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Die Grenzboten. Erster Jahrgang. Leipzig, 1841.

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calität hervor, jede andere Gattung von Industrie hätte eben so zufällig
dort sich niederlassen können; in Leipzig hingegen ist die Buchfabrikation aus
den Verhältnissen hervorgegangen, welche das Wesen der Stadt bilden. Auf
der einen Seite mußte die Messe, die es zum Stapelplatze des Sortiment-
Handels machte, die Verlagsunternehmungen an Ort und Stelle begünstigen,
da die Verleger, an der Verkaufsquelle sitzend, ihren Betrieb kostengeringer
und sicherer bewerkstelligen. Auf der andern Seite führt die Universität im¬
mer neue Rekruten der schriftstellerischen Fahne zu. Leipzig ist in dieser Be¬
ziehung ein leibhaftes Wallensteinisches Lager. Die Armee von Literaten,
die hier stationirt, ist ein so zusammen gewürfelter Heerhaufe, wie nur je
die Trommel des Herzogs von Friedland aus aller Herren Ländern sie zu¬
sammen gerufen: Ungarn, Böhmen, Märker, Schlesier, Baiern, Sachsen,
Preußen, Franken, Engländer, alles durcheinander. Man darf nicht ver¬
kennen, daß dieser Standpunct Leipzigs von großen Folgen für die deutsche
Literatur gewesen ist. Das Unerquickliche, welches die deutschen Zustände
in Geschichte, Politik, und socialen: Leben darbieten, hat meistens seinen Grund
in dem Mangel eines Mittelpunctes, in dem gänzlichen Mangel an Cen¬
tralisation. Daß die deutsche Literatur etwas besser daran ist, als die deut¬
sche Geschichte, daß es hier eine wirkliche nationale Einheit gibt, das dankt
sie zunächst Leipzig. Hier bildete sich zuerst ein Centralpunkt für die litera¬
rischen Interessen. Unsere eigentliche Nationalliteratur beginnt erst mit jener
leipziger Schule zu zählen an, deren Mitglieder die junge Studentenwelt:
Kramer, Gellert, die Schlegel, Rabner, Klopstock, Weiße, Lessing etc. waren.
Vor dieser Zeit bietet unsere Literaturgeschichte einen bunten, zersplitterten
Anblick ganz wie unsere Reichsgeschichte. Kein Halt, kein einheitliches Be¬
streben, kein einheitliches Verständniß, nicht einmal eine einheitliche Sprache.
Gottsched war für unsere Literatur, was Ludwig der Eilfte für Frankreich
war. Ein pedantischer Tyrann, auf der einen Seite kriechend und furcht¬
sam, auf der andern frech und herrisch *) Aber, wie Ludwig der Eilfte, hat
er das große Verdienst, eine Centralisation, ein kräftiges, inneres Band ge¬
schaffen zu haben; er verstand es, die fernen, unabhängigkeitslustigen Kräfte

*) Die Schilderung, die Gervinus von dem Treiben dieses Mannes macht, wie er¬
götzlich sie auch in ihrer Art ist, und mit welchen Knüppelhieben er auch auf das
Andenken jenes Mannes losschlägt, dessen Schleichwege den freiheitslustigen,
derben Charakter des Göttinger Literaturhistorikers anwidern mögen, so beweist
sie doch, welchen Einfluß dieser Mann ans seine Zeit ausübte, und über welches
Heer er zu kommandiren hatte. Nach Schlesien, nach Preußen, nach Schwaben
und Oesterreich, nach Hannover und Hamburg, reichten seine Mandate, reichten
sein Einfluß und seine diplomatischen Netze.

calität hervor, jede andere Gattung von Industrie hätte eben so zufällig
dort sich niederlassen können; in Leipzig hingegen ist die Buchfabrikation aus
den Verhältnissen hervorgegangen, welche das Wesen der Stadt bilden. Auf
der einen Seite mußte die Messe, die es zum Stapelplatze des Sortiment-
Handels machte, die Verlagsunternehmungen an Ort und Stelle begünstigen,
da die Verleger, an der Verkaufsquelle sitzend, ihren Betrieb kostengeringer
und sicherer bewerkstelligen. Auf der andern Seite führt die Universität im¬
mer neue Rekruten der schriftstellerischen Fahne zu. Leipzig ist in dieser Be¬
ziehung ein leibhaftes Wallensteinisches Lager. Die Armee von Literaten,
die hier stationirt, ist ein so zusammen gewürfelter Heerhaufe, wie nur je
die Trommel des Herzogs von Friedland aus aller Herren Ländern sie zu¬
sammen gerufen: Ungarn, Böhmen, Märker, Schlesier, Baiern, Sachsen,
Preußen, Franken, Engländer, alles durcheinander. Man darf nicht ver¬
kennen, daß dieser Standpunct Leipzigs von großen Folgen für die deutsche
Literatur gewesen ist. Das Unerquickliche, welches die deutschen Zustände
in Geschichte, Politik, und socialen: Leben darbieten, hat meistens seinen Grund
in dem Mangel eines Mittelpunctes, in dem gänzlichen Mangel an Cen¬
tralisation. Daß die deutsche Literatur etwas besser daran ist, als die deut¬
sche Geschichte, daß es hier eine wirkliche nationale Einheit gibt, das dankt
sie zunächst Leipzig. Hier bildete sich zuerst ein Centralpunkt für die litera¬
rischen Interessen. Unsere eigentliche Nationalliteratur beginnt erst mit jener
leipziger Schule zu zählen an, deren Mitglieder die junge Studentenwelt:
Kramer, Gellert, die Schlegel, Rabner, Klopstock, Weiße, Lessing ꝛc. waren.
Vor dieser Zeit bietet unsere Literaturgeschichte einen bunten, zersplitterten
Anblick ganz wie unsere Reichsgeschichte. Kein Halt, kein einheitliches Be¬
streben, kein einheitliches Verständniß, nicht einmal eine einheitliche Sprache.
Gottsched war für unsere Literatur, was Ludwig der Eilfte für Frankreich
war. Ein pedantischer Tyrann, auf der einen Seite kriechend und furcht¬
sam, auf der andern frech und herrisch *) Aber, wie Ludwig der Eilfte, hat
er das große Verdienst, eine Centralisation, ein kräftiges, inneres Band ge¬
schaffen zu haben; er verstand es, die fernen, unabhängigkeitslustigen Kräfte

