Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.
Wird andre Criticos. Sie haben dreyerley Pflichten zu beobachten. Sie müssen ver- bessern, ausmustern und hinzusetzen. Hieher läßt sich alles übrige ziehen. Die Mattigkeit, Härte, Ungeschicklichkeit, Schwülstigkeit, Dunckelheit, Zweydeu- tigkeit u. d. g. das sind die gewöhnlichen Fehler der Gedichte. Darauf hat ein gründ- licher Censor am meisten zu sehen. Und dieses pflegt in der trefflichen Deutschen Gesellschafft allhier fleißig zu geschehen. 639 Aristarch. Das war ein grosser Criticus, der zu den Zeiten Ptolomäi Philadelphi gelebt. Er hat vier und zwanzig Bücher Erklärungen über Homerum, Aristophanem und andre griechische Poeten geschrieben. Es ist Schade, daß diesel- ben verlohren worden. Er hat eine so scharse Beurtheilungs-Krafft im Critisiren gewiesen, daß man ihn einen Propheten genennet; weil ihm das verborgenste klar und entdeckt geschienen. 640 Um nichts verschertzen soll. So machens die Schmeichler. Warum soll ich mir meinen Freund zum Feinde machen? fragen sie. Es mag immer gut seyn. Jch will ihnen ihr Vergnügen nicht stören. Aber das thut nach Horatii Regel kein vir bonus & prudens. 642 Mehr als Kleinigkeiten. Dieß ist sehr vernünftig gesprochen. Kleine Dinge ziehen vielmahl was grosses nach sich. Die Schmeicheley gegen einen Poe- ten macht ihn stoltz. Der Stoltz lehrt ihn hernach alles andre verachten, ja er selbst wird bey Kennern auslachens würdig. Das ärgste ist, daß solche Leute hernach gar aufhören Lehre anzunehmen. Sie halten sich schon vor vollkommen: darum wollen sie sich nicht mehr bessern wenn sie gleich könnten. Jst das nicht zu bedauren? 646 Die Monden-Kranckheit oder Mondsucht. Die Alten glaubten daß
alle diese Kranckheiten ansteckend wären, darum floh man alle diese Leute, als ob sie gar
Wird andre Criticos. Sie haben dreyerley Pflichten zu beobachten. Sie muͤſſen ver- beſſern, ausmuſtern und hinzuſetzen. Hieher laͤßt ſich alles uͤbrige ziehen. Die Mattigkeit, Haͤrte, Ungeſchicklichkeit, Schwuͤlſtigkeit, Dunckelheit, Zweydeu- tigkeit u. d. g. das ſind die gewoͤhnlichen Fehler der Gedichte. Darauf hat ein gruͤnd- licher Cenſor am meiſten zu ſehen. Und dieſes pflegt in der trefflichen Deutſchen Geſellſchafft allhier fleißig zu geſchehen. 639 Ariſtarch. Das war ein groſſer Criticus, der zu den Zeiten Ptolomaͤi Philadelphi gelebt. Er hat vier und zwanzig Buͤcher Erklaͤrungen uͤber Homerum, Ariſtophanem und andre griechiſche Poeten geſchrieben. Es iſt Schade, daß dieſel- ben verlohren worden. Er hat eine ſo ſcharſe Beurtheilungs-Krafft im Critiſiren gewieſen, daß man ihn einen Propheten genennet; weil ihm das verborgenſte klar und entdeckt geſchienen. 640 Um nichts verſchertzen ſoll. So machens die Schmeichler. Warum ſoll ich mir meinen Freund zum Feinde machen? fragen ſie. Es mag immer gut ſeyn. Jch will ihnen ihr Vergnuͤgen nicht ſtoͤren. Aber das thut nach Horatii Regel kein vir bonus & prudens. 642 Mehr als Kleinigkeiten. Dieß iſt ſehr vernuͤnftig geſprochen. Kleine Dinge ziehen vielmahl was groſſes nach ſich. Die Schmeicheley gegen einen Poe- ten macht ihn ſtoltz. Der Stoltz lehrt ihn hernach alles andre verachten, ja er ſelbſt wird bey Kennern auslachens wuͤrdig. Das aͤrgſte iſt, daß ſolche Leute hernach gar aufhoͤren Lehre anzunehmen. Sie halten ſich ſchon vor vollkommen: darum wollen ſie ſich nicht mehr beſſern wenn ſie gleich koͤnnten. Jſt das nicht zu bedauren? 646 Die Monden-Kranckheit oder Mondſucht. Die Alten glaubten daß
