Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.Beispiele von als ich im Jahr 1820 durch ein Augenleiden zu äusserer Unthätigkeit verurtheiltwar, so bestand meine meiste Unterhaltung in Gedanken, die oft sehr trauriger Art waren, und nothwendig bei mir einen üblen Eindruck zurücklassen mussten. Anno 1822 machte ein Brand und eine dabei stattfindende Durchnässung, während ich eben Reconvalescent von einer mehrwöchentlichen Unpässlichkeit war, den schlimmsten Eindrnck. Von jener Zeit an wurde der Stuhl seltener und trat Schwer- hörigkeit ein; zu Ueberladung mit Arbeit und sehr gebeugter Stimmung, bei man- gelnder Körperbewegung kamen im Jahr 1824 häusliche Sorgen und der Tod eines neugeborenen Kinds. Von dort an verlor sich die Lust zur Arbeit und die Heiterkeit. Nach der Predigt war ich sehr ermüdet und abgespannt, Beängsti- gung und traurige Ahnungen wandelten mich an, der Schlaf war kurz und von schrecklichen Träumen gequält und nach demselben zog mir ein starker Frost durch alle Glieder. Ich hielt mich indessen für gesünder als je, denn Schwer- hörigkeit, Gliederschmerzen, Blähungen, an denen ich bisher gelitten, hörten auf und ich fühlte keine Unannehmlichkeit nach dem Essen mehr. So kam es mir gar nicht in den Sinn, den Grund meines traurigen Zustandes in meinem Körper zu suchen, sondern vielmehr in meinem ganzen Leben, das sich mir denn zu einem ungeheuren Verbrechen bildete. Dieser Gedanke entstand bei mir nicht nach und nach, sondern kam, so viel ich mich erinnere, auf einmal in meine Seele wie ein Traum. So erklärte ich meinen ganzen Zustand. Nun war es um alle Klarheit der Gedanken, um alles Zutrauen zu Andern und zu mir selbst geschehen, die ganze Menschheit musste gegen mich aufstehen, mich durch die schrecklichsten Qualen aus ihrer Mitte verstossen und ich selbst war mein grösster Feind. Ich machte meiner Frau die Entdeckung, ich hätte das grösste Verbrechen begangen, das je verübt worden sei und würde von meiner Gemeinde in Stücke zerrissen werden, sobald sie davon Kenntniss erhielte. Die Amtsgeschäfte wurden unmöglich, die Angst immer grösser. Als mir der Kirchenvorstand die besten Versicherungen und Anerbietungen machte, hielt ich doch Alles für verloren und als ich in einer Versammlung zusammen- sank, kam es mir selbst vor, als ob ich diess aus Verstellung thäte. Ein Geräusch im Ofen hielt ich für Trommeln und glaubte Soldaten im Anzuge, um mich abzuholen; später glaubte ich ein Schaffot vor mir zu sehen, wo ich in kleine Stückchen zerfleischt werden sollte und die Furcht vor der Hinrichtung dauerte beständig fort. Die Dinge um mich erschienen mir schöner und glänzender als sonst, die Menschen weiser und klüger, mich selbst erblickte ich in der tiefsten Tiefe und glaubte zu gar nichts mehr fähig zu sein. Nur für Augenblicke glaubte ich, dass ich doch wohl noch gerettet werden könnte und dann folgte gewöhnlich nur grössere Traurigkeit -- -- Meinen Zustand gegen Ende der Krankheit kann ich nicht besser beschreiben, als den eines aus einem schweren Traume Erwachenden, der sich nicht sogleich überzeugen kann, dass es ein Traum gewesen ist. -- --" (Sehr abgekürzt aus Jakobi, Beobachtungen über die Pathologie und Therapie VII. Schwermuth. Heilung mit der Rückkehr der Menstrua- Beispiele von als ich im Jahr 1820 durch ein Augenleiden zu äusserer Unthätigkeit verurtheiltwar, so bestand meine meiste Unterhaltung in Gedanken, die oft sehr trauriger Art waren, und nothwendig bei mir einen üblen Eindruck zurücklassen mussten. Anno 1822 machte ein Brand und eine dabei stattfindende Durchnässung, während ich eben