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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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Analogie des Irreseins mit Traum.
Vorstellungen und Gefühle, die lichten Bilder von Glück, Grösse,
Erhabenheit, Reichthum u. dergl. hervor, und sobald, ohne Genesung,
durch Umänderung des Gehirnzustands der Druck der schmerzlichen
Empfindungen weggenommen ist, springt das frühere psychische Elend
gerne in den Jubel der maniacalischen Selbstüberhebung um. So
sieht man denn namentlich auch, wie der vermeintliche Besitz und
die imaginäre Erfüllung von Gütern und Wünschen, deren Verwei-
gerung oder Vernichtung eben den psychischen Grund des Irreseins
abgab, so häufig den Hauptinhalt des Deliriums der Geisteskranken
ausmachen, wie die Frau, die ein theures Kind verloren, in Mutter-
freuden delirirt, der, welcher Vermögensverluste erlitten hat, sich
für ausserordentlich reich hält, das betrogene Mädchen sich zärtlich
geliebt von einem treuen Liebhaber wähnt, u. dergl.

Eine Menge weiterer Phänomene des Traums und des Irreseins gehen sich
parallel. So fehlt zuweilen den Geisteskranken wie den Träumenden jedes Zeit-
mass; Minuten werden zu Stunden, wie wir im Traume Jahre in einer Viertel-
stunde durchleben, und Ereignisse, zu deren wirklichem Geschehen Monate er-
fordert würden, scheinen dem Kranken in kürzesten Fristen vorgegangen zu sein.
-- In beiderlei Zuständen spielen Muskelempfindungen -- ausgelegt als Wahn zu
fliegen, zu stürzen etc. -- und Sinneshallucinationen die Hauptrolle, und die letz-
teren dienen namentlich dazu, gewisse Situationen auszudrücken, die von einer
herrschenden Grundstimmung als die entsprechenden gefordert werden, während
die Vorstellungsmassen des Ich, die Ordnung in diese chaotischen Vorgänge
bringen könnten, theils ausgewischt oder zerstoben sind, theils in schmerzlichem
Kampfe mit dem neuen Inhalte des Seelenlebens liegen, oder von diesem nach be-
stimmten Richtungen gewaltsam fortgerissen werden.

Von grossem Interesse sind die selteneren Fälle, wo ein intermittirendes
Irresein an die Stelle des normalen Schlafes trat und dabei einen zwischen wah-
rem Traum und Nachtwandeln stehenden Character zeigte. Guislain (die Phreno-
pathieen, übers. von Wunderlich, p. 80) erzählt einen solchen Fall und hat überhaupt
die Verwandtschaft der Geisteskrankheit mit Traumzuständen gebührend gewürdigt.
Auch gehören hierher die Fälle, wo ein plötzlich eintretender wacher Traum-
zustand das gewöhnliche Tageswachen unterbricht, das nach seinem Aufhören
wieder an derselben Stelle aufgenommen wird. Eine Dame war solchen Paroxis-
men unterworfen: plötzlich in der Mitte einer Unterhaltung brach sie ab und
fieng an von etwas ganz Anderem zu sprechen; nach einiger Zeit nahm sie die
erste Unterhaltung an der Phrase, ja, an dem Worte, wo sie stehen geblieben,
wieder auf, und wusste nicht das Geringste von dem Zwischenfalle. Eine Dame
aus dem Staate New-York wurde von einem plötzlichen Delirium befallen, während
sie an einer kostbaren Stickerei arbeitete; sie blieb sieben Jahre krank, und
genas nun ebenso schnell wieder. Sie nahm ihre Stickerei wieder auf und ar-
beitete mit derselben Ruhe weiter, wie wenn sie nur eine Stunde von der Arbeit
sich entfernt hätte. (?) Prichard, Annal. medicopsychol. I. 1843. p. 336.

Analogie des Irreseins mit Traum.
Vorstellungen und Gefühle, die lichten Bilder von Glück, Grösse,
Erhabenheit, Reichthum u. dergl. hervor, und sobald, ohne Genesung,
durch Umänderung des Gehirnzustands der Druck der schmerzlichen
Empfindungen weggenommen ist, springt das frühere psychische Elend
gerne in den Jubel der maniacalischen Selbstüberhebung um. So
sieht man denn namentlich auch, wie der vermeintliche Besitz und
die imaginäre Erfüllung von Gütern und Wünschen, deren Verwei-
gerung oder Vernichtung eben den psychischen Grund des Irreseins
abgab, so häufig den Hauptinhalt des Deliriums der Geisteskranken
ausmachen, wie die Frau, die ein theures Kind verloren, in Mutter-
freuden delirirt, der, welcher Vermögensverluste erlitten hat, sich
für ausserordentlich reich hält, das betrogene Mädchen sich zärtlich
geliebt von einem treuen Liebhaber wähnt, u. dergl.

Eine Menge weiterer Phänomene des Traums und des Irreseins gehen sich
parallel. So fehlt zuweilen den Geisteskranken wie den Träumenden jedes Zeit-
mass; Minuten werden zu Stunden, wie wir im Traume Jahre in einer Viertel-
stunde durchleben, und Ereignisse, zu deren wirklichem Geschehen Monate er-
fordert würden, scheinen dem Kranken in kürzesten Fristen vorgegangen zu sein.
— In beiderlei Zuständen spielen Muskelempfindungen — ausgelegt als Wahn zu
fliegen, zu stürzen etc. — und Sinneshallucinationen die Hauptrolle, und die letz-
teren dienen namentlich dazu, gewisse Situationen auszudrücken, die von einer
herrschenden Grundstimmung als die entsprechenden gefordert werden, während
die Vorstellungsmassen des Ich, die Ordnung in diese chaotischen Vorgänge
bringen könnten, theils ausgewischt oder zerstoben sind, theils in schmerzlichem
Kampfe mit dem neuen Inhalte des Seelenlebens liegen, oder von diesem nach be-
stimmten Richtungen gewaltsam fortgerissen werden.