alle dieſe Kranckheiten anſteckend waͤren, darum floh man alle dieſe Leute, als ob ſie gar <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <lg type="poem"> <lg n="31"> <l><pb facs="#f0080" n="52"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Horatius von der Dicht-Kunſt.</hi></fw><lb/><note place="left">635</note>Am Rande, wo der Vers was ungeſchicktes zeigt.</l><lb/> <l>Er meiſtert allen Schmuck der gar zu praͤchtig ſteigt.</l><lb/> <l>Was unverſtaͤndlich iſt, das heiſt er klaͤrer machen,</l><lb/> <l>Beſtraft den Doppelſinn und wird in allen Sachen</l><lb/> <l>Ein andrer Ariſtarch. Er fragt nicht Kummer-voll,<lb/><note place="left">640</note>Warum er einen Freund um nichts verſchertzen ſoll?</l><lb/> <l>So ſchlecht dieß alles ſcheint, ſo wirckt es doch zu Zeiten</l><lb/> <l>Jn Wahrheit etwas mehr, als ſchlechte Kleinigkeiten.</l><lb/> <l>Dein ſchmeicheln macht ihn ſtoltz, dein hoͤflicher Betrug</l><lb/> <l>Blaͤſt einen Dichter auf: ſo wird er nimmer klug.<lb/><note place="left">645</note>Und wie man Leute fleucht, die ſich die Kraͤtze ſchaben,</l><lb/> <l>Die Gelbſucht, Raſerey, und Monden-Kranckheit haben;</l><lb/> <l>So wird ein kluger Menſch, vor tollen Dichtern fliehn,</l><lb/> <l>Die Knaben werden ihn, zum Hohngelaͤchter ziehn:</l><lb/> <l>Nur von der dummen Schaar, der Witz und Vorſicht fehlet,<lb/> <fw place="bottom" type="catch">Wird</fw><lb/><note xml:id="f50" prev="#f49" place="foot" n="633">andre Criticos. Sie haben dreyerley Pflichten zu beobachten. Sie muͤſſen ver-<lb/> beſſern, ausmuſtern und hinzuſetzen. Hieher laͤßt ſich alles uͤbrige ziehen. Die<lb/> Mattigkeit, Haͤrte, Ungeſchicklichkeit, Schwuͤlſtigkeit, Dunckelheit, Zweydeu-<lb/> tigkeit u. d. g. das ſind die gewoͤhnlichen Fehler der Gedichte. Darauf hat ein gruͤnd-<lb/> licher Cenſor am meiſten zu ſehen. Und dieſes pflegt in der trefflichen Deutſchen<lb/> Geſellſchafft allhier fleißig zu geſchehen.</note><lb/><note place="foot" n="639"><hi rendition="#fr">Ariſtarch.</hi> Das war ein groſſer Criticus, der zu den Zeiten Ptolomaͤi<lb/> Philadelphi gelebt. Er hat vier und zwanzig Buͤcher Erklaͤrungen uͤber Homerum,<lb/> Ariſtophanem und andre griechiſche Poeten geſchrieben. Es iſt Schade, daß dieſel-<lb/> ben verlohren worden. Er hat eine ſo ſcharſe Beurtheilungs-Krafft im Critiſiren<lb/> gewieſen, daß man ihn einen Propheten genennet; weil ihm das verborgenſte klar<lb/> und entdeckt geſchienen.</note><lb/><note place="foot" n="640"><hi rendition="#fr">Um nichts verſchertzen ſoll.</hi> So machens die Schmeichler. Warum<lb/> ſoll ich mir meinen Freund zum Feinde machen? fragen ſie. Es mag immer gut<lb/> ſeyn. Jch will ihnen ihr Vergnuͤgen nicht ſtoͤren. Aber das thut nach Horatii<lb/> Regel kein <hi rendition="#aq">vir bonus & prudens.</hi></note><lb/><note place="foot" n="642"><hi rendition="#fr">Mehr als Kleinigkeiten.</hi> Dieß iſt ſehr vernuͤnftig geſprochen. Kleine<lb/> Dinge ziehen vielmahl was groſſes nach ſich. Die Schmeicheley gegen einen Poe-<lb/> ten macht ihn ſtoltz. Der Stoltz lehrt ihn hernach alles andre verachten, ja er ſelbſt<lb/> wird bey Kennern auslachens wuͤrdig. Das aͤrgſte iſt, daß ſolche Leute hernach<lb/> gar aufhoͤren Lehre anzunehmen. Sie halten ſich ſchon vor vollkommen: darum<lb/> wollen ſie ſich nicht mehr beſſern wenn ſie gleich koͤnnten. Jſt das nicht zu bedauren?</note><lb/><note xml:id="f51" next="#f52" place="foot" n="646"><hi rendition="#fr">Die Monden-Kranckheit</hi> oder Mondſucht. Die Alten glaubten daß<lb/> alle dieſe Kranckheiten anſteckend waͤren, darum floh man alle dieſe Leute, als ob ſie<lb/> <fw place="bottom" type="catch">gar</fw></note><lb/></l> </lg> </lg> </div> </div> </body> </text> </TEI> [52/0080]
Horatius von der Dicht-Kunſt.
