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Die Grenzboten. Erster Jahrgang. Leipzig, 1841.

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als der Tag, der heute ist, ein Ebenbild Gottes und Zeiger der Ewigkeit,
ist er niemals in Unruhe und verzweifelt nimmer. Unterliegt er selbst den
Schwächen, von denen er Andere erlösen will, so wird er vergeblich die
Seinigen zu erklären oder zu entschuldigen suchen. Könige und Dichter, die
sich erklären oder sich entschuldigen, legen ihre Würde nieder und unterwer¬
fen ihre Krone und ihren Lorbeer dem launenhaften Richterspruche der Menge.

Aber, in der That, ich schäme mich Angesichts des herrlichsten Ge¬
nius, den Frankreich besitzt, also zu reden, dessen, den ich selbst in seinen
Fehlern liebe und bewundere. Kann ich, ein armer Mann der Prosa, die
erstarrte Einbildungskraft eines großen Dichters aufrütteln, der die Wir¬
kungen des Morgens nach einem trunkenen Abend verspürt? Gewiß nicht.
Aber es ist weder vom Dichter die Rede, noch von mir, sondern von etwas
ganz anderem. Diese "Gesänge der Dämmerung" sind Kinder der letzten
Revolution und haben die Züge ihrer Mutter; die Wirklichkeit aber war
stärker als die Phantasie, der Dichter unterlag dem Menschen, und der
Mensch seiner Zeit. Herr Victor Hugo saß über seine Zeit zu Gericht, ich
richte über sein Urtheil. Darum handelt es sich.

Was erblicken wir in diesen: neuen Werke Victor Hugo's? Wir sehen
die Flamme des Genius oft verdunkelt durch den Rauch des Schmerzes;
wir nehmen eine ungeduldige Hast wahr, als ob das nahe Ende der Welt
die Strophe zwischen zwei Versen abzubrechen drohte. Der Dichter erscheint
uns unschlüssig, als ob er nicht wisse, wohin er gehe, noch woher er komme,
noch was er bezwecke; da ihm der eine Grundgedanke fehlt, so hat er für
viele Gesänge keine Ueberschrift gefunden, die, dadurch namenlosen Findelkindern
gleichen. Seine Phantasie erscheint uns erschöpft, gähnend vor Langer¬
weile, schwankend zwischen Schlafen und Wachen, zwischen Dichtung und
Prosa; Worte und Gedanken, an die poetische Disciplin gewohnt, reihen
sich, da das Commando ausbleibt, von selbst in metrische Reihen. Wir
sehen einen in düsterem Zorne auf einen unglückseligen Selbstmord geschleu¬
derten wilden Fluch, der uns mehr entsetzt hat, als der scheußliche Leichnam,
über den er sich entladet. Wer den Todten nicht verzeihen kann, wird er
den Lebenden verzeihen?

Le poete, en ses chants ou l'amertume abonde
Refletait, echo triste et calme cependant,
Tout ce que l'ame reve et tout ce que le monde
Chante, beguaie ou dit dans l'ombre en attendant!

Wie aber, wenn der Dichter voll Bitterkeit, wenn er krank war? Wenn
er die Welt heilte, indem er sich selbst Heilung schaffte? Von trüber
Schwermuth erfüllt über den sonderbaren Dämmerungszustand der Seele
und des Zeitalters, worin wir leben, erklärt er nicht zu wissen, ob
jetzt ein Tag ist, der beginnt, oder ein Tag, der scheidet. Aber im Reiche

als der Tag, der heute ist, ein Ebenbild Gottes und Zeiger der Ewigkeit,
ist er niemals in Unruhe und verzweifelt nimmer. Unterliegt er selbst den
Schwächen, von denen er Andere erlösen will, so wird er vergeblich die
Seinigen zu erklären oder zu entschuldigen suchen. Könige und Dichter, die
sich erklären oder sich entschuldigen, legen ihre Würde nieder und unterwer¬
fen ihre Krone und ihren Lorbeer dem launenhaften Richterspruche der Menge.

Aber, in der That, ich schäme mich Angesichts des herrlichsten Ge¬
nius, den Frankreich besitzt, also zu reden, dessen, den ich selbst in seinen
Fehlern liebe und bewundere. Kann ich, ein armer Mann der Prosa, die
erstarrte Einbildungskraft eines großen Dichters aufrütteln, der die Wir¬
kungen des Morgens nach einem trunkenen Abend verspürt? Gewiß nicht.
Aber es ist weder vom Dichter die Rede, noch von mir, sondern von etwas
ganz anderem. Diese „Gesänge der Dämmerung“ sind Kinder der letzten
Revolution und haben die Züge ihrer Mutter; die Wirklichkeit aber war
stärker als die Phantasie, der Dichter unterlag dem Menschen, und der
Mensch seiner Zeit. Herr Victor Hugo saß über seine Zeit zu Gericht, ich
richte über sein Urtheil. Darum handelt es sich.

