Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Erster Jahrgang. Leipzig, 1841.

Bild:
<< vorherige Seite

schied nehmen. -- Von jeher hat die deutsche Poesie alle ihre Kraft an das
Drama zu setzen gestrebt. Wenn auch Göthe mehr durch die Klarheit und
Ruhe seiner epischen Anschauung unübertroffen dasteht, und Schiller noch erst
den Aufschwung des lyrischen Feuers und des nach Freiheit ringenden Ge¬
dankens zur dramatischen Gestaltung darstellt; so würde man doch mit Un¬
recht den Deutschen ein eigenthümliches und nationales Schauspiel absprechen.
Unsere großen Dramendichter haben mehr gethan, als längst erfundene Gat¬
tungen fortsetzen; Schillers und Göthes vollendete Schöpfungen sind durch¬
aus sich selber Muster. Der Einfluß der Alten, der französischen Hoftra-
gödie, und vor allen der Meisterwerke Shakspeares, so mächtig er auch ge¬
wesen, darf doch nicht für mehr angeschlagen werden, als die Einwirkung
alles Großen und Vollendeten auf die Bildung einer ursprünglichen, genia¬
len Anlage. Wir besitzen, sagt man, kein solches Nationalschauspiel, wie
England hatte. Es ist wahr, die Blüthe unserer Literatur fällt in eine
modernere, literarisch weit vielseitigere Zeit. Bei den Engländern schimmert
das Drama so hell hervor, weil es allein stand; während bei uns alle
übrigen Zweige der Poesie in demselben Frühling zum Ausbruche kamen.
Unser jetziges Schauspiel hat eine schwierige Aufgabe; um sich über das
Verlebte und den bloß traditionellen Bedarf der Bühnen zu erheben, bleibt
ihm kein anderer Weg, als einen Neuen Geist in neue Formen zu fassen;
die Erfindung muß über den Stoff und die Combination gegebener Cha¬
raktere hinausgehen, und einen Boden, ein Fundament des poetischen Da¬
seins legen, worauf die I eale der Kunst, die Wahrheit der wirklichen Welt
und die Hoffnungen der Zukunft sich erbauen können. Ueber die Wichtig¬
keit, welche das Theater als Bildungsmittel hatte, bemerkt Herr Häring:
"Der Mangel eines öffentlichen Lebens -- sie waren sich dieses fehlenden
Lebensprincips nicht bewußt, aber das dunkle Gefühl des Entbehrens war
da -- trieb die ernstesten, tiefsten Geister, sobald sie sich aus der Einsam¬
keit der Gelehrtenstube emancipirt, zum Theater. Sie versuchten das Wort
lebendig werden zu lassen , zum Volke durch den Mund des Mimen zu re¬
den. Das thaten ein Klopstock, ein Lessing, ein Göthe, Schiller und Tieck.
Keiner meinte sich etwas dadurch zu vergeben. Wenn der Sänger des
Messias verunglückte, indem er seine glühenden Vaterlandswünsche von den
Brettern herab dem Volke zurief, so glückte es dem größten Geiste seiner
Zeit, Lessing, desto mehr. Welche gesunde Freudigkeit, welche heitere Le¬
benskraft, welche männliche Sitte und holde Frauenanmuth athmete seine
Minna von Barnhelm. Ihre Wirkungen sind noch heute lebendig, und ist
es poetisch auch keineswegs das reichste, vollkommenste Lustspiel der Deut¬
schen, hier kann der Reichthum lernen, wie er sich selbst beschränkt, und
mit Wenigem viel wirkt. In seinem Nathan predigt Lessing für eine kom-

