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Die Grenzboten. Erster Jahrgang. Leipzig, 1841.

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sie bei diesem oder jenem Volke keimen. Warum hier eher als dort? Die
Antwort liegt oft auf der Hand, zuweilen ist sie weniger leicht; aber was auch
die Ursache sei, die Resultate sind dieselben. Die Idee ist entsprossen, sie wächst,
sie bringt Früchte, sie nimmt eine oder mehrere Formen an, sie bemächtigt sich
der Beredtsamkeit, des Theaters, der Geschichte. Folget ihr; ihr seht sie in
ihrer ganzen Ueppigkeit auf einen andern Boden verpflanzt, der sie sich ganz,
oder zum Theil aneignet; von da geht sie auf einen dritten über, wo sie ohne
Zweifel nicht stehen bleiben wird. So macht jede Idee in den verschiedenen Ge¬
staltungen den Kreislauf durch die europäische Bildung, bald rasch ergriffen,
bald langsamer eindringend, hier fruchtbar in Meisterwerken, dort mager oder
bei aller Anstrengung mißrathen, manchmal verschwindend vor unsern Augen,
um später wieder aufzutauchen, wie jene Flüsse, welche sich in einiger Entfer¬
nung von ihrer Quelle in den Boden verlieren, dann aber weiterhin wieder
zum Vorschein kommen und ihren unterbrochenen Lauf unter freiem Himmel
fortsetzen.

Auch wäre es ein herrliches Unternehmen und würdig eines kräftigen Gei¬
stes, die Geschichte der Literatur nicht nach chronologischer oder ethnologischer,
sondern, wenn ich es wagen darf, mich dieses Ausdrucks zu bedienen, nach einer
eidologischen Methode zu behandeln. Der Schriftsteller würde suchen, die
Gesammtheit und die Beziehungen der Hauptideen, die sich auf literarischem Felde
gebildet haben, die antike Idee, die christliche, die klassische, die protestantische,
die monarchische, die philosophische, die sociale zu erklären; dann würde er,
jede derselben bei ihrer Wiege ausgreifen, ihr in ihrem Laufe folgen, sie auf
ihren Wanderungen begleiten, ihre verschiedenen Schicksale, ihre auf einander
folgenden Umbildungen, ihre Entwickelung, ihren Höhepunct und ihren Verfall
angeben. Er würde für die Literatur denselben Weg befolgen, den für die
Geographie jene Autoren einschlagen, welche ein Land nach den Flußgebieten
beschreiben, indem sie einen bedeutenden Strom bei seiner Quelle aufnehmen,
die reichen Thäler, die finstern Wälder, die volkreichen Städte, dann wieder die
kahlen Haiden und Einöden schildern, welche er durchfließt, indem er in seinem
Laufe den Tribut der Nebengewässer aufnimmt, -- bis er sich in der Unermeß-
lichkeit des Oceans verliert.

Oder wenn die Aufgabe zu schwierig wäre, und sicherlich wäre dieß eine
von den Arbeiten, die geeignet sind, das Leben mehrerer Schriftsteller aufzu¬
brauchen, so könnte man sich auf eine bestimmte Form beschränken. Man wählte
auf gut Glück die Geschichte des Einen oder des Andern. Nehmen wir z. B.
das neuere Theater. Man sähe es zuerst durch die christliche Idee beherrscht,
welche es nach ihrer Willkühr ausbeutete, und nach einigem Umhertappen es in
Frankreich in die Mysterien und geistlichen Stücke verwandelte. Kaum war
das Signal gegeben, so wurden die Mysterien nach einander überall angenom-

sie bei diesem oder jenem Volke keimen. Warum hier eher als dort? Die
Antwort liegt oft auf der Hand, zuweilen ist sie weniger leicht; aber was auch
die Ursache sei, die Resultate sind dieselben. Die Idee ist entsprossen, sie wächst,
sie bringt Früchte, sie nimmt eine oder mehrere Formen an, sie bemächtigt sich
der Beredtsamkeit, des Theaters, der Geschichte. Folget ihr; ihr seht sie in
ihrer ganzen Ueppigkeit auf einen andern Boden verpflanzt, der sie sich ganz,
oder zum Theil aneignet; von da geht sie auf einen dritten über, wo sie ohne
Zweifel nicht stehen bleiben wird. So macht jede Idee in den verschiedenen Ge¬
staltungen den Kreislauf durch die europäische Bildung, bald rasch ergriffen,
bald langsamer eindringend, hier fruchtbar in Meisterwerken, dort mager oder
bei aller Anstrengung mißrathen, manchmal verschwindend vor unsern Augen,
um später wieder aufzutauchen, wie jene Flüsse, welche sich in einiger Entfer¬
nung von ihrer Quelle in den Boden verlieren, dann aber weiterhin wieder
zum Vorschein kommen und ihren unterbrochenen Lauf unter freiem Himmel
fortsetzen.

Auch wäre es ein herrliches Unternehmen und würdig eines kräftigen Gei¬
stes, die Geschichte der Literatur nicht nach chronologischer oder ethnologischer,
sondern, wenn ich es wagen darf, mich dieses Ausdrucks zu bedienen, nach einer
eidologischen Methode zu behandeln. Der Schriftsteller würde suchen, die
Gesammtheit und die Beziehungen der Hauptideen, die sich auf literarischem Felde
gebildet haben, die antike Idee, die christliche, die klassische, die protestantische,
die monarchische, die philosophische, die sociale zu erklären; dann würde er,
jede derselben bei ihrer Wiege ausgreifen, ihr in ihrem Laufe folgen, sie auf
ihren Wanderungen begleiten, ihre verschiedenen Schicksale, ihre auf einander
folgenden Umbildungen, ihre Entwickelung, ihren Höhepunct und ihren Verfall
angeben. Er würde für die Literatur denselben Weg befolgen, den für die
Geographie jene Autoren einschlagen, welche ein Land nach den Flußgebieten
beschreiben, indem sie einen bedeutenden Strom bei seiner Quelle aufnehmen,
die reichen Thäler, die finstern Wälder, die volkreichen Städte, dann wieder die
kahlen Haiden und Einöden schildern, welche er durchfließt, indem er in seinem
Laufe den Tribut der Nebengewässer aufnimmt, — bis er sich in der Unermeß-
lichkeit des Oceans verliert.

Oder wenn die Aufgabe zu schwierig wäre, und sicherlich wäre dieß eine
von den Arbeiten, die geeignet sind, das Leben mehrerer Schriftsteller aufzu¬
brauchen, so könnte man sich auf eine bestimmte Form beschränken. Man wählte
auf gut Glück die Geschichte des Einen oder des Andern. Nehmen wir z. B.
das neuere Theater. Man sähe es zuerst durch die christliche Idee beherrscht,
welche es nach ihrer Willkühr ausbeutete, und nach einigem Umhertappen es in
Frankreich in die Mysterien und geistlichen Stücke verwandelte. Kaum war
das Signal gegeben, so wurden die Mysterien nach einander überall angenom-

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Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription. (2013-11-19T17:23:38Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Erster Jahrgang. Leipzig, 1841, S. 22. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_179382_282158/30>, abgerufen am 21.11.2024.