mich dafür der Formen und Termini einer anerkannten (der Herbart'schen) Psychologie bedienen zu müssen. Ich werde mich für diese Resignation ein andermal entschädigen.
Bei Darstellung der einzelnen Formen ging mein Bestreben nicht auf zersplitternde Vervielfachung der Arten, sondern auf Einfachheit und Deut- lichkeit in der Darstellung der Hauptformen, unter welche, wie ich glaube, alle vorkommenden Fälle subsummirt werden können. Wie es die Sache mit sich brachte, habe ich hier Vieles von Anderen aufnehmen müssen; die gebräuchliche Eintheilung der Geisteskrankheiten habe ich namentlich an zwei Stellen verändert, indem ich die psychischen Exaltationszustände in zwei Formen spaltete, und indem ich die Verrücktheit den Schwächezuständen anschloss. Beides wurde an seiner Stelle gerechtfertigt. Die den einzelnen Formen beigegebenen Beispiele, meist sehr abgekürzte Krankheitsgeschichten aus der Literatur, werden dem, welcher noch keine Geisteskranke beobachten konnte, wenigstens ein, freilich dürftiges und schwaches Bild solcher Zu- stände geben.
Für die pathologische Anatomie, wie übrigens für die anderen Ab- schnitte, wurde die Literatur reichhaltig benützt; aus der Vereinigung der pathologisch-anatomischen Thatsachen gingen mir einige Schlüsse für die ganze Lehre von den Gehirnfunctionen hervor, die ich nur andeutete und deren völlige Bestätigung ich weiteren Untersuchungen überlasse. Das Studium des Gehirns der Geisteskranken fängt erst recht an; es muss zur Grundlage aller Untersuchungen werden, und der Geist der anatomischen Diagnostik wird immer der beste Schild gegen die gesalbte Pectoralpsychiatrie und gegen das laienhafte Dareinreden derer sein, welche diesen Abschnitt der Gehirnpathologie zum Schauplatz ihrer moralisirenden Excurse wählen.
Es wurde gesucht, die Therapie enger als bisher mit der Pathologie zu verbinden und die vorliegenden Thatsachen über das Gelingen der Heilung in grundsätzliche Gemeinschaft mit dem, was Aetiologie, pathologische Anatomie und psychologische Analyse ergeben, zu bringen. Das Capitel von den Irren-Anstalten sollte nur die wesentlichsten Punkte für diejenigen Leser enthalten, welche erst anfangen, von den hierhergehörigen Fragen Notiz zu nehmen. Die Anwendung der Lehre von den krankhaften Seelenzuständen auf die Bedürfnisse der Rechtspflege wurde von der Schrift ausgeschlossen; die Grundsätze, welche aus den hier vorgetragenen Lehren hervorgehen, werden sich dem denkenden Leser selbst aufdrängen; ihre vollständige Ausführung hätte aber viel zu weit geführt, und sie sollen der Gegenstand besonders zu veröffentlichender Untersuchungen sein.
Weitere Rechtfertigungen ihrer Richtung glaube ich der Schrift nicht mitgeben zu dürfen. Die Bezeichnung "materialistisch," die nicht ausbleiben
Vorwort.
mich dafür der Formen und Termini einer anerkannten (der Herbart’schen) Psychologie bedienen zu müssen. Ich werde mich für diese Resignation ein andermal entschädigen.
Bei Darstellung der einzelnen Formen ging mein Bestreben nicht auf zersplitternde Vervielfachung der Arten, sondern auf Einfachheit und Deut- lichkeit in der Darstellung der Hauptformen, unter welche, wie ich glaube, alle vorkommenden Fälle subsummirt werden können. Wie es die Sache mit sich brachte, habe ich hier Vieles von Anderen aufnehmen müssen; die gebräuchliche Eintheilung der Geisteskrankheiten habe ich namentlich an zwei Stellen verändert, indem ich die psychischen Exaltationszustände in zwei Formen spaltete, und indem ich die Verrücktheit den Schwächezuständen anschloss. Beides wurde an seiner Stelle gerechtfertigt. Die den einzelnen Formen beigegebenen Beispiele, meist sehr abgekürzte Krankheitsgeschichten aus der Literatur, werden dem, welcher noch keine Geisteskranke beobachten konnte, wenigstens ein, freilich dürftiges und schwaches Bild solcher Zu- stände geben.
