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Die Grenzboten. Erster Jahrgang. Leipzig, 1841.

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den Tod gejagt hatte. Ich sah ihn noch einmal auftauchen, sah noch
einmal sein Auge mit einer unendlichen Wehmuth, mit einer unaussprech¬
lichen Liebe nach mir hinüberblicken, -- dann sank er unter, und über
ihm rollte das Gewoge und Gedränge wie vorher. Da brach ein ent¬
setzlicher Schmerz meinen starren Sinn; bei dem Tode meines Vaters
versteinte mein Herz, jetzt verblutete es aus tausend Wunden. Alles,
Alles, was ich in meinem verfehlten Leben gethan, drängte sich jetzt
mit furchtbarer Erinnerungskraft meinem Geiste auf. Jetzt, jetzt erst,
von dieser Stunde, hatte die Reue eine bleibende Stätte in meiner Brust,
und ich empfand, daß mein ganzes Leben eine Seelenverfinsterung gewe¬
sen." -- Sie beschließt, sich in ein Stift zurückzuziehen. Unterwegs fällt
sie in eine schwere Krankheit. Die aufopfernde Sorge eines Arztes schafft
ihr Genesung. -- "Da wankte der Arzt hervor, und keines Wortes
mächtig, sank er vor Eleonoren nieder. Und diese staunte ihn lange wie
eine freundliche Erscheinung an, und flüsterte endlich: Du bist es wirk¬
lich! Wie bist Du so schön geworden, als Du gut bist; wo sind die
Dornenmale und die Narben der Wunden, die Du durch mich erlitten? --
Die Zeit hat sie vertilgt, erwiederte Mohrahl, und selbst die Rückerinne-
rung an sie hat für mich keine Schmerzen mehr. Er schloß die Weinende
in seine Arme, und ich weiß nicht, welche Lippe "Vergebung" zitterte."
-- Das achtbare Talent des Verfassers bewährt sich in vielen Partien
dieser sehr künstlich angelegten Novelle. Das beste Stück daran ist eine
große Episode über Mohrahls Vorfahren; Mahlergeschichten, Glaubens¬
änderungen, Auswanderungen, machen den Stoff derselben aus. Ein
humoristischer Arzt, auf den wir die Leser aufmerksam machen, ist wohl
eine der ansprechendsten Figuren der Erzählung. -- Was den Inhalt des
Ganzen anbetrifft, so erscheint uns die psychologische Steigerung gezwun¬
gen und übertrieben; auch will der glückliche Ausgang zu dem Grund¬
charakter der Aufgabe nicht passen. Die Geschichte könnte füglich mit
Eleonorens Vorsatz, das Stift zu beziehen, schließen. Zwar ist gewiß,
daß das Erheiterungsmittel am Ende einer großen Anzahl von Lesern
willkommen sein wird. Aber die Wahrheit eines Schmerzes verträgt
sich damit nicht. Diese Wahrheit hat freilich mit der mathematisch fort¬
schreitenden Seelenfolter moderner Effektstücke nichts gemein. An Tiecks
Tod des Dichters, könnten unsere Novellisten ein Muster sehen, wie im
Tragischen die innere Schönheit zu gewinnen ist. Wo die lebt und er¬
scheint, bedarf es keiner von Außen hergebrachten Beschwichtigungs-
mittel. --

den Tod gejagt hatte. Ich sah ihn noch einmal auftauchen, sah noch
einmal sein Auge mit einer unendlichen Wehmuth, mit einer unaussprech¬
lichen Liebe nach mir hinüberblicken, — dann sank er unter, und über
ihm rollte das Gewoge und Gedränge wie vorher. Da brach ein ent¬
setzlicher Schmerz meinen starren Sinn; bei dem Tode meines Vaters
versteinte mein Herz, jetzt verblutete es aus tausend Wunden. Alles,
Alles, was ich in meinem verfehlten Leben gethan, drängte sich jetzt
mit furchtbarer Erinnerungskraft meinem Geiste auf. Jetzt, jetzt erst,
von dieser Stunde, hatte die Reue eine bleibende Stätte in meiner Brust,
und ich empfand, daß mein ganzes Leben eine Seelenverfinsterung gewe¬
sen.“ — Sie beschließt, sich in ein Stift zurückzuziehen. Unterwegs fällt
sie in eine schwere Krankheit. Die aufopfernde Sorge eines Arztes schafft
ihr Genesung. — „Da wankte der Arzt hervor, und keines Wortes
mächtig, sank er vor Eleonoren nieder. Und diese staunte ihn lange wie
eine freundliche Erscheinung an, und flüsterte endlich: Du bist es wirk¬
lich! Wie bist Du so schön geworden, als Du gut bist; wo sind die
Dornenmale und die Narben der Wunden, die Du durch mich erlitten? —
Die Zeit hat sie vertilgt, erwiederte Mohrahl, und selbst die Rückerinne-
rung an sie hat für mich keine Schmerzen mehr. Er schloß die Weinende
in seine Arme, und ich weiß nicht, welche Lippe „Vergebung“ zitterte.“
— Das achtbare Talent des Verfassers bewährt sich in vielen Partien
dieser sehr künstlich angelegten Novelle. Das beste Stück daran ist eine
große Episode über Mohrahls Vorfahren; Mahlergeschichten, Glaubens¬
änderungen, Auswanderungen, machen den Stoff derselben aus. Ein
humoristischer Arzt, auf den wir die Leser aufmerksam machen, ist wohl
eine der ansprechendsten Figuren der Erzählung. — Was den Inhalt des
Ganzen anbetrifft, so erscheint uns die psychologische Steigerung gezwun¬
gen und übertrieben; auch will der glückliche Ausgang zu dem Grund¬
charakter der Aufgabe nicht passen. Die Geschichte könnte füglich mit
Eleonorens Vorsatz, das Stift zu beziehen, schließen. Zwar ist gewiß,
daß das Erheiterungsmittel am Ende einer großen Anzahl von Lesern
willkommen sein wird. Aber die Wahrheit eines Schmerzes verträgt
sich damit nicht. Diese Wahrheit hat freilich mit der mathematisch fort¬
schreitenden Seelenfolter moderner Effektstücke nichts gemein. An Tiecks
Tod des Dichters, könnten unsere Novellisten ein Muster sehen, wie im
Tragischen die innere Schönheit zu gewinnen ist. Wo die lebt und er¬
scheint, bedarf es keiner von Außen hergebrachten Beschwichtigungs-
mittel. —

