Mit der Zeit fieng man an die Sylben in poetischen Zei- len etwas genauer abzuzehlen, damit sie sich desto besser zu den Melodeyen schicken möchten. Die Griechen mögen wohl die ersten gewesen seyn die solches gethan, obwohl noch allezeit Lieder bey ihnen im Schwange geblieben, darinn sich die Poe- ten viel Freyheiten heraus nahmen. Man lese nur nach was Scaliger in seiner Poetic, von Dithyrambischen und Päa- nischen Gesängen geschrieben. Ja dieses witzige Volck ließ es auch dabey nicht bewenden. Denn wie es ein sehr zartes Gehör hatte, und also zur Music sehr geschickt und geneigt war: also bemerckte es bald, daß es auch mit der blossen Syl- benzahl in einem Liede nicht ausgerichtet sey. Die eine Zeile hatte immer einen bessern Wohlklang als die andre, wenn sie gleich auf einerley Art gesungen wurden; und bey genauer Aufmercksamkeit fand man, daß die Ursache in der Abwech- selung langer und kurzer Sylben zu suchen wäre. Man be- merckte derowegen, welche Art der Vermischung sich zu die- ser oder jener Gesang-Weise am besten schickte, und daher entstunden sehr viel verschiedene Gattungen der Verße, die in so grosser Menge bey Griechen und Lateinern vorkommen daß man sie fast nicht zehlen kan.
Die nordlichen Völcker, darunter denn auch die Deut- schen gehören, liebten zwar auch das Singen, hatten aber kein so zärtliches Gehör: und verfielen also auch auf dieses künstliche Sylbenmaaß der Griechen und Römer nicht. An dessen statt geriehten sie auf den Gleichlaut der letzten Sylben in zwo Zeilen ihrer Lieder, und fanden ein besonderes Belie- ben an ihrem übereinstimmenden Klange, den sie den Reim nenneten. Sie gewehnten auch ihre Ohren dergestalt daran, daß sie diesen Reim endlich vor das wesentlichste Stück der Poesie hielten, ja die Verße und alle Gedichte überhaupt, nicht anders als Reime nennten. Diesen Reim nun zu haben, sparten sie weder Kunst noch Mühe; ja sie verwehrten sich auch keine Freyheit. Zum wenigsten wusten sie einige Aehn- lichkeit der letzten Worte heraus zu bringen, wenn gleich keine
völlige
und Wachsthume der Poeſie.
Mit der Zeit fieng man an die Sylben in poetiſchen Zei- len etwas genauer abzuzehlen, damit ſie ſich deſto beſſer zu den Melodeyen ſchicken moͤchten. Die Griechen moͤgen wohl die erſten geweſen ſeyn die ſolches gethan, obwohl noch allezeit Lieder bey ihnen im Schwange geblieben, darinn ſich die Poe- ten viel Freyheiten heraus nahmen. Man leſe nur nach was Scaliger in ſeiner Poetic, von Dithyrambiſchen und Paͤa- niſchen Geſaͤngen geſchrieben. Ja dieſes witzige Volck ließ es auch dabey nicht bewenden. Denn wie es ein ſehr zartes Gehoͤr hatte, und alſo zur Muſic ſehr geſchickt und geneigt war: alſo bemerckte es bald, daß es auch mit der bloſſen Syl- benzahl in einem Liede nicht ausgerichtet ſey. Die eine Zeile hatte immer einen beſſern Wohlklang als die andre, wenn ſie gleich auf einerley Art geſungen wurden; und bey genauer Aufmerckſamkeit fand man, daß die Urſache in der Abwech- ſelung langer und kurzer Sylben zu ſuchen waͤre. Man be- merckte derowegen, welche Art der Vermiſchung ſich zu die- ſer oder jener Geſang-Weiſe am beſten ſchickte, und daher entſtunden ſehr viel verſchiedene Gattungen der Verße, die in ſo groſſer Menge bey Griechen und Lateinern vorkommen daß man ſie faſt nicht zehlen kan.
