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Die Grenzboten. Erster Jahrgang. Leipzig, 1841.

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der Dichtung geht die Sonne niemals unter, die Welt der Dichtung ist von
Kristall und durchsichtig, der Dichter braucht sie nicht zu umsegeln um auf
der andern Halbkugel anzukommen, um in der Zukunft zu leben. Der
gewöhnliche Mensch begnügt sich mit der Hoffnung, der Mutter der Ver¬
zweiflung, Gewißheit ist nur die Gefährtin des Dichters und des Sehers.

Wir müssen unsern Dichter an eine Lehre erinnern, die er uns gegeben,
die er aber selbst nicht benutzt hat:

Marchons les yeux toujours tournes vers le soleil,
Nous ne verrons pas l'ombre!

Wir machen ihn auf folgende Verse aufmerksam, ob er sie gleich
ganz anders angewendet hat[:]

Ils tombent comme nous, malgre leur fol orgueil
Et leur vaine amertume;
Les flots les plus hautains, des quil vient un ecueil,
S'ecroulent en ecume.

Ehemals Gefangene der classischen Schule, habt Ihr jetzt als Kerker¬
meister der romantischen bedeutend an Unbefangenheit verloren und wenig
an Freiheit gewonnen.

Wäre die Poesie wirklich eine Krankheit der Seele, so wären die classi¬
schen Schmerzen den romantischen immer noch bei Weitem vorzuziehen. Jene
sind einfach, wenig verwickelt, leicht zu erkennen, und leicht zu heilen. Liebe,
Haß, Eifersucht, Ehrgeiz, Fanatismus, das ist beinahe das vollständige
Krankheitsregister eines Hospitals des Classicismus. Wo aber ein Heilmittel
finden, für ein Uebel, das in jeder Viertelstunde nach allen Weltgegenden
hinstreift? Woher Linderung nehmen, wenn Ihr selbst nicht wisset, was
Euch fehlt und worüber Ihr klagt. Nein, die Dichtung ist die Gesundheit
der Seele, Ihr glaubt krank zu sein, seid es aber doch nicht, Ihr leidet an
Hypochondrie. Davon laßt uns ein wenig reden. Wir Deutsche können
davon ein klein Wörtchen mitsprechen.

Euch fehlt die Uebung; Ihr macht Eurem Gemüthe zu wenig Bewegung.
Ihr verlaßt die Chaussee d'Antin um nach dem Palais royal und auf den Tuil¬
lerien zu gehen, Ihr verlaßt die Tuillerien, um auf demselben Weg nach
dem Palais royal zurückzukehren. Was tiefer liegt in Eurem Innern, seid
Ihr an Eure hübsche niedliche Sprache gebunden, welche Euch lächelnd an
einen seidnen Faden hält. Davon hüpft Ihr denn hin und wieder und
macht Euch über die ganze andere Welt lustig, die so hart ist und so holp¬
rig, ganz von Stein und Holz. Wagt es, Euch frei zu machen, sucht das
Wörterbuch der französischen Academie zu vergessen und fremde Sprachen
zu erlernen. Verlaßt Paris; macht Reisen, aber nicht so, wie Ihr ge¬
wohnt seid, Reisen zu machen, rückwärts gehend. Das Angesicht immer nach

der Dichtung geht die Sonne niemals unter, die Welt der Dichtung ist von
Kristall und durchsichtig, der Dichter braucht sie nicht zu umsegeln um auf
der andern Halbkugel anzukommen, um in der Zukunft zu leben. Der
gewöhnliche Mensch begnügt sich mit der Hoffnung, der Mutter der Ver¬
zweiflung, Gewißheit ist nur die Gefährtin des Dichters und des Sehers.

Wir müssen unsern Dichter an eine Lehre erinnern, die er uns gegeben,
die er aber selbst nicht benutzt hat:

Marchons les yeux toujours tournés vers le soleil,
Nous ne verrons pas l’ombre!

Wir machen ihn auf folgende Verse aufmerksam, ob er sie gleich
ganz anders angewendet hat[:]

Ils tombent comme nous, malgré leur fol orgueil
Et leur vaine amertume;
Les flots les plus hautains, dès quil vient un écueil,
S’écroulent en écume.

Ehemals Gefangene der classischen Schule, habt Ihr jetzt als Kerker¬
meister der romantischen bedeutend an Unbefangenheit verloren und wenig
an Freiheit gewonnen.