Reconvalescent von einer mehrwöchentlichen Unpässlichkeit war, den schlimmsten Eindrnck. Von jener Zeit an wurde der Stuhl seltener und trat Schwer- hörigkeit ein; zu Ueberladung mit Arbeit und sehr gebeugter Stimmung, bei man- gelnder Körperbewegung kamen im Jahr 1824 häusliche Sorgen und der Tod eines neugeborenen Kinds. Von dort an verlor sich die Lust zur Arbeit und die Heiterkeit. Nach der Predigt war ich sehr ermüdet und abgespannt, Beängsti- gung und traurige Ahnungen wandelten mich an, der Schlaf war kurz und von schrecklichen Träumen gequält und nach demselben zog mir ein starker Frost durch alle Glieder. Ich hielt mich indessen für gesünder als je, denn Schwer- hörigkeit, Gliederschmerzen, Blähungen, an denen ich bisher gelitten, hörten auf und ich fühlte keine Unannehmlichkeit nach dem Essen mehr. So kam es mir gar nicht in den Sinn, den Grund meines traurigen Zustandes in meinem Körper zu suchen, sondern vielmehr in meinem ganzen Leben, das sich mir denn zu einem ungeheuren Verbrechen bildete. Dieser Gedanke entstand bei mir nicht nach und nach, sondern kam, so viel ich mich erinnere, auf einmal in meine Seele wie ein Traum. So erklärte ich meinen ganzen Zustand. Nun war es um alle Klarheit der Gedanken, um alles Zutrauen zu Andern und zu mir selbst geschehen, die ganze Menschheit musste gegen mich aufstehen, mich durch die schrecklichsten Qualen aus ihrer Mitte verstossen und ich selbst war mein grösster Feind. Ich machte meiner Frau die Entdeckung, ich hätte das grösste Verbrechen begangen, das je verübt worden sei und würde von meiner Gemeinde in Stücke zerrissen werden, sobald sie davon Kenntniss erhielte. Die Amtsgeschäfte wurden unmöglich, die Angst immer grösser. Als mir der Kirchenvorstand die besten Versicherungen und Anerbietungen machte, hielt ich doch Alles für verloren und als ich in einer Versammlung zusammen- sank, kam es mir selbst vor, als ob ich diess aus Verstellung thäte. Ein Geräusch im Ofen hielt ich für Trommeln und glaubte Soldaten im Anzuge, um mich abzuholen; später glaubte ich ein Schaffot vor mir zu sehen, wo ich in kleine Stückchen zerfleischt werden sollte und die Furcht vor der Hinrichtung dauerte beständig fort. Die Dinge um mich erschienen mir schöner und glänzender als sonst, die Menschen weiser und klüger, mich selbst erblickte ich in der tiefsten Tiefe und glaubte zu gar nichts mehr fähig zu sein. Nur für Augenblicke glaubte ich, dass ich doch wohl noch gerettet werden könnte und dann folgte gewöhnlich nur grössere Traurigkeit — — Meinen Zustand gegen Ende der Krankheit kann ich nicht besser beschreiben, als den eines aus einem schweren Traume Erwachenden, der sich nicht sogleich überzeugen kann, dass es ein Traum gewesen ist. — —“ (Sehr abgekürzt aus Jakobi, Beobachtungen über die Pathologie und Therapie VII. Schwermuth. Heilung mit der Rückkehr der Menstrua- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0192" n="178"/><fw place="top" type="header">Beispiele von</fw><lb/> als ich im Jahr 1820 durch ein Augenleiden zu äusserer Unthätigkeit verurtheilt<lb/> war, so bestand meine meiste Unterhaltung in Gedanken, die oft sehr trauriger<lb/> Art waren, und nothwendig bei mir einen üblen Eindruck zurücklassen mussten.