schied nehmen. — Von jeher hat die deutsche Poesie alle ihre Kraft an das
Drama zu setzen gestrebt. Wenn auch Göthe mehr durch die Klarheit und
Ruhe seiner epischen Anschauung unübertroffen dasteht, und Schiller noch erst
den Aufschwung des lyrischen Feuers und des nach Freiheit ringenden Ge¬
dankens zur dramatischen Gestaltung darstellt; so würde man doch mit Un¬
recht den Deutschen ein eigenthümliches und nationales Schauspiel absprechen.
Unsere großen Dramendichter haben mehr gethan, als längst erfundene Gat¬
tungen fortsetzen; Schillers und Göthes vollendete Schöpfungen sind durch¬
aus sich selber Muster. Der Einfluß der Alten, der französischen Hoftra-
gödie, und vor allen der Meisterwerke Shakspeares, so mächtig er auch ge¬
wesen, darf doch nicht für mehr angeschlagen werden, als die Einwirkung
alles Großen und Vollendeten auf die Bildung einer ursprünglichen, genia¬
len Anlage. Wir besitzen, sagt man, kein solches Nationalschauspiel, wie
England hatte. Es ist wahr, die Blüthe unserer Literatur fällt in eine
modernere, literarisch weit vielseitigere Zeit. Bei den Engländern schimmert
das Drama so hell hervor, weil es allein stand; während bei uns alle
übrigen Zweige der Poesie in demselben Frühling zum Ausbruche kamen.
Unser jetziges Schauspiel hat eine schwierige Aufgabe; um sich über das
Verlebte und den bloß traditionellen Bedarf der Bühnen zu erheben, bleibt
ihm kein anderer Weg, als einen Neuen Geist in neue Formen zu fassen;
die Erfindung muß über den Stoff und die Combination gegebener Cha¬
raktere hinausgehen, und einen Boden, ein Fundament des poetischen Da¬
seins legen, worauf die I eale der Kunst, die Wahrheit der wirklichen Welt
und die Hoffnungen der Zukunft sich erbauen können. Ueber die Wichtig¬
keit, welche das Theater als Bildungsmittel hatte, bemerkt Herr Häring:
»Der Mangel eines öffentlichen Lebens — sie waren sich dieses fehlenden
Lebensprincips nicht bewußt, aber das dunkle Gefühl des Entbehrens war
da — trieb die ernstesten, tiefsten Geister, sobald sie sich aus der Einsam¬
keit der Gelehrtenstube emancipirt, zum Theater. Sie versuchten das Wort
lebendig werden zu lassen , zum Volke durch den Mund des Mimen zu re¬
den. Das thaten ein Klopstock, ein Lessing, ein Göthe, Schiller und Tieck.
Keiner meinte sich etwas dadurch zu vergeben. Wenn der Sänger des
Messias verunglückte, indem er seine glühenden Vaterlandswünsche von den
Brettern herab dem Volke zurief, so glückte es dem größten Geiste seiner
Zeit, Lessing, desto mehr. Welche gesunde Freudigkeit, welche heitere Le¬
benskraft, welche männliche Sitte und holde Frauenanmuth athmete seine
Minna von Barnhelm. Ihre Wirkungen sind noch heute lebendig, und ist
es poetisch auch keineswegs das reichste, vollkommenste Lustspiel der Deut¬
schen, hier kann der Reichthum lernen, wie er sich selbst beschränkt, und
mit Wenigem viel wirkt. In seinem Nathan predigt Lessing für eine kom-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/179661" facs="#f0278" n="270"/>
          <p>schied nehmen. &#x2014; Von jeher hat die deutsche Poesie alle ihre Kraft an das<lb/>
Drama zu setzen gestrebt. Wenn auch Göthe mehr durch die Klarheit und<lb/>
Ruhe seiner epischen Anschauung unübertroffen dasteht, und Schiller noch erst<lb/>
den Aufschwung des lyrischen Feuers und des nach Freiheit ringenden Ge¬<lb/>
dankens zur dramatischen Gestaltung darstellt; so würde man doch mit Un¬<lb/>
recht den Deutschen ein eigenthümliches und nationales Schauspiel absprechen.<lb/>
Unsere großen Dramendichter haben mehr gethan, als längst erfundene Gat¬<lb/>
tungen fortsetzen; Schillers und Göthes vollendete Schöpfungen sind durch¬<lb/>
aus sich selber Muster. Der Einfluß der Alten, der französischen Hoftra-<lb/>
gödie, und vor allen der Meisterwerke Shakspeares, so mächtig er auch ge¬<lb/>
wesen, darf doch nicht für mehr angeschlagen werden, als die Einwirkung<lb/>
alles Großen und Vollendeten auf die Bildung einer ursprünglichen, genia¬<lb/>
len Anlage. Wir besitzen, sagt man, kein solches Nationalschauspiel, wie<lb/>
England hatte. Es ist wahr, die Blüthe unserer Literatur fällt in eine<lb/>
modernere, literarisch weit vielseitigere Zeit. Bei den Engländern schimmert<lb/>
das Drama so hell hervor, weil es allein stand; während bei uns alle<lb/>
übrigen Zweige der Poesie in demselben Frühling zum Ausbruche kamen.<lb/>
Unser jetziges Schauspiel hat eine schwierige Aufgabe; um sich über das<lb/>
Verlebte und den bloß traditionellen Bedarf der Bühnen zu erheben, bleibt<lb/>
ihm kein anderer Weg, als einen Neuen Geist in neue Formen zu fassen;<lb/>
die Erfindung muß über den Stoff und die Combination gegebener Cha¬<lb/>
raktere hinausgehen, und einen Boden, ein Fundament des poetischen Da¬<lb/>
seins legen, worauf die I eale der Kunst, die Wahrheit der wirklichen Welt<lb/>
und die Hoffnungen der Zukunft sich erbauen können. Ueber die Wichtig¬<lb/>
