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Graßmann, Hermann: Die Wissenschaft der extensiven Grösse oder die Ausdehnungslehre, eine neue mathematische Disciplin. Bd. 1. Leipzig, 1844.

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Einleitung.

2. Die formalen Wissenschaften betrachten entweder die all-
gemeinen
Gesetze des Denkens, oder sie betrachten das Beson-
dere
durch das Denken gesetzte, ersteres die Dialektik (Logik),
letzteres die reine Mathematik.

Der Gegensatz zwischen Allgemeinem und Besonderem bedingt
also die Theilung der formalen Wissenschaften in Dialektik und
Mathematik. Die erstere ist eine philosophische Wissenschaft,
indem sie die Einheit in allem Denken aufsucht, die Mathematik
hingegen hat die entgegengesetzte Richtung, indem sie jedes Gedachte
einzeln als ein Besonderes auffasst.

3. Die reine Mathematik ist daher die Wissenschaft des be-
sonderen
Seins als eines durch das Denken gewordenen. Das
besondere Sein, in diesem Sinne aufgefasst, nennen wir eine
Denkform oder schlechtweg eine Form. Daher ist reine Mathe-
matik Formenlehre.

Der Name Grössenlehre eignet nicht der gesammten Mathema-
tik, indem derselbe auf einen wesentlichen Zweig derselben, auf
die Kombinationslehre, keine Anwendung findet, und auf die Arith-
metik auch nur im uneigentlichen Sinne *). Dagegen scheint der Aus-
druck Form wieder zu weit zu sein, und der Name Denkform angemes-
sener; allein die Form in ihrer reinen Bedeutung, abstrahirt von allem
realen Inhalte, ist eben nichts anderes, als die Denkform, und somit der
Ausdruck entsprechend. Ehe wir zur Theilung der Formenlehre über-
gehen, haben wir einen Zweig auszusondern, den man bisher mit Unrecht
ihr zugerechnet hat, nämlich die Geometrie. Schon aus dem oben auf-
gestellten Begriffe leuchtet ein, dass die Geometrie, eben so wie die Me-
chanik, auf ein reales Sein zurückgeht; nämlich dies ist für die Geometrie
der Raum; und es ist klar, wie der Begriff des Raumes keineswe-
ges durch das Denken erzeugt werden kann, sondern demselben

werde hierauf später noch einmal ausführlicher zurückkommen. Hier genüge es,
das Fehlen der Grundsätze in den formalen Wissenschaften als nothwendig dar-
gegethan zu haben.
*) Der Begriff der Grösse wird in der Arithmetik durch den der Anzahl ver-
treten; die Sprache unterscheidet daher sehr wohl vermehren und vermindern,
was der Zahl angehört, von vergrössern und verkleinern, was der Grösse.
Einleitung.

2. Die formalen Wissenschaften betrachten entweder die all-
gemeinen
Gesetze des Denkens, oder sie betrachten das Beson-
dere
durch das Denken gesetzte, ersteres die Dialektik (Logik),
letzteres die reine Mathematik.

Der Gegensatz zwischen Allgemeinem und Besonderem bedingt
also die Theilung der formalen Wissenschaften in Dialektik und
Mathematik. Die erstere ist eine philosophische Wissenschaft,
indem sie die Einheit in allem Denken aufsucht, die Mathematik
hingegen hat die entgegengesetzte Richtung, indem sie jedes Gedachte
einzeln als ein Besonderes auffasst.

3. Die reine Mathematik ist daher die Wissenschaft des be-
sonderen
Seins als eines durch das Denken gewordenen. Das
besondere Sein, in diesem Sinne aufgefasst, nennen wir eine
Denkform oder schlechtweg eine Form. Daher ist reine Mathe-
matik Formenlehre.