Von grossem Interesse sind die selteneren Fälle, wo ein intermittirendes
Irresein an die Stelle des normalen Schlafes trat und dabei einen zwischen wah-
rem Traum und Nachtwandeln stehenden Character zeigte. Guislain (die Phreno-
pathieen, übers. von Wunderlich, p. 80) erzählt einen solchen Fall und hat überhaupt
die Verwandtschaft der Geisteskrankheit mit Traumzuständen gebührend gewürdigt.
Auch gehören hierher die Fälle, wo ein plötzlich eintretender wacher Traum-
zustand das gewöhnliche Tageswachen unterbricht, das nach seinem Aufhören
wieder an derselben Stelle aufgenommen wird. Eine Dame war solchen Paroxis-
men unterworfen: plötzlich in der Mitte einer Unterhaltung brach sie ab und
fieng an von etwas ganz Anderem zu sprechen; nach einiger Zeit nahm sie die
erste Unterhaltung an der Phrase, ja, an dem Worte, wo sie stehen geblieben,
wieder auf, und wusste nicht das Geringste von dem Zwischenfalle. Eine Dame
aus dem Staate New-York wurde von einem plötzlichen Delirium befallen, während
sie an einer kostbaren Stickerei arbeitete; sie blieb sieben Jahre krank, und
genas nun ebenso schnell wieder. Sie nahm ihre Stickerei wieder auf und ar-
beitete mit derselben Ruhe weiter, wie wenn sie nur eine Stunde von der Arbeit
sich entfernt hätte. (?) Prichard, Annal. medicopsychol. I. 1843. p. 336.

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[90/0104] Analogie des Irreseins mit Traum. Vorstellungen und Gefühle, die lichten Bilder von Glück, Grösse, Erhabenheit, Reichthum u. dergl. hervor, und sobald, ohne Genesung, durch Umänderung des Gehirnzustands der Druck der schmerzlichen Empfindungen weggenommen ist, springt das frühere psychische Elend gerne in den Jubel der maniacalischen Selbstüberhebung um. So sieht man denn namentlich auch, wie der vermeintliche Besitz und die imaginäre Erfüllung von Gütern und Wünschen, deren Verwei- gerung oder Vernichtung eben den psychischen Grund des Irreseins abgab, so häufig den Hauptinhalt des Deliriums der Geisteskranken ausmachen, wie die Frau, die ein theures Kind verloren, in Mutter- freuden delirirt, der, welcher Vermögensverluste erlitten hat, sich für ausserordentlich reich hält, das betrogene Mädchen sich zärtlich geliebt von einem treuen Liebhaber wähnt, u. dergl. Eine Menge weiterer Phänomene des Traums und des Irreseins gehen sich parallel. So fehlt zuweilen den Geisteskranken wie den Träumenden jedes Zeit- mass; Minuten werden zu Stunden, wie wir im Traume Jahre in einer Viertel- stunde durchleben, und Ereignisse, zu deren wirklichem Geschehen Monate er- fordert würden, scheinen dem Kranken in kürzesten Fristen vorgegangen zu sein. — In beiderlei Zuständen spielen Muskelempfindungen — ausgelegt als Wahn zu fliegen, zu stürzen etc. — und Sinneshallucinationen die Hauptrolle, und die letz- teren dienen namentlich dazu, gewisse Situationen auszudrücken, die von einer herrschenden Grundstimmung als die entsprechenden gefordert werden, während die Vorstellungsmassen des Ich, die Ordnung in diese chaotischen Vorgänge bringen könnten, theils ausgewischt oder zerstoben sind, theils in schmerzlichem Kampfe mit dem neuen Inhalte des Seelenlebens liegen, oder von diesem nach be- stimmten Richtungen gewaltsam fortgerissen werden. Von grossem Interesse sind die selteneren Fälle, wo ein intermittirendes Irresein an die Stelle des normalen Schlafes trat und dabei einen zwischen wah- rem Traum und Nachtwandeln stehenden Character zeigte. Guislain (die Phreno- pathieen, übers. von Wunderlich, p. 80) erzählt einen solchen Fall und hat überhaupt die Verwandtschaft der Geisteskrankheit mit Traumzuständen gebührend gewürdigt. Auch gehören hierher die Fälle, wo ein plötzlich eintretender wacher Traum- zustand das gewöhnliche Tageswachen unterbricht, das nach seinem Aufhören wieder an derselben Stelle aufgenommen wird. Eine Dame war solchen Paroxis- men unterworfen: plötzlich in der Mitte einer Unterhaltung brach sie ab und fieng an von etwas ganz Anderem zu sprechen; nach einiger Zeit nahm sie die erste Unterhaltung an der Phrase, ja, an dem Worte, wo sie stehen geblieben, wieder auf, und wusste nicht das Geringste von dem Zwischenfalle. Eine Dame aus dem Staate New-York wurde von einem plötzlichen Delirium befallen, während sie an einer kostbaren Stickerei arbeitete; sie blieb sieben Jahre krank, und genas nun ebenso schnell wieder. Sie nahm ihre Stickerei wieder auf und ar- beitete mit derselben Ruhe weiter, wie wenn sie nur eine Stunde von der Arbeit sich entfernt hätte. (?) Prichard, Annal. medicopsychol. I. 1843. p. 336.

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 90. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/104>, abgerufen am 21.11.2024.