſt. Man ſetze einen an die Stelle der noch ſchoͤner iſt, und doch wohl klappt. Ein Poet muß keine Affenliebe gegen ſeine Einfaͤlle haben. 629 Vertheidigte man ſich. Gewiſſe Leute bitten einen um ſeine Cenſur. Man entſchuldigt ſich anfangs, man lobt ſie, man will nicht daran. Allein umſonſt: ſie laſſen nicht nach. Endlich willfaͤhrt man ihnen und erinnert bald hie bald da was. Aber was hilfts? Sie wiſſen alles beſſer. Man ſage was man will: ſie aͤndern dennoch nichts. Was man tadelt, das bewundern ſie deſtomehr, und es ſtecken allzeit verborgene Schoͤnheiten in ihren Fehlern. Was iſt da zu thun? Man mache es wie Varus gethan, und laſſe die Affen gehn. 633 So machts. Dies iſt eine ſchoͤne Stelle vor Poetiſche Geſellſchafften, und andre D 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/79
Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 51. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/79>, abgerufen am 16.05.2024.