Was erblicken wir in diesen: neuen Werke Victor Hugo's? Wir sehen
die Flamme des Genius oft verdunkelt durch den Rauch des Schmerzes;
wir nehmen eine ungeduldige Hast wahr, als ob das nahe Ende der Welt
die Strophe zwischen zwei Versen abzubrechen drohte. Der Dichter erscheint
uns unschlüssig, als ob er nicht wisse, wohin er gehe, noch woher er komme,
noch was er bezwecke; da ihm der eine Grundgedanke fehlt, so hat er für
viele Gesänge keine Ueberschrift gefunden, die, dadurch namenlosen Findelkindern
gleichen. Seine Phantasie erscheint uns erschöpft, gähnend vor Langer¬
weile, schwankend zwischen Schlafen und Wachen, zwischen Dichtung und
Prosa; Worte und Gedanken, an die poetische Disciplin gewohnt, reihen
sich, da das Commando ausbleibt, von selbst in metrische Reihen. Wir
sehen einen in düsterem Zorne auf einen unglückseligen Selbstmord geschleu¬
derten wilden Fluch, der uns mehr entsetzt hat, als der scheußliche Leichnam,
über den er sich entladet. Wer den Todten nicht verzeihen kann, wird er
den Lebenden verzeihen?

Le poète, en ses chants ou l'amertume abonde
Refletait, écho triste et calme cependant,
Tout ce que l'ame rêve et tout ce que le monde
Chante, béguaie ou dit dans l'ombre en attendant!

Wie aber, wenn der Dichter voll Bitterkeit, wenn er krank war? Wenn
er die Welt heilte, indem er sich selbst Heilung schaffte? Von trüber
Schwermuth erfüllt über den sonderbaren Dämmerungszustand der Seele
und des Zeitalters, worin wir leben, erklärt er nicht zu wissen, ob
jetzt ein Tag ist, der beginnt, oder ein Tag, der scheidet. Aber im Reiche

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[107/0115] als der Tag, der heute ist, ein Ebenbild Gottes und Zeiger der Ewigkeit, ist er niemals in Unruhe und verzweifelt nimmer. Unterliegt er selbst den Schwächen, von denen er Andere erlösen will, so wird er vergeblich die Seinigen zu erklären oder zu entschuldigen suchen. Könige und Dichter, die sich erklären oder sich entschuldigen, legen ihre Würde nieder und unterwer¬ fen ihre Krone und ihren Lorbeer dem launenhaften Richterspruche der Menge. Aber, in der That, ich schäme mich Angesichts des herrlichsten Ge¬ nius, den Frankreich besitzt, also zu reden, dessen, den ich selbst in seinen Fehlern liebe und bewundere. Kann ich, ein armer Mann der Prosa, die erstarrte Einbildungskraft eines großen Dichters aufrütteln, der die Wir¬ kungen des Morgens nach einem trunkenen Abend verspürt? Gewiß nicht. Aber es ist weder vom Dichter die Rede, noch von mir, sondern von etwas ganz anderem. Diese „Gesänge der Dämmerung“ sind Kinder der letzten Revolution und haben die Züge ihrer Mutter; die Wirklichkeit aber war stärker als die Phantasie, der Dichter unterlag dem Menschen, und der Mensch seiner Zeit. Herr Victor Hugo saß über seine Zeit zu Gericht, ich richte über sein Urtheil. Darum handelt es sich. Was erblicken wir in diesen: neuen Werke Victor Hugo's? Wir sehen die Flamme des Genius oft verdunkelt durch den Rauch des Schmerzes; wir nehmen eine ungeduldige Hast wahr, als ob das nahe Ende der Welt die Strophe zwischen zwei Versen abzubrechen drohte. Der Dichter erscheint uns unschlüssig, als ob er nicht wisse, wohin er gehe, noch woher er komme, noch was er bezwecke; da ihm der eine Grundgedanke fehlt, so hat er für viele Gesänge keine Ueberschrift gefunden, die, dadurch namenlosen Findelkindern gleichen. Seine Phantasie erscheint uns erschöpft, gähnend vor Langer¬ weile, schwankend zwischen Schlafen und Wachen, zwischen Dichtung und Prosa; Worte und Gedanken, an die poetische Disciplin gewohnt, reihen sich, da das Commando ausbleibt, von selbst in metrische Reihen. Wir sehen einen in düsterem Zorne auf einen unglückseligen Selbstmord geschleu¬ derten wilden Fluch, der uns mehr entsetzt hat, als der scheußliche Leichnam, über den er sich entladet. Wer den Todten nicht verzeihen kann, wird er den Lebenden verzeihen? Le poète, en ses chants ou l'amertume abonde Refletait, écho triste et calme cependant, Tout ce que l'ame rêve et tout ce que le monde Chante, béguaie ou dit dans l'ombre en attendant! Wie aber, wenn der Dichter voll Bitterkeit, wenn er krank war? Wenn er die Welt heilte, indem er sich selbst Heilung schaffte? Von trüber Schwermuth erfüllt über den sonderbaren Dämmerungszustand der Seele und des Zeitalters, worin wir leben, erklärt er nicht zu wissen, ob jetzt ein Tag ist, der beginnt, oder ein Tag, der scheidet. Aber im Reiche

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Erster Jahrgang. Leipzig, 1841, S. 107. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_179382_282158/115>, abgerufen am 24.11.2024.