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Die Grenzboten. Erster Jahrgang. Leipzig, 1841.

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in die verlebte Novellenliteratur, wie sie auch in: Drama längst über¬
wunden ist, wo sie sich als Gattung geltend machen wollte.

Die Dornen, Erzählung von Wilhelm Müller, ist in leben¬
diger, anschaulicher Weise geschrieben. Eine moralische, ernste Grund¬
lage trägt das Ganze. Eleonore, die Heldin der Novelle, erzählt einer
Freundin die Geschichte ihres Lebens, -- ein Bekenntniß kalten Stolzes,
herzloser Eitelkeit, wodurch sie über den ihr ergebenen, aber verschmähten
Liebhaber empörende Prüfungen, über ihren Vater und sich selbst das äu¬
ßerste Elend häuft. -- Schon als Kind zeigt Eleonore jene Grausamkeit,
welche, weil sie aus dem Naturell stammt, aller Folgen spottet. Ein
blondlockiger, märchenerzählender Knabe, Sohn des Malers Mohrahl,
soll ihr eine Rose pflücken, die von einem Abhange der Tharandter Hügel
das Auge des Kindes lockt. Der Knabe kann sie nicht erreichen, da drückt
die erzürnte Kleine ihm das Gesicht in die Dornen, er stürzt, und wird
unten in der Felskluft, blutend, mit gräßlich zerfurchtem Gesicht aufgeho¬
ben. Diese Unart ist das Vorspiel zu mehreren, der ersten nicht sehr un¬
ähnlichen Scenen. Die Vergnügungen der großen Welt, die gleißende
Schmeichelei der Gesellschaft, ersticken in der jungen Dame jedes tiefere
Gefühl. Mehr als einmal wagt der Jüngling das Leben für eine Laune
des stolzen Mädchens. Mehr als einmal werden wir über die Schluchten,
an die Felsenränder der sächsischen Schweiz geführt. Eleonore schenkt ihre
Hand, ohne Liebe, dem Baron Edgar, einem treulosen Glücksjäger, wel¬
cher in den Tagen der Befreiungskämpfe zu den Franzosen übertritt, indem
er das gesammte Vermögen seines Schwiegervaters mit sich nimmt. Der
Alte fällt darüber in Wahnsinn. Im Verein mit ihrem unverbrüchlichen
Freunde und Helfer in der Noth -- denn sie ist jetzt aller Mittel beraubt --
widmet sich die Tochter der Pflege desselben. Dennoch verläßt sie den
Freund und Vater, verlockt von ihrem Gatten, dessen Verrath in ihren
Augen durch Gold und Rang überstrahlt wird. Der Vater stirbt vor
Gram. Um diese Zeit fällt die große Schlacht von Leipzig in die Geschichte
ein. Am dritten Tage eilt Eleonore auf das Feld; sie sieht, wie ihr Ge¬
mahl auf dem Flusse, von einer Kugel getroffen wird; Mohrahl rettet, auf
ihr Geheiß, den Todtverwundeten ans Ufer, wird aber selbst von der Ge¬
walt der Fluthen und des Getümmels in den Strom zurückgeworfen. Es
findet sich zuletzt, daß Edgar mit einem zweiten Weibe vermählt war.
-- "Ich hatte kein Mitleid mit seinem Sterben, und es war mir, als
müsse ich im fühllosen Hohn wie er auflachen. Da ich aber mein Auge
abwandte, fiel es auf den Armen, den ich, um des Falschen willen, in

in die verlebte Novellenliteratur, wie sie auch in: Drama längst über¬
wunden ist, wo sie sich als Gattung geltend machen wollte.

Die Dornen, Erzählung von Wilhelm Müller, ist in leben¬
diger, anschaulicher Weise geschrieben. Eine moralische, ernste Grund¬
lage trägt das Ganze. Eleonore, die Heldin der Novelle, erzählt einer
Freundin die Geschichte ihres Lebens, — ein Bekenntniß kalten Stolzes,
herzloser Eitelkeit, wodurch sie über den ihr ergebenen, aber verschmähten
Liebhaber empörende Prüfungen, über ihren Vater und sich selbst das äu¬
ßerste Elend häuft. — Schon als Kind zeigt Eleonore jene Grausamkeit,
welche, weil sie aus dem Naturell stammt, aller Folgen spottet. Ein
blondlockiger, märchenerzählender Knabe, Sohn des Malers Mohrahl,
soll ihr eine Rose pflücken, die von einem Abhange der Tharandter Hügel
das Auge des Kindes lockt. Der Knabe kann sie nicht erreichen, da drückt
die erzürnte Kleine ihm das Gesicht in die Dornen, er stürzt, und wird
unten in der Felskluft, blutend, mit gräßlich zerfurchtem Gesicht aufgeho¬
ben. Diese Unart ist das Vorspiel zu mehreren, der ersten nicht sehr un¬
ähnlichen Scenen. Die Vergnügungen der großen Welt, die gleißende
Schmeichelei der Gesellschaft, ersticken in der jungen Dame jedes tiefere
Gefühl. Mehr als einmal wagt der Jüngling das Leben für eine Laune
des stolzen Mädchens. Mehr als einmal werden wir über die Schluchten,
an die Felsenränder der sächsischen Schweiz geführt. Eleonore schenkt ihre
Hand, ohne Liebe, dem Baron Edgar, einem treulosen Glücksjäger, wel¬
cher in den Tagen der Befreiungskämpfe zu den Franzosen übertritt, indem
er das gesammte Vermögen seines Schwiegervaters mit sich nimmt. Der
Alte fällt darüber in Wahnsinn. Im Verein mit ihrem unverbrüchlichen
Freunde und Helfer in der Noth — denn sie ist jetzt aller Mittel beraubt —
widmet sich die Tochter der Pflege desselben. Dennoch verläßt sie den
Freund und Vater, verlockt von ihrem Gatten, dessen Verrath in ihren
Augen durch Gold und Rang überstrahlt wird. Der Vater stirbt vor
Gram. Um diese Zeit fällt die große Schlacht von Leipzig in die Geschichte
ein. Am dritten Tage eilt Eleonore auf das Feld; sie sieht, wie ihr Ge¬
mahl auf dem Flusse, von einer Kugel getroffen wird; Mohrahl rettet, auf
ihr Geheiß, den Todtverwundeten ans Ufer, wird aber selbst von der Ge¬
walt der Fluthen und des Getümmels in den Strom zurückgeworfen. Es
findet sich zuletzt, daß Edgar mit einem zweiten Weibe vermählt war.
— „Ich hatte kein Mitleid mit seinem Sterben, und es war mir, als
müsse ich im fühllosen Hohn wie er auflachen. Da ich aber mein Auge
abwandte, fiel es auf den Armen, den ich, um des Falschen willen, in

