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Die Grenzboten. Erster Jahrgang. Leipzig, 1841.

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geschminkten Wangen und großer Deklamation, nur die Worte wiederholen, die
der unsichtbare Herr im Soufleurkasten ihnen einbläst, und die ungedul[dig]
auf die Beendigung der Comödie warten, um nach Hause zu eilen und
ihre Privatgenüsse und Leidenschaften zu stillen.

Der geistreiche Schauspieler ergötzt uns auch in einem unmoralischen
Stücke, der geistreiche Advokat stachelt das Interesse, auch wenn er einer unge¬
rechten Sache dient; denn Geist und Witz haben einen Cultus, der an und für sich
bestehet. Von diesem Gesichtspunkte aus, und unabhängig von ihrem po¬
litischen Glaubensbekenntniß mögen unsere Leser die Satyre Bossanges,
welche wir hier mittheilen, hinnehmen. Wir betrachten sie von ihrer literari¬
schen Seite, und als solche müssen wir eingestehen, ist sie eine der witzigsten
Produktionen die je aus der Feder eines Satyrikers geflossen ist.

Für den Politiker bietet sie überdies noch das Interesse, daß wir durch
sie einen tiefen Blick in die Prinzipien und Träume der legitimistischen
Parthei erhalten. Die Satyre führt den Titel: "Apocryphische Ge¬
schichte Frankreichs von 1830 bis auf den heutigen Tag.
"

"Wir genießen", beginnt sie, "seit elf Jahren eines so vollkommenen Glückes,
so ungestörter Ruhe und Sicherheit, Frankreich ist so mächtig und stolz,
daß die Publicisten ihre Feder weggeworfen haben würden, wenn sie nicht
auf eine der originellsten und kühnsten Mystifikationen verfallen wären. Sie
haben unterstellt, die Begebenheiten von 1830 hätten eine Revolution zur
Folge gehabt. Gestützt auf diese Hypothese, haben sie sich die Zeit damit
vertrieben, eine geistreiche Geschichte dieser elf Jahre zu erdenken, die sie
sehr geschickt von Jahr zu Jahr bis heute fort erzählen. Sie haben einen
nagelneuen Thron errichtet, sie haben Ministerien eingesetzt, die sich mit
reißender Schnelligkeit einander folgten, haben von kostspieligen und unfrucht¬
baren Kriegen erzählt, Aufruhr und Gemetzel erdichtet, und niederträchtige
Überrumpelungen; sie fabeln von einem furchtbaren Deficit, von einer voll¬
ständigen gesellschaftlichen Zerrüttung, und daß Frankreich den ihm so lange
zugestandenen Vorrang unter den Nationen verloren habe. Dieser Geschichte
fehlt nichts, als Wahrheit, und das ist wenig. Sie ist sehr bekannt geworden
und das freut mich der Autoren wegen, denn ihr Werk enthält wichtige Lehren
und eine hohe Moral. Sie haben mit so vieler Kunst die unheilbringenden
Folgen auseinander gesetzt, die aus der Mißachtung der Principien fließen,
sie haben so wohl den Schleier zerrissen, worin die Corruption so häufig sich
hüllt, daß ich nicht glaube, daß irgend eine Lectüre so sehr von Revolutionen
abschreckt; wenn nun bald die Zeit kommen sollte, wo es keine Revolutionäre
mehr giebt, so gestehe ich ohne Zaudern dieser interessanten Lektüre die Ehre
zu, es bewirkt zu haben. Ich möchte manchmal wünschen, sie sei wirklich
wahr, damit die Nutzanwendung deutlicher sei, aber sie ist erdichtet, das

geschminkten Wangen und großer Deklamation, nur die Worte wiederholen, die
der unsichtbare Herr im Soufleurkasten ihnen einbläst, und die ungedul[dig]
auf die Beendigung der Comödie warten, um nach Hause zu eilen und
ihre Privatgenüsse und Leidenschaften zu stillen.

Der geistreiche Schauspieler ergötzt uns auch in einem unmoralischen
Stücke, der geistreiche Advokat stachelt das Interesse, auch wenn er einer unge¬
rechten Sache dient; denn Geist und Witz haben einen Cultus, der an und für sich
bestehet. Von diesem Gesichtspunkte aus, und unabhängig von ihrem po¬
litischen Glaubensbekenntniß mögen unsere Leser die Satyre Bossanges,
welche wir hier mittheilen, hinnehmen. Wir betrachten sie von ihrer literari¬
schen Seite, und als solche müssen wir eingestehen, ist sie eine der witzigsten
Produktionen die je aus der Feder eines Satyrikers geflossen ist.

Für den Politiker bietet sie überdies noch das Interesse, daß wir durch
sie einen tiefen Blick in die Prinzipien und Träume der legitimistischen
Parthei erhalten. Die Satyre führt den Titel: „Apocryphische Ge¬
schichte Frankreichs von 1830 bis auf den heutigen Tag.

„Wir genießen“, beginnt sie, „seit elf Jahren eines so vollkommenen Glückes,
so ungestörter Ruhe und Sicherheit, Frankreich ist so mächtig und stolz,
daß die Publicisten ihre Feder weggeworfen haben würden, wenn sie nicht
auf eine der originellsten und kühnsten Mystifikationen verfallen wären. Sie
haben unterstellt, die Begebenheiten von 1830 hätten eine Revolution zur
Folge gehabt. Gestützt auf diese Hypothese, haben sie sich die Zeit damit
vertrieben, eine geistreiche Geschichte dieser elf Jahre zu erdenken, die sie
sehr geschickt von Jahr zu Jahr bis heute fort erzählen. Sie haben einen
nagelneuen Thron errichtet, sie haben Ministerien eingesetzt, die sich mit
reißender Schnelligkeit einander folgten, haben von kostspieligen und unfrucht¬
baren Kriegen erzählt, Aufruhr und Gemetzel erdichtet, und niederträchtige
Überrumpelungen; sie fabeln von einem furchtbaren Deficit, von einer voll¬
ständigen gesellschaftlichen Zerrüttung, und daß Frankreich den ihm so lange
zugestandenen Vorrang unter den Nationen verloren habe. Dieser Geschichte
fehlt nichts, als Wahrheit, und das ist wenig. Sie ist sehr bekannt geworden
und das freut mich der Autoren wegen, denn ihr Werk enthält wichtige Lehren
und eine hohe Moral. Sie haben mit so vieler Kunst die unheilbringenden
Folgen auseinander gesetzt, die aus der Mißachtung der Principien fließen,
sie haben so wohl den Schleier zerrissen, worin die Corruption so häufig sich
hüllt, daß ich nicht glaube, daß irgend eine Lectüre so sehr von Revolutionen
abschreckt; wenn nun bald die Zeit kommen sollte, wo es keine Revolutionäre
mehr giebt, so gestehe ich ohne Zaudern dieser interessanten Lektüre die Ehre
zu, es bewirkt zu haben. Ich möchte manchmal wünschen, sie sei wirklich
wahr, damit die Nutzanwendung deutlicher sei, aber sie ist erdichtet, das

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[187/0195] geschminkten Wangen und großer Deklamation, nur die Worte wiederholen, die der unsichtbare Herr im Soufleurkasten ihnen einbläst, und die ungeduldig auf die Beendigung der Comödie warten, um nach Hause zu eilen und ihre Privatgenüsse und Leidenschaften zu stillen. Der geistreiche Schauspieler ergötzt uns auch in einem unmoralischen Stücke, der geistreiche Advokat stachelt das Interesse, auch wenn er einer unge¬ rechten Sache dient; denn Geist und Witz haben einen Cultus, der an und für sich bestehet. Von diesem Gesichtspunkte aus, und unabhängig von ihrem po¬ litischen Glaubensbekenntniß mögen unsere Leser die Satyre Bossanges, welche wir hier mittheilen, hinnehmen. Wir betrachten sie von ihrer literari¬ schen Seite, und als solche müssen wir eingestehen, ist sie eine der witzigsten Produktionen die je aus der Feder eines Satyrikers geflossen ist. Für den Politiker bietet sie überdies noch das Interesse, daß wir durch sie einen tiefen Blick in die Prinzipien und Träume der legitimistischen Parthei erhalten. Die Satyre führt den Titel: „Apocryphische Ge¬ schichte Frankreichs von 1830 bis auf den heutigen Tag.“ „Wir genießen“, beginnt sie, „seit elf Jahren eines so vollkommenen Glückes, so ungestörter Ruhe und Sicherheit, Frankreich ist so mächtig und stolz, daß die Publicisten ihre Feder weggeworfen haben würden, wenn sie nicht auf eine der originellsten und kühnsten Mystifikationen verfallen wären. Sie haben unterstellt, die Begebenheiten von 1830 hätten eine Revolution zur Folge gehabt. Gestützt auf diese Hypothese, haben sie sich die Zeit damit vertrieben, eine geistreiche Geschichte dieser elf Jahre zu erdenken, die sie sehr geschickt von Jahr zu Jahr bis heute fort erzählen. Sie haben einen nagelneuen Thron errichtet, sie haben Ministerien eingesetzt, die sich mit reißender Schnelligkeit einander folgten, haben von kostspieligen und unfrucht¬ baren Kriegen erzählt, Aufruhr und Gemetzel erdichtet, und niederträchtige Überrumpelungen; sie fabeln von einem furchtbaren Deficit, von einer voll¬ ständigen gesellschaftlichen Zerrüttung, und daß Frankreich den ihm so lange zugestandenen Vorrang unter den Nationen verloren habe. Dieser Geschichte fehlt nichts, als Wahrheit, und das ist wenig. Sie ist sehr bekannt geworden und das freut mich der Autoren wegen, denn ihr Werk enthält wichtige Lehren und eine hohe Moral. Sie haben mit so vieler Kunst die unheilbringenden Folgen auseinander gesetzt, die aus der Mißachtung der Principien fließen, sie haben so wohl den Schleier zerrissen, worin die Corruption so häufig sich hüllt, daß ich nicht glaube, daß irgend eine Lectüre so sehr von Revolutionen abschreckt; wenn nun bald die Zeit kommen sollte, wo es keine Revolutionäre mehr giebt, so gestehe ich ohne Zaudern dieser interessanten Lektüre die Ehre zu, es bewirkt zu haben. Ich möchte manchmal wünschen, sie sei wirklich wahr, damit die Nutzanwendung deutlicher sei, aber sie ist erdichtet, das

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Bayerische Staatbibliothek: Bereitstellung der Bilddigitalisate (Signatur Per 61 k-1). (2013-11-19T17:23:38Z)

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Erster Jahrgang. Leipzig, 1841, S. 187. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_179382_282158/195>, abgerufen am 21.11.2024.