Wäre die Poesie wirklich eine Krankheit der Seele, so wären die classi¬
schen Schmerzen den romantischen immer noch bei Weitem vorzuziehen. Jene
sind einfach, wenig verwickelt, leicht zu erkennen, und leicht zu heilen. Liebe,
Haß, Eifersucht, Ehrgeiz, Fanatismus, das ist beinahe das vollständige
Krankheitsregister eines Hospitals des Classicismus. Wo aber ein Heilmittel
finden, für ein Uebel, das in jeder Viertelstunde nach allen Weltgegenden
hinstreift? Woher Linderung nehmen, wenn Ihr selbst nicht wisset, was
Euch fehlt und worüber Ihr klagt. Nein, die Dichtung ist die Gesundheit
der Seele, Ihr glaubt krank zu sein, seid es aber doch nicht, Ihr leidet an
Hypochondrie. Davon laßt uns ein wenig reden. Wir Deutsche können
davon ein klein Wörtchen mitsprechen.

Euch fehlt die Uebung; Ihr macht Eurem Gemüthe zu wenig Bewegung.
Ihr verlaßt die Chaussee d'Antin um nach dem Palais royal und auf den Tuil¬
lerien zu gehen, Ihr verlaßt die Tuillerien, um auf demselben Weg nach
dem Palais royal zurückzukehren. Was tiefer liegt in Eurem Innern, seid
Ihr an Eure hübsche niedliche Sprache gebunden, welche Euch lächelnd an
einen seidnen Faden hält. Davon hüpft Ihr denn hin und wieder und
macht Euch über die ganze andere Welt lustig, die so hart ist und so holp¬
rig, ganz von Stein und Holz. Wagt es, Euch frei zu machen, sucht das
Wörterbuch der französischen Academie zu vergessen und fremde Sprachen
zu erlernen. Verlaßt Paris; macht Reisen, aber nicht so, wie Ihr ge¬
wohnt seid, Reisen zu machen, rückwärts gehend. Das Angesicht immer nach

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[108/0116] der Dichtung geht die Sonne niemals unter, die Welt der Dichtung ist von Kristall und durchsichtig, der Dichter braucht sie nicht zu umsegeln um auf der andern Halbkugel anzukommen, um in der Zukunft zu leben. Der gewöhnliche Mensch begnügt sich mit der Hoffnung, der Mutter der Ver¬ zweiflung, Gewißheit ist nur die Gefährtin des Dichters und des Sehers. Wir müssen unsern Dichter an eine Lehre erinnern, die er uns gegeben, die er aber selbst nicht benutzt hat: Marchons les yeux toujours tournés vers le soleil, Nous ne verrons pas l’ombre! Wir machen ihn auf folgende Verse aufmerksam, ob er sie gleich ganz anders angewendet hat: Ils tombent comme nous, malgré leur fol orgueil Et leur vaine amertume; Les flots les plus hautains, dès quil vient un écueil, S’écroulent en écume. Ehemals Gefangene der classischen Schule, habt Ihr jetzt als Kerker¬ meister der romantischen bedeutend an Unbefangenheit verloren und wenig an Freiheit gewonnen. Wäre die Poesie wirklich eine Krankheit der Seele, so wären die classi¬ schen Schmerzen den romantischen immer noch bei Weitem vorzuziehen. Jene sind einfach, wenig verwickelt, leicht zu erkennen, und leicht zu heilen. Liebe, Haß, Eifersucht, Ehrgeiz, Fanatismus, das ist beinahe das vollständige Krankheitsregister eines Hospitals des Classicismus. Wo aber ein Heilmittel finden, für ein Uebel, das in jeder Viertelstunde nach allen Weltgegenden hinstreift? Woher Linderung nehmen, wenn Ihr selbst nicht wisset, was Euch fehlt und worüber Ihr klagt. Nein, die Dichtung ist die Gesundheit der Seele, Ihr glaubt krank zu sein, seid es aber doch nicht, Ihr leidet an Hypochondrie. Davon laßt uns ein wenig reden. Wir Deutsche können davon ein klein Wörtchen mitsprechen. Euch fehlt die Uebung; Ihr macht Eurem Gemüthe zu wenig Bewegung. Ihr verlaßt die Chaussee d'Antin um nach dem Palais royal und auf den Tuil¬ lerien zu gehen, Ihr verlaßt die Tuillerien, um auf demselben Weg nach dem Palais royal zurückzukehren. Was tiefer liegt in Eurem Innern, seid Ihr an Eure hübsche niedliche Sprache gebunden, welche Euch lächelnd an einen seidnen Faden hält. Davon hüpft Ihr denn hin und wieder und macht Euch über die ganze andere Welt lustig, die so hart ist und so holp¬ rig, ganz von Stein und Holz. Wagt es, Euch frei zu machen, sucht das Wörterbuch der französischen Academie zu vergessen und fremde Sprachen zu erlernen. Verlaßt Paris; macht Reisen, aber nicht so, wie Ihr ge¬ wohnt seid, Reisen zu machen, rückwärts gehend. Das Angesicht immer nach

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Erster Jahrgang. Leipzig, 1841, S. 108. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_179382_282158/116>, abgerufen am 21.11.2024.