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Die Grenzboten. Erster Jahrgang. Leipzig, 1841.

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allgemeine Menschheit zu Grunde. Jedes Volk, ehe es dieser oder jener Pe¬
riode, diesem oder jenem Breitengrade zugetheilt ist, ist zuerst Mensch. So
erscheint es als die wesentlichste Bedingung jeder Literatur, diesen generischen
Character, diese mit der Welt entstandenen Leidenschaften, diese nicht wenigen
alten Wahrheiten, welche den allgemeinen Grund der Menschen bilden, aus¬
zudrücken. Wir lesen in Montesquieu: "Das Gesetz im Allgemeinen ist die
menschliche Vernunft, insofern sie alle Völker der Erde regiert; und die politi¬
schen und bürgerlichen Gesetze jeder Nation sollen nur die besondern Fälle sein,
auf welche diese menschliche Vernunft angewendet wird." Wir definiren nun
die Literatur im Allgemeinen als den durch die Schrift ausgedrückten Gedan¬
ken, insofern er alle Völker der Erde erleuchtet, in Bewegung setzt oder ent¬
zückt; und die Literaturen jeder Nation als die besondern Richtungen des ge¬
mein menschlichen Characters. Je mehr Berührungspuncte also die Literatur
eines Volkes mit der Menschheit im Allgemeinen bewahrt, um so mehr gehorcht
sie in unsern Augen ihrer Natur; je mehr ihre Schriftsteller mit Tiefe und
Weisheit in das Gebiet Aller vordringen, um so getreuer erfüllen sie den Zweck
ihrer Sendung.

Dieses ist jedoch, nach unserer Art zu sehen, nicht der einzige Character,
der allen Literaturen gemeinschaftlich ist; ein aufmerksames Studium derselben
enthüllt uns bei jedem Schritt neue Uebereinstimmungen. Bei den Alten
hatte sich Rom nach Griechenland geformt; die Völker des neuern Europa's
haben zu der Nachahmung des Alterthums eine gegenseitige Nachahmung ih¬
rer selbst hinzugefügt. Wenn ein bekannter Philosoph aus der politischen Ge¬
schichte schließen konnte, daß der Krieg der dem Menschen natürlichste Zustand
sei, so spricht, von einem etwas höhern Standpuncte aus, die Geschichte der
geistigen Bestrebungen, von der verwickeltsten Philosophie bis zu den letzten Kün¬
sten der Mode und des Kostüms, für die ursprüngliche Verwandtschaft der¬
selben. Beschränken wir uns auf eine einzige Thatsache! Untersuchen wir die
vorzüglichsten Formen, welche der Mittheilung des Gedankens gewidmet sind,
Drama, erzählendes Gedicht, Roman, rednerische Form, so scheinen alle Natio¬
nen trotz ihrer besondern Eigenthümlichkeiten, trotz der Meinungen, der Interes¬
sen, selbst der Antipathien, die sie trennen, in dieser Beziehung einig, um nach
einander das Losungswort anzunehmen, welches heute die Eine, morgen die
Andre gibt.

Bis zum zwölften, selbst bis zum vierzehnten Jahrhundert braucht man
sich darüber nicht zu verwundern; das Mittelalter hatte nur einen Glauben,
nur einen Geist, nur eine Sprache. Aber man glaube nicht, daß die Lage
der Dinge sich seit der Zeit geändert habe. Das Programm blieb dasselbe.
Nehmen wir irgend eine geschichtliche Idee, die des Christenthums zum Beispiel,
wohl verstanden, vom literarischen Gesichtspuncte aus betrachtet. Wir sehen

allgemeine Menschheit zu Grunde. Jedes Volk, ehe es dieser oder jener Pe¬
riode, diesem oder jenem Breitengrade zugetheilt ist, ist zuerst Mensch. So
erscheint es als die wesentlichste Bedingung jeder Literatur, diesen generischen
Character, diese mit der Welt entstandenen Leidenschaften, diese nicht wenigen
alten Wahrheiten, welche den allgemeinen Grund der Menschen bilden, aus¬
zudrücken. Wir lesen in Montesquieu: „Das Gesetz im Allgemeinen ist die
menschliche Vernunft, insofern sie alle Völker der Erde regiert; und die politi¬
schen und bürgerlichen Gesetze jeder Nation sollen nur die besondern Fälle sein,
auf welche diese menschliche Vernunft angewendet wird.“ Wir definiren nun
die Literatur im Allgemeinen als den durch die Schrift ausgedrückten Gedan¬
ken, insofern er alle Völker der Erde erleuchtet, in Bewegung setzt oder ent¬
zückt; und die Literaturen jeder Nation als die besondern Richtungen des ge¬
mein menschlichen Characters. Je mehr Berührungspuncte also die Literatur
eines Volkes mit der Menschheit im Allgemeinen bewahrt, um so mehr gehorcht
sie in unsern Augen ihrer Natur; je mehr ihre Schriftsteller mit Tiefe und
Weisheit in das Gebiet Aller vordringen, um so getreuer erfüllen sie den Zweck
ihrer Sendung.