Der Name Grössenlehre eignet nicht der gesammten Mathema-
tik, indem derselbe auf einen wesentlichen Zweig derselben, auf
die Kombinationslehre, keine Anwendung findet, und auf die Arith-
metik auch nur im uneigentlichen Sinne *). Dagegen scheint der Aus-
druck Form wieder zu weit zu sein, und der Name Denkform angemes-
sener; allein die Form in ihrer reinen Bedeutung, abstrahirt von allem
realen Inhalte, ist eben nichts anderes, als die Denkform, und somit der
Ausdruck entsprechend. Ehe wir zur Theilung der Formenlehre über-
gehen, haben wir einen Zweig auszusondern, den man bisher mit Unrecht
ihr zugerechnet hat, nämlich die Geometrie. Schon aus dem oben auf-
gestellten Begriffe leuchtet ein, dass die Geometrie, eben so wie die Me-
chanik, auf ein reales Sein zurückgeht; nämlich dies ist für die Geometrie
der Raum; und es ist klar, wie der Begriff des Raumes keineswe-
ges durch das Denken erzeugt werden kann, sondern demselben

werde hierauf später noch einmal ausführlicher zurückkommen. Hier genüge es,
das Fehlen der Grundsätze in den formalen Wissenschaften als nothwendig dar-
gegethan zu haben.
*) Der Begriff der Grösse wird in der Arithmetik durch den der Anzahl ver-
treten; die Sprache unterscheidet daher sehr wohl vermehren und vermindern,
was der Zahl angehört, von vergrössern und verkleinern, was der Grösse.
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[XX/0024] Einleitung. 2. Die formalen Wissenschaften betrachten entweder die all- gemeinen Gesetze des Denkens, oder sie betrachten das Beson- dere durch das Denken gesetzte, ersteres die Dialektik (Logik), letzteres die reine Mathematik. Der Gegensatz zwischen Allgemeinem und Besonderem bedingt also die Theilung der formalen Wissenschaften in Dialektik und Mathematik. Die erstere ist eine philosophische Wissenschaft, indem sie die Einheit in allem Denken aufsucht, die Mathematik hingegen hat die entgegengesetzte Richtung, indem sie jedes Gedachte einzeln als ein Besonderes auffasst. 3. Die reine Mathematik ist daher die Wissenschaft des be- sonderen Seins als eines durch das Denken gewordenen. Das besondere Sein, in diesem Sinne aufgefasst, nennen wir eine Denkform oder schlechtweg eine Form. Daher ist reine Mathe- matik Formenlehre. Der Name Grössenlehre eignet nicht der gesammten Mathema- tik, indem derselbe auf einen wesentlichen Zweig derselben, auf die Kombinationslehre, keine Anwendung findet, und auf die Arith- metik auch nur im uneigentlichen Sinne *). Dagegen scheint der Aus- druck Form wieder zu weit zu sein, und der Name Denkform angemes- sener; allein die Form in ihrer reinen Bedeutung, abstrahirt von allem realen Inhalte, ist eben nichts anderes, als die Denkform, und somit der Ausdruck entsprechend. Ehe wir zur Theilung der Formenlehre über- gehen, haben wir einen Zweig auszusondern, den man bisher mit Unrecht ihr zugerechnet hat, nämlich die Geometrie. Schon aus dem oben auf- gestellten Begriffe leuchtet ein, dass die Geometrie, eben so wie die Me- chanik, auf ein reales Sein zurückgeht; nämlich dies ist für die Geometrie der Raum; und es ist klar, wie der Begriff des Raumes keineswe- ges durch das Denken erzeugt werden kann, sondern demselben *) *) Der Begriff der Grösse wird in der Arithmetik durch den der Anzahl ver- treten; die Sprache unterscheidet daher sehr wohl vermehren und vermindern, was der Zahl angehört, von vergrössern und verkleinern, was der Grösse. *) werde hierauf später noch einmal ausführlicher zurückkommen. Hier genüge es, das Fehlen der Grundsätze in den formalen Wissenschaften als nothwendig dar- gegethan zu haben.

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Zitationshilfe: Graßmann, Hermann: Die Wissenschaft der extensiven Grösse oder die Ausdehnungslehre, eine neue mathematische Disciplin. Bd. 1. Leipzig, 1844, S. XX. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grassmann_ausdehnungslehre_1844/24>, abgerufen am 21.11.2024.