Am Rande, wo der Vers was ungeſchicktes zeigt.
Er meiſtert allen Schmuck der gar zu praͤchtig ſteigt.
Was unverſtaͤndlich iſt, das heiſt er klaͤrer machen,
Beſtraft den Doppelſinn und wird in allen Sachen
Ein andrer Ariſtarch. Er fragt nicht Kummer-voll,
Warum er einen Freund um nichts verſchertzen ſoll?
So ſchlecht dieß alles ſcheint, ſo wirckt es doch zu Zeiten
Jn Wahrheit etwas mehr, als ſchlechte Kleinigkeiten.
Dein ſchmeicheln macht ihn ſtoltz, dein hoͤflicher Betrug
Blaͤſt einen Dichter auf: ſo wird er nimmer klug.
Und wie man Leute fleucht, die ſich die Kraͤtze ſchaben,
Die Gelbſucht, Raſerey, und Monden-Kranckheit haben;
So wird ein kluger Menſch, vor tollen Dichtern fliehn,
Die Knaben werden ihn, zum Hohngelaͤchter ziehn:
Nur von der dummen Schaar, der Witz und Vorſicht fehlet,
Wird
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beſſern, ausmuſtern und hinzuſetzen. Hieher laͤßt ſich alles uͤbrige ziehen. Die
Mattigkeit, Haͤrte, Ungeſchicklichkeit, Schwuͤlſtigkeit, Dunckelheit, Zweydeu-
tigkeit u. d. g. das ſind die gewoͤhnlichen Fehler der Gedichte. Darauf hat ein gruͤnd-
licher Cenſor am meiſten zu ſehen. Und dieſes pflegt in der trefflichen Deutſchen
Geſellſchafft allhier fleißig zu geſchehen.
639 Ariſtarch. Das war ein groſſer Criticus, der zu den Zeiten Ptolomaͤi
Philadelphi gelebt. Er hat vier und zwanzig Buͤcher Erklaͤrungen uͤber Homerum,
Ariſtophanem und andre griechiſche Poeten geſchrieben. Es iſt Schade, daß dieſel-
ben verlohren worden. Er hat eine ſo ſcharſe Beurtheilungs-Krafft im Critiſiren
gewieſen, daß man ihn einen Propheten genennet; weil ihm das verborgenſte klar
und entdeckt geſchienen.
640 Um nichts verſchertzen ſoll. So machens die Schmeichler. Warum
ſoll ich mir meinen Freund zum Feinde machen? fragen ſie. Es mag immer gut
ſeyn. Jch will ihnen ihr Vergnuͤgen nicht ſtoͤren. Aber das thut nach Horatii
Regel kein vir bonus & prudens.
642 Mehr als Kleinigkeiten. Dieß iſt ſehr vernuͤnftig geſprochen. Kleine
Dinge ziehen vielmahl was groſſes nach ſich. Die Schmeicheley gegen einen Poe-
ten macht ihn ſtoltz. Der Stoltz lehrt ihn hernach alles andre verachten, ja er ſelbſt
wird bey Kennern auslachens wuͤrdig. Das aͤrgſte iſt, daß ſolche Leute hernach
gar aufhoͤren Lehre anzunehmen. Sie halten ſich ſchon vor vollkommen: darum
wollen ſie ſich nicht mehr beſſern wenn ſie gleich koͤnnten. Jſt das nicht zu bedauren?
646 Die Monden-Kranckheit oder Mondſucht. Die Alten glaubten daß
alle dieſe Kranckheiten anſteckend waͤren, darum floh man alle dieſe Leute, als ob ſie
gar
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