*) Die Schilderung, die Gervinus von dem Treiben dieses Mannes macht, wie er¬
götzlich sie auch in ihrer Art ist, und mit welchen Knüppelhieben er auch auf das
Andenken jenes Mannes losschlägt, dessen Schleichwege den freiheitslustigen,
derben Charakter des Göttinger Literaturhistorikers anwidern mögen, so beweist
sie doch, welchen Einfluß dieser Mann ans seine Zeit ausübte, und über welches
Heer er zu kommandiren hatte. Nach Schlesien, nach Preußen, nach Schwaben
und Oesterreich, nach Hannover und Hamburg, reichten seine Mandate, reichten
sein Einfluß und seine diplomatischen Netze.
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[28/0036] calität hervor, jede andere Gattung von Industrie hätte eben so zufällig dort sich niederlassen können; in Leipzig hingegen ist die Buchfabrikation aus den Verhältnissen hervorgegangen, welche das Wesen der Stadt bilden. Auf der einen Seite mußte die Messe, die es zum Stapelplatze des Sortiment- Handels machte, die Verlagsunternehmungen an Ort und Stelle begünstigen, da die Verleger, an der Verkaufsquelle sitzend, ihren Betrieb kostengeringer und sicherer bewerkstelligen. Auf der andern Seite führt die Universität im¬ mer neue Rekruten der schriftstellerischen Fahne zu. Leipzig ist in dieser Be¬ ziehung ein leibhaftes Wallensteinisches Lager. Die Armee von Literaten, die hier stationirt, ist ein so zusammen gewürfelter Heerhaufe, wie nur je die Trommel des Herzogs von Friedland aus aller Herren Ländern sie zu¬ sammen gerufen: Ungarn, Böhmen, Märker, Schlesier, Baiern, Sachsen, Preußen, Franken, Engländer, alles durcheinander. Man darf nicht ver¬ kennen, daß dieser Standpunct Leipzigs von großen Folgen für die deutsche Literatur gewesen ist. Das Unerquickliche, welches die deutschen Zustände in Geschichte, Politik, und socialen: Leben darbieten, hat meistens seinen Grund in dem Mangel eines Mittelpunctes, in dem gänzlichen Mangel an Cen¬ tralisation. Daß die deutsche Literatur etwas besser daran ist, als die deut¬ sche Geschichte, daß es hier eine wirkliche nationale Einheit gibt, das dankt sie zunächst Leipzig. Hier bildete sich zuerst ein Centralpunkt für die litera¬ rischen Interessen. Unsere eigentliche Nationalliteratur beginnt erst mit jener leipziger Schule zu zählen an, deren Mitglieder die junge Studentenwelt: Kramer, Gellert, die Schlegel, Rabner, Klopstock, Weiße, Lessing ꝛc. waren. Vor dieser Zeit bietet unsere Literaturgeschichte einen bunten, zersplitterten Anblick ganz wie unsere Reichsgeschichte. Kein Halt, kein einheitliches Be¬ streben, kein einheitliches Verständniß, nicht einmal eine einheitliche Sprache. Gottsched war für unsere Literatur, was Ludwig der Eilfte für Frankreich war. Ein pedantischer Tyrann, auf der einen Seite kriechend und furcht¬ sam, auf der andern frech und herrisch *) Aber, wie Ludwig der Eilfte, hat er das große Verdienst, eine Centralisation, ein kräftiges, inneres Band ge¬ schaffen zu haben; er verstand es, die fernen, unabhängigkeitslustigen Kräfte *) Die Schilderung, die Gervinus von dem Treiben dieses Mannes macht, wie er¬ götzlich sie auch in ihrer Art ist, und mit welchen Knüppelhieben er auch auf das Andenken jenes Mannes losschlägt, dessen Schleichwege den freiheitslustigen, derben Charakter des Göttinger Literaturhistorikers anwidern mögen, so beweist sie doch, welchen Einfluß dieser Mann ans seine Zeit ausübte, und über welches Heer er zu kommandiren hatte. Nach Schlesien, nach Preußen, nach Schwaben und Oesterreich, nach Hannover und Hamburg, reichten seine Mandate, reichten sein Einfluß und seine diplomatischen Netze.

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Bayerische Staatbibliothek: Bereitstellung der Bilddigitalisate (Signatur Per 61 k-1). (2013-11-19T17:23:38Z)

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Erster Jahrgang. Leipzig, 1841, S. 28. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_179382_282158/36>, abgerufen am 24.11.2024.