Aus allen solchen Zahlen folgt aber nichts für die wirkliche grössere Häufigkeit des Irreseins bei einem oder dem andern Ge- schlecht. Die Schätzung Esquirols, die sich auf 70,000 Kranke aller Länder erstreckte, freilich ohne desshalb an Festigkeit der Basis zu gewinnen, wies eine ganz unbedeutende Mehrzahl auf Seiten des weiblichen Geschlechtes aus. Für England, Norwegen, Dänemark, Russland und Nordamerika, ebenso für die preussischen Provinzen Westphalen und Sachsen, für die südlichen Departements von Frank- reich ergeben die bisherigen Zählungen im Ganzen mehr Männer als Weiber, während dagegen in den nördlichen französischen Provinzen und in den Niederlanden die Zahl der Weiber vorherrschen soll und auch die Zählung in Würtemberg ein Vorherrschen des weiblichen Geschlechts (505 Männer, 582 Weiber) nachwies. *) Alle diese An- gaben **) bedürfen weiterer Bestätigungen und lassen keine Schlüsse zu.
Gleich unzulässig wäre ein Versuch, aus der Häufigkeit und Bedeutsamkeit einiger, dem weiblichen Geschlechte speciell zukommender Ursachen apriorische Folgerungen zu ziehen; denn die Menstruationsstörungen, die Schwangerschaft, das Wochenbett gehören zwar unzweifelhaft unter die Verhältnisse, welche häufig zu Ursachen des Irreseins werden, aber es stehen ihnen auf Seiten des männ- lichen Geschlechts eine Reihe anderer diesen besonders eigenthümlicher Momente, vor allem die hier weit häufigere Trunksucht, die geistigen Anstrengungen, die Kämpfe des Ehrgeizes, die Gemüthsbewegungen und Erschöpfungen, welche das Geschäftsleben mit sich bringt, entgegen -- ursächliche Verhältnisse, durch welche gewiss jener eigenthümliche Einfluss der sexuellen Processe auf die Ent- stehung des Irreseins im Grossen und Ganzen genugsam aufgewogen wird. Mit den banalen Floskeln von grösserer Zartheit, Reizbarkeit, Gefühligkeit des Weibes aber wird Niemand eine derartige Frage im Ernste lösen wollen.
Was den Einfluss der Ehe oder des ehelosen Lebens betrifft, so stimmen die verschiedenen Angaben ***) darin überein, dass unter den unverheiratheten Männern die Erkrankungen häufiger seien, dass dagegen unter den Weibern mehr verehlichte Personen erkranken, eine Thatsache, welche sich wohl allein aus dem Heirathen des weiblichen Geschlechts in einem früheren Lebensalter erklären lässt. Auch unter den verwittweten Kranken prädominirt das weibliche Ge- schlecht, vielleicht wegen seiner hülf- und schutzloseren Lage unter diesen Umständen. Mit Recht aber macht Zeller +) darauf aufmerk- sam, dass, wenn zwar der ehelose Stand mehr Veranlassung zu
*) Köstlin. l. c. p. 7.
**) Fuchs, l. c. p. 95. Quetelet. p. 436.
***) Fuchs. l. c. p. 103. Köstlin. l. c. p. 9.
+) l. c. p. 18.
auf das Irresein.
Aus allen solchen Zahlen folgt aber nichts für die wirkliche grössere Häufigkeit des Irreseins bei einem oder dem andern Ge- schlecht. Die Schätzung Esquirols, die sich auf 70,000 Kranke aller Länder erstreckte, freilich ohne desshalb an Festigkeit der Basis zu gewinnen, wies eine ganz unbedeutende Mehrzahl auf Seiten des weiblichen Geschlechtes aus. Für England, Norwegen, Dänemark, Russland und Nordamerika, ebenso für die preussischen Provinzen Westphalen und Sachsen, für die südlichen Departements von Frank- reich ergeben die bisherigen Zählungen im Ganzen mehr Männer als Weiber, während dagegen in den nördlichen französischen Provinzen und in den Niederlanden die Zahl der Weiber vorherrschen soll und auch die Zählung in Würtemberg ein Vorherrschen des weiblichen Geschlechts (505 Männer, 582 Weiber) nachwies. *) Alle diese An- gaben **) bedürfen weiterer Bestätigungen und lassen keine Schlüsse zu.
Gleich unzulässig wäre ein Versuch, aus der Häufigkeit und Bedeutsamkeit einiger, dem weiblichen Geschlechte speciell zukommender Ursachen apriorische Folgerungen zu ziehen; denn die Menstruationsstörungen, die Schwangerschaft, das Wochenbett gehören zwar unzweifelhaft unter die Verhältnisse, welche häufig zu Ursachen des Irreseins werden, aber es stehen ihnen auf Seiten des männ- lichen Geschlechts eine Reihe anderer diesen besonders eigenthümlicher Momente, vor allem die hier weit häufigere Trunksucht, die geistigen Anstrengungen, die Kämpfe des Ehrgeizes, die Gemüthsbewegungen und Erschöpfungen, welche das Geschäftsleben mit sich bringt, entgegen — ursächliche Verhältnisse, durch welche gewiss jener eigenthümliche Einfluss der sexuellen Processe auf die Ent- stehung des Irreseins im Grossen und Ganzen genugsam aufgewogen wird. Mit den banalen Floskeln von grösserer Zartheit, Reizbarkeit, Gefühligkeit des Weibes aber wird Niemand eine derartige Frage im Ernste lösen wollen.
Was den Einfluss der Ehe oder des ehelosen Lebens betrifft, so stimmen die verschiedenen Angaben ***) darin überein, dass unter den unverheiratheten Männern die Erkrankungen häufiger seien, dass dagegen unter den Weibern mehr verehlichte Personen erkranken, eine Thatsache, welche sich wohl allein aus dem Heirathen des weiblichen Geschlechts in einem früheren Lebensalter erklären lässt. Auch unter den verwittweten Kranken prädominirt das weibliche Ge- schlecht, vielleicht wegen seiner hülf- und schutzloseren Lage unter diesen Umständen. Mit Recht aber macht Zeller †) darauf aufmerk- sam, dass, wenn zwar der ehelose Stand mehr Veranlassung zu
*) Köstlin. l. c. p. 7.
**) Fuchs, l. c. p. 95. Quetelet. p. 436.
***) Fuchs. l. c. p. 103. Köstlin. l. c. p. 9.
†) l. c. p. 18.
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auf das Irresein.
Aus allen solchen Zahlen folgt aber nichts für die wirkliche
grössere Häufigkeit des Irreseins bei einem oder dem andern Ge-
schlecht. Die Schätzung Esquirols, die sich auf 70,000 Kranke aller
Länder erstreckte, freilich ohne desshalb an Festigkeit der Basis zu
gewinnen, wies eine ganz unbedeutende Mehrzahl auf Seiten des
weiblichen Geschlechtes aus. Für England, Norwegen, Dänemark,
Russland und Nordamerika, ebenso für die preussischen Provinzen
Westphalen und Sachsen, für die südlichen Departements von Frank-
reich ergeben die bisherigen Zählungen im Ganzen mehr Männer als
Weiber, während dagegen in den nördlichen französischen Provinzen
und in den Niederlanden die Zahl der Weiber vorherrschen soll und
auch die Zählung in Würtemberg ein Vorherrschen des weiblichen
Geschlechts (505 Männer, 582 Weiber) nachwies. *) Alle diese An-
gaben **) bedürfen weiterer Bestätigungen und lassen keine Schlüsse zu.
Gleich unzulässig wäre ein Versuch, aus der Häufigkeit und Bedeutsamkeit
einiger, dem weiblichen Geschlechte speciell zukommender Ursachen apriorische
Folgerungen zu ziehen; denn die Menstruationsstörungen, die Schwangerschaft,
das Wochenbett gehören zwar unzweifelhaft unter die Verhältnisse, welche häufig
zu Ursachen des Irreseins werden, aber es stehen ihnen auf Seiten des männ-
lichen Geschlechts eine Reihe anderer diesen besonders eigenthümlicher Momente,
vor allem die hier weit häufigere Trunksucht, die geistigen Anstrengungen, die
Kämpfe des Ehrgeizes, die Gemüthsbewegungen und Erschöpfungen, welche das
Geschäftsleben mit sich bringt, entgegen — ursächliche Verhältnisse, durch
welche gewiss jener eigenthümliche Einfluss der sexuellen Processe auf die Ent-
stehung des Irreseins im Grossen und Ganzen genugsam aufgewogen wird. Mit
den banalen Floskeln von grösserer Zartheit, Reizbarkeit, Gefühligkeit des Weibes
aber wird Niemand eine derartige Frage im Ernste lösen wollen.
Was den Einfluss der Ehe oder des ehelosen Lebens betrifft,
so stimmen die verschiedenen Angaben ***) darin überein, dass unter
den unverheiratheten Männern die Erkrankungen häufiger seien, dass
dagegen unter den Weibern mehr verehlichte Personen erkranken,
eine Thatsache, welche sich wohl allein aus dem Heirathen des
weiblichen Geschlechts in einem früheren Lebensalter erklären lässt.
Auch unter den verwittweten Kranken prädominirt das weibliche Ge-
schlecht, vielleicht wegen seiner hülf- und schutzloseren Lage unter
diesen Umständen. Mit Recht aber macht Zeller †) darauf aufmerk-
sam, dass, wenn zwar der ehelose Stand mehr Veranlassung zu
*) Köstlin. l. c. p. 7.
**) Fuchs, l. c. p. 95. Quetelet. p. 436.
***) Fuchs. l. c. p. 103. Köstlin. l. c. p. 9.
†) l. c. p. 18.
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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 107. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/121>, abgerufen am 21.11.2024.
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