Die nordlichen Voͤlcker, darunter denn auch die Deut- ſchen gehoͤren, liebten zwar auch das Singen, hatten aber kein ſo zaͤrtliches Gehoͤr: und verfielen alſo auch auf dieſes kuͤnſtliche Sylbenmaaß der Griechen und Roͤmer nicht. An deſſen ſtatt geriehten ſie auf den Gleichlaut der letzten Sylben in zwo Zeilen ihrer Lieder, und fanden ein beſonderes Belie- ben an ihrem uͤbereinſtimmenden Klange, den ſie den Reim nenneten. Sie gewehnten auch ihre Ohren dergeſtalt daran, daß ſie dieſen Reim endlich vor das weſentlichſte Stuͤck der Poeſie hielten, ja die Verße und alle Gedichte uͤberhaupt, nicht anders als Reime nennten. Dieſen Reim nun zu haben, ſparten ſie weder Kunſt noch Muͤhe; ja ſie verwehrten ſich auch keine Freyheit. Zum wenigſten wuſten ſie einige Aehn- lichkeit der letzten Worte heraus zu bringen, wenn gleich keine
voͤllige
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und Wachsthume der Poeſie.
Mit der Zeit fieng man an die Sylben in poetiſchen Zei-
len etwas genauer abzuzehlen, damit ſie ſich deſto beſſer zu den
Melodeyen ſchicken moͤchten. Die Griechen moͤgen wohl die
erſten geweſen ſeyn die ſolches gethan, obwohl noch allezeit
Lieder bey ihnen im Schwange geblieben, darinn ſich die Poe-
ten viel Freyheiten heraus nahmen. Man leſe nur nach was
Scaliger in ſeiner Poetic, von Dithyrambiſchen und Paͤa-
niſchen Geſaͤngen geſchrieben. Ja dieſes witzige Volck ließ
es auch dabey nicht bewenden. Denn wie es ein ſehr zartes
Gehoͤr hatte, und alſo zur Muſic ſehr geſchickt und geneigt
war: alſo bemerckte es bald, daß es auch mit der bloſſen Syl-
benzahl in einem Liede nicht ausgerichtet ſey. Die eine Zeile
hatte immer einen beſſern Wohlklang als die andre, wenn ſie
gleich auf einerley Art geſungen wurden; und bey genauer
Aufmerckſamkeit fand man, daß die Urſache in der Abwech-
ſelung langer und kurzer Sylben zu ſuchen waͤre. Man be-
merckte derowegen, welche Art der Vermiſchung ſich zu die-
ſer oder jener Geſang-Weiſe am beſten ſchickte, und daher
entſtunden ſehr viel verſchiedene Gattungen der Verße, die
in ſo groſſer Menge bey Griechen und Lateinern vorkommen
daß man ſie faſt nicht zehlen kan.
Die nordlichen Voͤlcker, darunter denn auch die Deut-
ſchen gehoͤren, liebten zwar auch das Singen, hatten aber
kein ſo zaͤrtliches Gehoͤr: und verfielen alſo auch auf dieſes
kuͤnſtliche Sylbenmaaß der Griechen und Roͤmer nicht. An
deſſen ſtatt geriehten ſie auf den Gleichlaut der letzten Sylben
in zwo Zeilen ihrer Lieder, und fanden ein beſonderes Belie-
ben an ihrem uͤbereinſtimmenden Klange, den ſie den Reim
nenneten. Sie gewehnten auch ihre Ohren dergeſtalt daran,
daß ſie dieſen Reim endlich vor das weſentlichſte Stuͤck der
Poeſie hielten, ja die Verße und alle Gedichte uͤberhaupt,
nicht anders als Reime nennten. Dieſen Reim nun zu haben,
ſparten ſie weder Kunſt noch Muͤhe; ja ſie verwehrten ſich
auch keine Freyheit. Zum wenigſten wuſten ſie einige Aehn-
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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 63. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/91>, abgerufen am 28.11.2024.
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