<lb/> Anno 1822 machte ein Brand und eine dabei stattfindende Durchnässung, während<lb/> ich eben Reconvalescent von einer mehrwöchentlichen Unpässlichkeit war, den<lb/> schlimmsten Eindrnck. Von jener Zeit an wurde der Stuhl seltener und trat Schwer-<lb/> hörigkeit ein; zu Ueberladung mit Arbeit und sehr gebeugter Stimmung, bei man-<lb/> gelnder Körperbewegung kamen im Jahr 1824 häusliche Sorgen und der Tod<lb/> eines neugeborenen Kinds. Von dort an verlor sich die Lust zur Arbeit und die<lb/> Heiterkeit. Nach der Predigt war ich sehr ermüdet und abgespannt, Beängsti-<lb/> gung und traurige Ahnungen wandelten mich an, der Schlaf war kurz und von<lb/> schrecklichen Träumen gequält und nach demselben zog mir ein starker Frost<lb/> durch alle Glieder. Ich hielt mich indessen für gesünder als je, denn Schwer-<lb/> hörigkeit, Gliederschmerzen, Blähungen, an denen ich bisher gelitten, hörten<lb/> auf und ich fühlte keine Unannehmlichkeit nach dem Essen mehr. So kam es<lb/> mir gar nicht in den Sinn, den Grund meines traurigen Zustandes in meinem<lb/> Körper zu suchen, sondern vielmehr in meinem ganzen Leben, das sich mir denn<lb/> zu einem ungeheuren Verbrechen bildete. <hi rendition="#g">Dieser Gedanke entstand bei mir<lb/> nicht nach und nach, sondern kam, so viel ich mich erinnere, auf<lb/> einmal in meine Seele wie ein Traum. So erklärte ich meinen ganzen<lb/> Zustand</hi>. Nun war es um alle Klarheit der Gedanken, um alles Zutrauen zu<lb/> Andern und zu mir selbst geschehen, die ganze Menschheit musste gegen mich<lb/> aufstehen, mich durch die schrecklichsten Qualen aus ihrer Mitte verstossen und<lb/> ich selbst war mein grösster Feind. Ich machte meiner Frau die Entdeckung,<lb/> ich hätte das grösste Verbrechen begangen, das je verübt worden sei und würde<lb/> von meiner Gemeinde in Stücke zerrissen werden, sobald sie davon Kenntniss<lb/> erhielte. Die Amtsgeschäfte wurden unmöglich, die Angst immer grösser. Als<lb/> mir der Kirchenvorstand die besten Versicherungen und Anerbietungen machte,<lb/> hielt ich doch Alles für verloren und als ich in einer Versammlung zusammen-<lb/> sank, kam es mir selbst vor, als ob ich diess aus Verstellung thäte. Ein<lb/> Geräusch im Ofen hielt ich für Trommeln und glaubte Soldaten im Anzuge, um<lb/> mich abzuholen; später glaubte ich ein Schaffot vor mir zu sehen, wo ich in<lb/> kleine Stückchen zerfleischt werden sollte und die Furcht vor der Hinrichtung<lb/> dauerte beständig fort. Die Dinge um mich erschienen mir schöner und glänzender<lb/> als sonst, die Menschen weiser und klüger, mich selbst erblickte ich in der tiefsten<lb/> Tiefe und glaubte zu gar nichts mehr fähig zu sein. Nur für Augenblicke<lb/> glaubte ich, dass ich doch wohl noch gerettet werden könnte und dann folgte<lb/> gewöhnlich nur grössere Traurigkeit — — Meinen Zustand gegen Ende der<lb/> Krankheit kann ich nicht besser beschreiben, als den eines aus einem schweren<lb/> Traume Erwachenden, der sich nicht sogleich überzeugen kann, dass es ein<lb/> Traum gewesen ist. — —“</p><lb/> <p> <hi rendition="#et">(Sehr abgekürzt aus Jakobi, Beobachtungen über die Pathologie und Therapie<lb/> der mit Irresein verbundenen Krankheiten. I. Elberfeld. 1830. p. 441 seqq.)</hi> </p><lb/> <p>VII. <hi rendition="#g">Schwermuth. Heilung mit der Rückkehr der Menstrua-<lb/> tion</hi>. Ein 19jähriges Mädchen, deren Mutter in einem Anfalle tiefer Schwer-<lb/> muth durch Selbstmord starb, gesund und fröhlichen Gemüths, vom 15ten Jahre<lb/> an regelmässig menstruirt, vom 16ten an fluor albus leidend, später durch ein<lb/> von den Umständen nicht begünstigtes Liebesverhältniss und andere Ereignisse<lb/></p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [178/0192]
Beispiele von
als ich im Jahr 1820 durch ein Augenleiden zu äusserer Unthätigkeit verurtheilt
war, so bestand meine meiste Unterhaltung in Gedanken, die oft sehr trauriger
Art waren, und nothwendig bei mir einen üblen Eindruck zurücklassen mussten.