Für die pathologische Anatomie, wie übrigens für die anderen Ab- schnitte, wurde die Literatur reichhaltig benützt; aus der Vereinigung der pathologisch-anatomischen Thatsachen gingen mir einige Schlüsse für die ganze Lehre von den Gehirnfunctionen hervor, die ich nur andeutete und deren völlige Bestätigung ich weiteren Untersuchungen überlasse. Das Studium des Gehirns der Geisteskranken fängt erst recht an; es muss zur Grundlage aller Untersuchungen werden, und der Geist der anatomischen Diagnostik wird immer der beste Schild gegen die gesalbte Pectoralpsychiatrie und gegen das laienhafte Dareinreden derer sein, welche diesen Abschnitt der Gehirnpathologie zum Schauplatz ihrer moralisirenden Excurse wählen.
Es wurde gesucht, die Therapie enger als bisher mit der Pathologie zu verbinden und die vorliegenden Thatsachen über das Gelingen der Heilung in grundsätzliche Gemeinschaft mit dem, was Aetiologie, pathologische Anatomie und psychologische Analyse ergeben, zu bringen. Das Capitel von den Irren-Anstalten sollte nur die wesentlichsten Punkte für diejenigen Leser enthalten, welche erst anfangen, von den hierhergehörigen Fragen Notiz zu nehmen. Die Anwendung der Lehre von den krankhaften Seelenzuständen auf die Bedürfnisse der Rechtspflege wurde von der Schrift ausgeschlossen; die Grundsätze, welche aus den hier vorgetragenen Lehren hervorgehen, werden sich dem denkenden Leser selbst aufdrängen; ihre vollständige Ausführung hätte aber viel zu weit geführt, und sie sollen der Gegenstand besonders zu veröffentlichender Untersuchungen sein.
Weitere Rechtfertigungen ihrer Richtung glaube ich der Schrift nicht mitgeben zu dürfen. Die Bezeichnung „materialistisch,“ die nicht ausbleiben
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Vorwort.
mich dafür der Formen und Termini einer anerkannten (der Herbart’schen)
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ein andermal entschädigen.
Bei Darstellung der einzelnen Formen ging mein Bestreben nicht auf
zersplitternde Vervielfachung der Arten, sondern auf Einfachheit und Deut-
lichkeit in der Darstellung der Hauptformen, unter welche, wie ich glaube,
alle vorkommenden Fälle subsummirt werden können. Wie es die Sache mit
sich brachte, habe ich hier Vieles von Anderen aufnehmen müssen; die
gebräuchliche Eintheilung der Geisteskrankheiten habe ich namentlich an zwei
Stellen verändert, indem ich die psychischen Exaltationszustände in zwei
Formen spaltete, und indem ich die Verrücktheit den Schwächezuständen
anschloss. Beides wurde an seiner Stelle gerechtfertigt. Die den einzelnen
Formen beigegebenen Beispiele, meist sehr abgekürzte Krankheitsgeschichten
aus der Literatur, werden dem, welcher noch keine Geisteskranke beobachten
konnte, wenigstens ein, freilich dürftiges und schwaches Bild solcher Zu-
stände geben.
Für die pathologische Anatomie, wie übrigens für die anderen Ab-
schnitte, wurde die Literatur reichhaltig benützt; aus der Vereinigung der
pathologisch-anatomischen Thatsachen gingen mir einige Schlüsse für die
ganze Lehre von den Gehirnfunctionen hervor, die ich nur andeutete und
deren völlige Bestätigung ich weiteren Untersuchungen überlasse. Das
Studium des Gehirns der Geisteskranken fängt erst recht an; es muss zur
Grundlage aller Untersuchungen werden, und der Geist der anatomischen
Diagnostik wird immer der beste Schild gegen die gesalbte Pectoralpsychiatrie
und gegen das laienhafte Dareinreden derer sein, welche diesen Abschnitt
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Es wurde gesucht, die Therapie enger als bisher mit der Pathologie
zu verbinden und die vorliegenden Thatsachen über das Gelingen der Heilung
in grundsätzliche Gemeinschaft mit dem, was Aetiologie, pathologische
Anatomie und psychologische Analyse ergeben, zu bringen. Das Capitel von
den Irren-Anstalten sollte nur die wesentlichsten Punkte für diejenigen Leser
enthalten, welche erst anfangen, von den hierhergehörigen Fragen Notiz zu
nehmen. Die Anwendung der Lehre von den krankhaften Seelenzuständen
auf die Bedürfnisse der Rechtspflege wurde von der Schrift ausgeschlossen;
die Grundsätze, welche aus den hier vorgetragenen Lehren hervorgehen,
werden sich dem denkenden Leser selbst aufdrängen; ihre vollständige
Ausführung hätte aber viel zu weit geführt, und sie sollen der Gegenstand
besonders zu veröffentlichender Untersuchungen sein.
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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. V. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/11>, abgerufen am 09.11.2024.
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