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[203/0211] den Tod gejagt hatte. Ich sah ihn noch einmal auftauchen, sah noch einmal sein Auge mit einer unendlichen Wehmuth, mit einer unaussprech¬ lichen Liebe nach mir hinüberblicken, — dann sank er unter, und über ihm rollte das Gewoge und Gedränge wie vorher. Da brach ein ent¬ setzlicher Schmerz meinen starren Sinn; bei dem Tode meines Vaters versteinte mein Herz, jetzt verblutete es aus tausend Wunden. Alles, Alles, was ich in meinem verfehlten Leben gethan, drängte sich jetzt mit furchtbarer Erinnerungskraft meinem Geiste auf. Jetzt, jetzt erst, von dieser Stunde, hatte die Reue eine bleibende Stätte in meiner Brust, und ich empfand, daß mein ganzes Leben eine Seelenverfinsterung gewe¬ sen.“ — Sie beschließt, sich in ein Stift zurückzuziehen. Unterwegs fällt sie in eine schwere Krankheit. Die aufopfernde Sorge eines Arztes schafft ihr Genesung. — „Da wankte der Arzt hervor, und keines Wortes mächtig, sank er vor Eleonoren nieder. Und diese staunte ihn lange wie eine freundliche Erscheinung an, und flüsterte endlich: Du bist es wirk¬ lich! Wie bist Du so schön geworden, als Du gut bist; wo sind die Dornenmale und die Narben der Wunden, die Du durch mich erlitten? — Die Zeit hat sie vertilgt, erwiederte Mohrahl, und selbst die Rückerinne- rung an sie hat für mich keine Schmerzen mehr. Er schloß die Weinende in seine Arme, und ich weiß nicht, welche Lippe „Vergebung“ zitterte.“ — Das achtbare Talent des Verfassers bewährt sich in vielen Partien dieser sehr künstlich angelegten Novelle. Das beste Stück daran ist eine große Episode über Mohrahls Vorfahren; Mahlergeschichten, Glaubens¬ änderungen, Auswanderungen, machen den Stoff derselben aus. Ein humoristischer Arzt, auf den wir die Leser aufmerksam machen, ist wohl eine der ansprechendsten Figuren der Erzählung. — Was den Inhalt des Ganzen anbetrifft, so erscheint uns die psychologische Steigerung gezwun¬ gen und übertrieben; auch will der glückliche Ausgang zu dem Grund¬ charakter der Aufgabe nicht passen. Die Geschichte könnte füglich mit Eleonorens Vorsatz, das Stift zu beziehen, schließen. Zwar ist gewiß, daß das Erheiterungsmittel am Ende einer großen Anzahl von Lesern willkommen sein wird. Aber die Wahrheit eines Schmerzes verträgt sich damit nicht. Diese Wahrheit hat freilich mit der mathematisch fort¬ schreitenden Seelenfolter moderner Effektstücke nichts gemein. An Tiecks Tod des Dichters, könnten unsere Novellisten ein Muster sehen, wie im Tragischen die innere Schönheit zu gewinnen ist. Wo die lebt und er¬ scheint, bedarf es keiner von Außen hergebrachten Beschwichtigungs- mittel. —

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Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription. (2013-11-19T17:23:38Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Erster Jahrgang. Leipzig, 1841, S. 203. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_179382_282158/211>, abgerufen am 19.05.2024.