keit, welche das Theater als Bildungsmittel hatte, bemerkt Herr Häring:<lb/>
»Der Mangel eines öffentlichen Lebens &#x2014; sie waren sich dieses fehlenden<lb/>
Lebensprincips nicht bewußt, aber das dunkle Gefühl des Entbehrens war<lb/>
da &#x2014; trieb die ernstesten, tiefsten Geister, sobald sie sich aus der Einsam¬<lb/>
keit der Gelehrtenstube emancipirt, zum Theater. Sie versuchten das Wort<lb/>
lebendig werden zu lassen , zum Volke durch den Mund des Mimen zu re¬<lb/>
den. Das thaten ein Klopstock, ein Lessing, ein Göthe, Schiller und Tieck.<lb/>
Keiner meinte sich etwas dadurch zu vergeben. Wenn der Sänger des<lb/>
Messias verunglückte, indem er seine glühenden Vaterlandswünsche von den<lb/>
Brettern herab dem Volke zurief, so glückte es dem größten Geiste seiner<lb/>
Zeit, Lessing, desto mehr. Welche gesunde Freudigkeit, welche heitere Le¬<lb/>
benskraft, welche männliche Sitte und holde Frauenanmuth athmete seine<lb/>
Minna von Barnhelm. Ihre Wirkungen sind noch heute lebendig, und ist<lb/>
es poetisch auch keineswegs das reichste, vollkommenste Lustspiel der Deut¬<lb/>
schen, hier kann der Reichthum lernen, wie er sich selbst beschränkt, und<lb/>
mit Wenigem viel wirkt. In seinem Nathan predigt Lessing für eine kom-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[270/0278] schied nehmen. — Von jeher hat die deutsche Poesie alle ihre Kraft an das Drama zu setzen gestrebt. Wenn auch Göthe mehr durch die Klarheit und Ruhe seiner epischen Anschauung unübertroffen dasteht, und Schiller noch erst den Aufschwung des lyrischen Feuers und des nach Freiheit ringenden Ge¬ dankens zur dramatischen Gestaltung darstellt; so würde man doch mit Un¬ recht den Deutschen ein eigenthümliches und nationales Schauspiel absprechen. Unsere großen Dramendichter haben mehr gethan, als längst erfundene Gat¬ tungen fortsetzen; Schillers und Göthes vollendete Schöpfungen sind durch¬ aus sich selber Muster. Der Einfluß der Alten, der französischen Hoftra- gödie, und vor allen der Meisterwerke Shakspeares, so mächtig er auch ge¬ wesen, darf doch nicht für mehr angeschlagen werden, als die Einwirkung alles Großen und Vollendeten auf die Bildung einer ursprünglichen, genia¬ len Anlage. Wir besitzen, sagt man, kein solches Nationalschauspiel, wie England hatte. Es ist wahr, die Blüthe unserer Literatur fällt in eine modernere, literarisch weit vielseitigere Zeit. Bei den Engländern schimmert das Drama so hell hervor, weil es allein stand; während bei uns alle übrigen Zweige der Poesie in demselben Frühling zum Ausbruche kamen. Unser jetziges Schauspiel hat eine schwierige Aufgabe; um sich über das Verlebte und den bloß traditionellen Bedarf der Bühnen zu erheben, bleibt ihm kein anderer Weg, als einen Neuen Geist in neue Formen zu fassen; die Erfindung muß über den Stoff und die Combination gegebener Cha¬ raktere hinausgehen, und einen Boden, ein Fundament des poetischen Da¬ seins legen, worauf die I eale der Kunst, die Wahrheit der wirklichen Welt und die Hoffnungen der Zukunft sich erbauen können. Ueber die Wichtig¬ keit, welche das Theater als Bildungsmittel hatte, bemerkt Herr Häring: »Der Mangel eines öffentlichen Lebens — sie waren sich dieses fehlenden Lebensprincips nicht bewußt, aber das dunkle Gefühl des Entbehrens war da — trieb die ernstesten, tiefsten Geister, sobald sie sich aus der Einsam¬ keit der Gelehrtenstube emancipirt, zum Theater. Sie versuchten das Wort lebendig werden zu lassen , zum Volke durch den Mund des Mimen zu re¬ den. Das thaten ein Klopstock, ein Lessing, ein Göthe, Schiller und Tieck. Keiner meinte sich etwas dadurch zu vergeben. Wenn der Sänger des Messias verunglückte, indem er seine glühenden Vaterlandswünsche von den Brettern herab dem Volke zurief, so glückte es dem größten Geiste seiner Zeit, Lessing, desto mehr. Welche gesunde Freudigkeit, welche heitere Le¬ benskraft, welche männliche Sitte und holde Frauenanmuth athmete seine Minna von Barnhelm. Ihre Wirkungen sind noch heute lebendig, und ist es poetisch auch keineswegs das reichste, vollkommenste Lustspiel der Deut¬ schen, hier kann der Reichthum lernen, wie er sich selbst beschränkt, und mit Wenigem viel wirkt. In seinem Nathan predigt Lessing für eine kom-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription. (2013-11-19T17:23:38Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Bayerische Staatbibliothek: Bereitstellung der Bilddigitalisate (Signatur Per 61 k-1). (2013-11-19T17:23:38Z)

Weitere Informationen:

Art der Texterfassung: OCR.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_179382_282158
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_179382_282158/278
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Erster Jahrgang. Leipzig, 1841, S. 270. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_179382_282158/278>, abgerufen am 17.06.2024.