Anno 1822 machte ein Brand und eine dabei stattfindende Durchnässung, während
ich eben Reconvalescent von einer mehrwöchentlichen Unpässlichkeit war, den
schlimmsten Eindrnck. Von jener Zeit an wurde der Stuhl seltener und trat Schwer-
hörigkeit ein; zu Ueberladung mit Arbeit und sehr gebeugter Stimmung, bei man-
gelnder Körperbewegung kamen im Jahr 1824 häusliche Sorgen und der Tod
eines neugeborenen Kinds. Von dort an verlor sich die Lust zur Arbeit und die
Heiterkeit. Nach der Predigt war ich sehr ermüdet und abgespannt, Beängsti-
gung und traurige Ahnungen wandelten mich an, der Schlaf war kurz und von
schrecklichen Träumen gequält und nach demselben zog mir ein starker Frost
durch alle Glieder. Ich hielt mich indessen für gesünder als je, denn Schwer-
hörigkeit, Gliederschmerzen, Blähungen, an denen ich bisher gelitten, hörten
auf und ich fühlte keine Unannehmlichkeit nach dem Essen mehr. So kam es
mir gar nicht in den Sinn, den Grund meines traurigen Zustandes in meinem
Körper zu suchen, sondern vielmehr in meinem ganzen Leben, das sich mir denn
zu einem ungeheuren Verbrechen bildete. Dieser Gedanke entstand bei mir
nicht nach und nach, sondern kam, so viel ich mich erinnere, auf
einmal in meine Seele wie ein Traum. So erklärte ich meinen ganzen
Zustand. Nun war es um alle Klarheit der Gedanken, um alles Zutrauen zu
Andern und zu mir selbst geschehen, die ganze Menschheit musste gegen mich
aufstehen, mich durch die schrecklichsten Qualen aus ihrer Mitte verstossen und
ich selbst war mein grösster Feind. Ich machte meiner Frau die Entdeckung,
ich hätte das grösste Verbrechen begangen, das je verübt worden sei und würde
von meiner Gemeinde in Stücke zerrissen werden, sobald sie davon Kenntniss
erhielte. Die Amtsgeschäfte wurden unmöglich, die Angst immer grösser. Als
mir der Kirchenvorstand die besten Versicherungen und Anerbietungen machte,
hielt ich doch Alles für verloren und als ich in einer Versammlung zusammen-
sank, kam es mir selbst vor, als ob ich diess aus Verstellung thäte. Ein
Geräusch im Ofen hielt ich für Trommeln und glaubte Soldaten im Anzuge, um
mich abzuholen; später glaubte ich ein Schaffot vor mir zu sehen, wo ich in
kleine Stückchen zerfleischt werden sollte und die Furcht vor der Hinrichtung
dauerte beständig fort. Die Dinge um mich erschienen mir schöner und glänzender
als sonst, die Menschen weiser und klüger, mich selbst erblickte ich in der tiefsten
Tiefe und glaubte zu gar nichts mehr fähig zu sein. Nur für Augenblicke
glaubte ich, dass ich doch wohl noch gerettet werden könnte und dann folgte
gewöhnlich nur grössere Traurigkeit — — Meinen Zustand gegen Ende der
Krankheit kann ich nicht besser beschreiben, als den eines aus einem schweren
Traume Erwachenden, der sich nicht sogleich überzeugen kann, dass es ein
Traum gewesen ist. — —“
(Sehr abgekürzt aus Jakobi, Beobachtungen über die Pathologie und Therapie
der mit Irresein verbundenen Krankheiten. I. Elberfeld. 1830. p. 441 seqq.)
VII. Schwermuth. Heilung mit der Rückkehr der Menstrua-
tion. Ein 19jähriges Mädchen, deren Mutter in einem Anfalle tiefer Schwer-
muth durch Selbstmord starb, gesund und fröhlichen Gemüths, vom 15ten Jahre
an regelmässig menstruirt, vom 16ten an fluor albus leidend, später durch ein
von den Umständen nicht begünstigtes Liebesverhältniss und andere Ereignisse
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |