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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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Die allgemeine Paralyse der Irren.
psychische Störung tritt entweder gleichzeitig mit der Störung der
Bewegung auf, oder -- bei weitem das häufigste -- jene besteht
schon längere Zeit (zuweilen sehr lange, 15 bis 20 Jahre), ehe sich
die ersten Spuren der Paralyse zeigen, oder -- sehr selten -- die
paralytischen Erscheinungen gehen kurze Zeit dem Irresein voraus.

Dasjenige Organ, dessen Bewegungen immer zuerst eine Un-
regelmässigkeit zeigen, ist die Zunge. Der Kranke fängt an, mit
Anstrengung zu sprechen, etwas ungenau zu articuliren, und zu stottern.
Die Zunge ist dabei nicht schief gestellt, wohl aber sieht man sie
beim Ausstrecken zuweilen krampfhafte Bewegungen machen. Dieses
erste Symptom, das Stottern, ist schon von ausserordentlicher Wich-
tigkeit; sobald es bei einem Geisteskranken bemerkt wird, ist er fast
mit Gewissheit als verloren zu betrachten. *) Denn, während solche
Kranke häufig ganz wohlgenährt und blühend aussehen, keine Spur
von Fieber haben, und ihr eigenes Wohlbefinden gewöhnlich nicht
genug rühmen können, entwickelt sich nun allmählig eine Reihe der
allerbedenklichsten Symptome. Gleichzeitig mit dem Stottern, häufiger
erst bald darauf bemerkt man eine Veränderung im Gange der Kranken,
sie heben die Beine nicht gehörig, gehen steif, kommen unwillkühr-
lich von ihrem Wege etwas seitwärts ab, und straucheln leicht bei
jeder Unebenheit des Bodens, z. B. an einer Treppe. Doch gehen
sie noch gerne und viel umher; Einzelne empfinden sogar einen be-
ständigen Trieb zu ruheloser Ortsveränderung; sie machen Spazier-
gänge und der Ungeübte bemerkt wenig Auffallendes, so lange sie
auf ebenem Terrain gehen. Die Arme sind noch längere Zeit rüstig.
Allmählig aber, während die Articulation der Worte immer unbe-
stimmter wird und man schon zuweilen errathen muss, was der Kranke
sagen will, wird der Gang schwankend, wie der eines Betrunkenen,
die Füsse werden nachgeschleppt, die Kniee scheinen einsinken zu
wollen, der Kranke muss sich an der Mauer halten, stolpert jeden
Augenblick und fällt manchmal zu Boden, auch die Arme und Hände
werden nun etwas steif, die Gegenstände werden wie krampfhaft fest-
gehalten und alle feineren, Präcision erfordernden Bewegungen
(Schreiben, Nähen, Clavierspielen etc.) werden nach und nach un-
möglich. Liegend kann der Kranke die Beine, wie die Arme frei
bewegen, aber diese Bewegungen geschehen langsamer und starrer
als sonst. Mit fortschreitender Krankheit kann er sich nicht mehr
aufrecht erhalten, statt der Sprache hat er nur noch confuse und

*) S. den bekannten Fall bei Esquirol, übers. von Bernhardt. II. p. 146.

Die allgemeine Paralyse der Irren.
psychische Störung tritt entweder gleichzeitig mit der Störung der
Bewegung auf, oder — bei weitem das häufigste — jene besteht
schon längere Zeit (zuweilen sehr lange, 15 bis 20 Jahre), ehe sich
die ersten Spuren der Paralyse zeigen, oder — sehr selten — die
paralytischen Erscheinungen gehen kurze Zeit dem Irresein voraus.

Dasjenige Organ, dessen Bewegungen immer zuerst eine Un-
regelmässigkeit zeigen, ist die Zunge. Der Kranke fängt an, mit
Anstrengung zu sprechen, etwas ungenau zu articuliren, und zu stottern.
Die Zunge ist dabei nicht schief gestellt, wohl aber sieht man sie
beim Ausstrecken zuweilen krampfhafte Bewegungen machen. Dieses
erste Symptom, das Stottern, ist schon von ausserordentlicher Wich-
tigkeit; sobald es bei einem Geisteskranken bemerkt wird, ist er fast
mit Gewissheit als verloren zu betrachten. *) Denn, während solche
Kranke häufig ganz wohlgenährt und blühend aussehen, keine Spur
von Fieber haben, und ihr eigenes Wohlbefinden gewöhnlich nicht
genug rühmen können, entwickelt sich nun allmählig eine Reihe der
allerbedenklichsten Symptome. Gleichzeitig mit dem Stottern, häufiger
erst bald darauf bemerkt man eine Veränderung im Gange der Kranken,
sie heben die Beine nicht gehörig, gehen steif, kommen unwillkühr-
lich von ihrem Wege etwas seitwärts ab, und straucheln leicht bei
jeder Unebenheit des Bodens, z. B. an einer Treppe. Doch gehen
sie noch gerne und viel umher; Einzelne empfinden sogar einen be-
ständigen Trieb zu ruheloser Ortsveränderung; sie machen Spazier-
gänge und der Ungeübte bemerkt wenig Auffallendes, so lange sie
auf ebenem Terrain gehen. Die Arme sind noch längere Zeit rüstig.
Allmählig aber, während die Articulation der Worte immer unbe-
stimmter wird und man schon zuweilen errathen muss, was der Kranke
sagen will, wird der Gang schwankend, wie der eines Betrunkenen,
die Füsse werden nachgeschleppt, die Kniee scheinen einsinken zu
wollen, der Kranke muss sich an der Mauer halten, stolpert jeden
Augenblick und fällt manchmal zu Boden, auch die Arme und Hände
werden nun etwas steif, die Gegenstände werden wie krampfhaft fest-
gehalten und alle feineren, Präcision erfordernden Bewegungen
(Schreiben, Nähen, Clavierspielen etc.) werden nach und nach un-
möglich. Liegend kann der Kranke die Beine, wie die Arme frei
bewegen, aber diese Bewegungen geschehen langsamer und starrer
als sonst. Mit fortschreitender Krankheit kann er sich nicht mehr
aufrecht erhalten, statt der Sprache hat er nur noch confuse und

*) S. den bekannten Fall bei Esquirol, übers. von Bernhardt. II. p. 146.
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[282/0296] Die allgemeine Paralyse der Irren. psychische Störung tritt entweder gleichzeitig mit der Störung der Bewegung auf, oder — bei weitem das häufigste — jene besteht schon längere Zeit (zuweilen sehr lange, 15 bis 20 Jahre), ehe sich die ersten Spuren der Paralyse zeigen, oder — sehr selten — die paralytischen Erscheinungen gehen kurze Zeit dem Irresein voraus. Dasjenige Organ, dessen Bewegungen immer zuerst eine Un- regelmässigkeit zeigen, ist die Zunge. Der Kranke fängt an, mit Anstrengung zu sprechen, etwas ungenau zu articuliren, und zu stottern. Die Zunge ist dabei nicht schief gestellt, wohl aber sieht man sie beim Ausstrecken zuweilen krampfhafte Bewegungen machen. Dieses erste Symptom, das Stottern, ist schon von ausserordentlicher Wich- tigkeit; sobald es bei einem Geisteskranken bemerkt wird, ist er fast mit Gewissheit als verloren zu betrachten. *) Denn, während solche Kranke häufig ganz wohlgenährt und blühend aussehen, keine Spur von Fieber haben, und ihr eigenes Wohlbefinden gewöhnlich nicht genug rühmen können, entwickelt sich nun allmählig eine Reihe der allerbedenklichsten Symptome. Gleichzeitig mit dem Stottern, häufiger erst bald darauf bemerkt man eine Veränderung im Gange der Kranken, sie heben die Beine nicht gehörig, gehen steif, kommen unwillkühr- lich von ihrem Wege etwas seitwärts ab, und straucheln leicht bei jeder Unebenheit des Bodens, z. B. an einer Treppe. Doch gehen sie noch gerne und viel umher; Einzelne empfinden sogar einen be- ständigen Trieb zu ruheloser Ortsveränderung; sie machen Spazier- gänge und der Ungeübte bemerkt wenig Auffallendes, so lange sie auf ebenem Terrain gehen. Die Arme sind noch längere Zeit rüstig. Allmählig aber, während die Articulation der Worte immer unbe- stimmter wird und man schon zuweilen errathen muss, was der Kranke sagen will, wird der Gang schwankend, wie der eines Betrunkenen, die Füsse werden nachgeschleppt, die Kniee scheinen einsinken zu wollen, der Kranke muss sich an der Mauer halten, stolpert jeden Augenblick und fällt manchmal zu Boden, auch die Arme und Hände werden nun etwas steif, die Gegenstände werden wie krampfhaft fest- gehalten und alle feineren, Präcision erfordernden Bewegungen (Schreiben, Nähen, Clavierspielen etc.) werden nach und nach un- möglich. Liegend kann der Kranke die Beine, wie die Arme frei bewegen, aber diese Bewegungen geschehen langsamer und starrer als sonst. Mit fortschreitender Krankheit kann er sich nicht mehr aufrecht erhalten, statt der Sprache hat er nur noch confuse und *) S. den bekannten Fall bei Esquirol, übers. von Bernhardt. II. p. 146.

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 282. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/296>, abgerufen am 27.11.2024.