Dieses ist jedoch, nach unserer Art zu sehen, nicht der einzige Character,
der allen Literaturen gemeinschaftlich ist; ein aufmerksames Studium derselben
enthüllt uns bei jedem Schritt neue Uebereinstimmungen. Bei den Alten
hatte sich Rom nach Griechenland geformt; die Völker des neuern Europa's
haben zu der Nachahmung des Alterthums eine gegenseitige Nachahmung ih¬
rer selbst hinzugefügt. Wenn ein bekannter Philosoph aus der politischen Ge¬
schichte schließen konnte, daß der Krieg der dem Menschen natürlichste Zustand
sei, so spricht, von einem etwas höhern Standpuncte aus, die Geschichte der
geistigen Bestrebungen, von der verwickeltsten Philosophie bis zu den letzten Kün¬
sten der Mode und des Kostüms, für die ursprüngliche Verwandtschaft der¬
selben. Beschränken wir uns auf eine einzige Thatsache! Untersuchen wir die
vorzüglichsten Formen, welche der Mittheilung des Gedankens gewidmet sind,
Drama, erzählendes Gedicht, Roman, rednerische Form, so scheinen alle Natio¬
nen trotz ihrer besondern Eigenthümlichkeiten, trotz der Meinungen, der Interes¬
sen, selbst der Antipathien, die sie trennen, in dieser Beziehung einig, um nach
einander das Losungswort anzunehmen, welches heute die Eine, morgen die
Andre gibt.

Bis zum zwölften, selbst bis zum vierzehnten Jahrhundert braucht man
sich darüber nicht zu verwundern; das Mittelalter hatte nur einen Glauben,
nur einen Geist, nur eine Sprache. Aber man glaube nicht, daß die Lage
der Dinge sich seit der Zeit geändert habe. Das Programm blieb dasselbe.
Nehmen wir irgend eine geschichtliche Idee, die des Christenthums zum Beispiel,
wohl verstanden, vom literarischen Gesichtspuncte aus betrachtet. Wir sehen

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[21/0029] allgemeine Menschheit zu Grunde. Jedes Volk, ehe es dieser oder jener Pe¬ riode, diesem oder jenem Breitengrade zugetheilt ist, ist zuerst Mensch. So erscheint es als die wesentlichste Bedingung jeder Literatur, diesen generischen Character, diese mit der Welt entstandenen Leidenschaften, diese nicht wenigen alten Wahrheiten, welche den allgemeinen Grund der Menschen bilden, aus¬ zudrücken. Wir lesen in Montesquieu: „Das Gesetz im Allgemeinen ist die menschliche Vernunft, insofern sie alle Völker der Erde regiert; und die politi¬ schen und bürgerlichen Gesetze jeder Nation sollen nur die besondern Fälle sein, auf welche diese menschliche Vernunft angewendet wird.“ Wir definiren nun die Literatur im Allgemeinen als den durch die Schrift ausgedrückten Gedan¬ ken, insofern er alle Völker der Erde erleuchtet, in Bewegung setzt oder ent¬ zückt; und die Literaturen jeder Nation als die besondern Richtungen des ge¬ mein menschlichen Characters. Je mehr Berührungspuncte also die Literatur eines Volkes mit der Menschheit im Allgemeinen bewahrt, um so mehr gehorcht sie in unsern Augen ihrer Natur; je mehr ihre Schriftsteller mit Tiefe und Weisheit in das Gebiet Aller vordringen, um so getreuer erfüllen sie den Zweck ihrer Sendung. Dieses ist jedoch, nach unserer Art zu sehen, nicht der einzige Character, der allen Literaturen gemeinschaftlich ist; ein aufmerksames Studium derselben enthüllt uns bei jedem Schritt neue Uebereinstimmungen. Bei den Alten hatte sich Rom nach Griechenland geformt; die Völker des neuern Europa's haben zu der Nachahmung des Alterthums eine gegenseitige Nachahmung ih¬ rer selbst hinzugefügt. Wenn ein bekannter Philosoph aus der politischen Ge¬ schichte schließen konnte, daß der Krieg der dem Menschen natürlichste Zustand sei, so spricht, von einem etwas höhern Standpuncte aus, die Geschichte der geistigen Bestrebungen, von der verwickeltsten Philosophie bis zu den letzten Kün¬ sten der Mode und des Kostüms, für die ursprüngliche Verwandtschaft der¬ selben. Beschränken wir uns auf eine einzige Thatsache! Untersuchen wir die vorzüglichsten Formen, welche der Mittheilung des Gedankens gewidmet sind, Drama, erzählendes Gedicht, Roman, rednerische Form, so scheinen alle Natio¬ nen trotz ihrer besondern Eigenthümlichkeiten, trotz der Meinungen, der Interes¬ sen, selbst der Antipathien, die sie trennen, in dieser Beziehung einig, um nach einander das Losungswort anzunehmen, welches heute die Eine, morgen die Andre gibt. Bis zum zwölften, selbst bis zum vierzehnten Jahrhundert braucht man sich darüber nicht zu verwundern; das Mittelalter hatte nur einen Glauben, nur einen Geist, nur eine Sprache. Aber man glaube nicht, daß die Lage der Dinge sich seit der Zeit geändert habe. Das Programm blieb dasselbe. Nehmen wir irgend eine geschichtliche Idee, die des Christenthums zum Beispiel, wohl verstanden, vom literarischen Gesichtspuncte aus betrachtet. Wir sehen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Erster Jahrgang. Leipzig, 1841, S. 21. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_179382_282158/29>, abgerufen am 21.11.2024.