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[202/0210] in die verlebte Novellenliteratur, wie sie auch in: Drama längst über¬ wunden ist, wo sie sich als Gattung geltend machen wollte. Die Dornen, Erzählung von Wilhelm Müller, ist in leben¬ diger, anschaulicher Weise geschrieben. Eine moralische, ernste Grund¬ lage trägt das Ganze. Eleonore, die Heldin der Novelle, erzählt einer Freundin die Geschichte ihres Lebens, — ein Bekenntniß kalten Stolzes, herzloser Eitelkeit, wodurch sie über den ihr ergebenen, aber verschmähten Liebhaber empörende Prüfungen, über ihren Vater und sich selbst das äu¬ ßerste Elend häuft. — Schon als Kind zeigt Eleonore jene Grausamkeit, welche, weil sie aus dem Naturell stammt, aller Folgen spottet. Ein blondlockiger, märchenerzählender Knabe, Sohn des Malers Mohrahl, soll ihr eine Rose pflücken, die von einem Abhange der Tharandter Hügel das Auge des Kindes lockt. Der Knabe kann sie nicht erreichen, da drückt die erzürnte Kleine ihm das Gesicht in die Dornen, er stürzt, und wird unten in der Felskluft, blutend, mit gräßlich zerfurchtem Gesicht aufgeho¬ ben. Diese Unart ist das Vorspiel zu mehreren, der ersten nicht sehr un¬ ähnlichen Scenen. Die Vergnügungen der großen Welt, die gleißende Schmeichelei der Gesellschaft, ersticken in der jungen Dame jedes tiefere Gefühl. Mehr als einmal wagt der Jüngling das Leben für eine Laune des stolzen Mädchens. Mehr als einmal werden wir über die Schluchten, an die Felsenränder der sächsischen Schweiz geführt. Eleonore schenkt ihre Hand, ohne Liebe, dem Baron Edgar, einem treulosen Glücksjäger, wel¬ cher in den Tagen der Befreiungskämpfe zu den Franzosen übertritt, indem er das gesammte Vermögen seines Schwiegervaters mit sich nimmt. Der Alte fällt darüber in Wahnsinn. Im Verein mit ihrem unverbrüchlichen Freunde und Helfer in der Noth — denn sie ist jetzt aller Mittel beraubt — widmet sich die Tochter der Pflege desselben. Dennoch verläßt sie den Freund und Vater, verlockt von ihrem Gatten, dessen Verrath in ihren Augen durch Gold und Rang überstrahlt wird. Der Vater stirbt vor Gram. Um diese Zeit fällt die große Schlacht von Leipzig in die Geschichte ein. Am dritten Tage eilt Eleonore auf das Feld; sie sieht, wie ihr Ge¬ mahl auf dem Flusse, von einer Kugel getroffen wird; Mohrahl rettet, auf ihr Geheiß, den Todtverwundeten ans Ufer, wird aber selbst von der Ge¬ walt der Fluthen und des Getümmels in den Strom zurückgeworfen. Es findet sich zuletzt, daß Edgar mit einem zweiten Weibe vermählt war. — „Ich hatte kein Mitleid mit seinem Sterben, und es war mir, als müsse ich im fühllosen Hohn wie er auflachen. Da ich aber mein Auge abwandte, fiel es auf den Armen, den ich, um des Falschen willen, in

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Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription. (2013-11-19T17:23:38Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Bayerische Staatbibliothek: Bereitstellung der Bilddigitalisate (Signatur Per 61 k-1). (2013-11-19T17:23:38Z)

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Erster Jahrgang. Leipzig, 1841, S. 202. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_179382_282158/210>, abgerufen am 21.11.2024.