Das Urtheil über die zweite prognostische Frage, die nach der Heilbarkeit des Irreseins bei vorausgesetzter Lebenser- haltung, wird durch weit mehr besondere Umstände bestimmt und erfordert weit mehr psychiatrische Specialkenntniss und Erfahrung. Die Statistik der Irrenanstalten ergibt auch hier allerdings einige wichtige Momente, in sofern sich in ihr eine Reihe von Erfahrungs- sätzen mit entscheidender Uebereinstimmung herausstellt (z. B. die Unheilbarkeit des secundären Blödsinns, der Einfluss der Krankheits- dauer auf die Prognose etc.); allein viele statistische Angaben über Heilungsverhältnisse sind von zweifelhafter Glaubwürdigkeit -- das Wort "genesen" scheint nicht überall in demselben Sinne gebraucht zu werden -- und keine Statistik vermag die complicirten Verhältnisse zur Anschauung zu bringen, welche in den concreten Fällen das Ur- theil über die Heilbarkeit bestimmen.
Ein erstes, und wohl das wichtigste Moment für die Genesungs fähigkeit ist die Form des Irreseins oder (pag. 151) das Stadium der Krankheit. Als ganz unheilbar sind zu betrachten alle Zustände von secundärem Blödsinn (mit welchem indessen weder die Melan- cholie mit Stumpfsinn noch eine vorübergehende tiefe geistige Ab- spannung nach der Tobsucht zu verwechseln ist). Ebenso wenig einer radicalen Heilung, wohl aber zuweilen noch einiger Besserung fähig ist die partielle Verrücktheit, mag nun das beruhigte falsche Denken, der wahre Verstandesirrthum zu einem umfassenden, vielgliedrigen Systeme von Unsinn ausgearbeitet sein oder mag er sich in nur wenigen Wahnideen, scheinbar vielleicht nur einem Seitengebiete des innern Lebens angehörend äussern. Denn auch bei den letzteren beruht ihre Fixität (p. 263) auf totaler Umänderung der ganzen psy- chischen Individualität, welche es dem Kranken unmöglich macht, mit dem Wahne innerlich entschieden zu brechen, aus der Verschobenheit seiner ganzen Anschauungsweise sein altes Ich wieder auszulösen und wieder der Nämliche wie früher zu werden. Auch eine wesent- liche Besserung, welche hier nur in Zurückdrängung der Aeusserung des Wahns, in Gewöhnung an äussere Ordnung und Haltung und an eine wenigstens mechanische Pflichterfüllung bestehen kann, vermag hier nur durch ein lange fortgesetztes consequentes, in manchen Fällen nur durch ein dem Kranken unablässig energisch zusetzendes Verfahren erreicht zu werden.
Unter den primären Formen der Melancholie und Manie ist die erstere als das eigentlich primitive Anfangsstadium nach unsern mit
Prognose nach
§. 153.
Das Urtheil über die zweite prognostische Frage, die nach der Heilbarkeit des Irreseins bei vorausgesetzter Lebenser- haltung, wird durch weit mehr besondere Umstände bestimmt und erfordert weit mehr psychiatrische Specialkenntniss und Erfahrung. Die Statistik der Irrenanstalten ergibt auch hier allerdings einige wichtige Momente, in sofern sich in ihr eine Reihe von Erfahrungs- sätzen mit entscheidender Uebereinstimmung herausstellt (z. B. die Unheilbarkeit des secundären Blödsinns, der Einfluss der Krankheits- dauer auf die Prognose etc.); allein viele statistische Angaben über Heilungsverhältnisse sind von zweifelhafter Glaubwürdigkeit — das Wort „genesen“ scheint nicht überall in demselben Sinne gebraucht zu werden — und keine Statistik vermag die complicirten Verhältnisse zur Anschauung zu bringen, welche in den concreten Fällen das Ur- theil über die Heilbarkeit bestimmen.
Ein erstes, und wohl das wichtigste Moment für die Genesungs fähigkeit ist die Form des Irreseins oder (pag. 151) das Stadium der Krankheit. Als ganz unheilbar sind zu betrachten alle Zustände von secundärem Blödsinn (mit welchem indessen weder die Melan- cholie mit Stumpfsinn noch eine vorübergehende tiefe geistige Ab- spannung nach der Tobsucht zu verwechseln ist). Ebenso wenig einer radicalen Heilung, wohl aber zuweilen noch einiger Besserung fähig ist die partielle Verrücktheit, mag nun das beruhigte falsche Denken, der wahre Verstandesirrthum zu einem umfassenden, vielgliedrigen Systeme von Unsinn ausgearbeitet sein oder mag er sich in nur wenigen Wahnideen, scheinbar vielleicht nur einem Seitengebiete des innern Lebens angehörend äussern. Denn auch bei den letzteren beruht ihre Fixität (p. 263) auf totaler Umänderung der ganzen psy- chischen Individualität, welche es dem Kranken unmöglich macht, mit dem Wahne innerlich entschieden zu brechen, aus der Verschobenheit seiner ganzen Anschauungsweise sein altes Ich wieder auszulösen und wieder der Nämliche wie früher zu werden. Auch eine wesent- liche Besserung, welche hier nur in Zurückdrängung der Aeusserung des Wahns, in Gewöhnung an äussere Ordnung und Haltung und an eine wenigstens mechanische Pflichterfüllung bestehen kann, vermag hier nur durch ein lange fortgesetztes consequentes, in manchen Fällen nur durch ein dem Kranken unablässig energisch zusetzendes Verfahren erreicht zu werden.
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Prognose nach
§. 153.
Das Urtheil über die zweite prognostische Frage, die nach der
Heilbarkeit des Irreseins bei vorausgesetzter Lebenser-
haltung, wird durch weit mehr besondere Umstände bestimmt und
erfordert weit mehr psychiatrische Specialkenntniss und Erfahrung.
Die Statistik der Irrenanstalten ergibt auch hier allerdings einige
wichtige Momente, in sofern sich in ihr eine Reihe von Erfahrungs-
sätzen mit entscheidender Uebereinstimmung herausstellt (z. B. die
Unheilbarkeit des secundären Blödsinns, der Einfluss der Krankheits-
dauer auf die Prognose etc.); allein viele statistische Angaben über
Heilungsverhältnisse sind von zweifelhafter Glaubwürdigkeit — das
Wort „genesen“ scheint nicht überall in demselben Sinne gebraucht
zu werden — und keine Statistik vermag die complicirten Verhältnisse
zur Anschauung zu bringen, welche in den concreten Fällen das Ur-
theil über die Heilbarkeit bestimmen.
Ein erstes, und wohl das wichtigste Moment für die Genesungs
fähigkeit ist die Form des Irreseins oder (pag. 151) das Stadium
der Krankheit. Als ganz unheilbar sind zu betrachten alle Zustände
von secundärem Blödsinn (mit welchem indessen weder die Melan-
cholie mit Stumpfsinn noch eine vorübergehende tiefe geistige Ab-
spannung nach der Tobsucht zu verwechseln ist). Ebenso wenig
einer radicalen Heilung, wohl aber zuweilen noch einiger Besserung
fähig ist die partielle Verrücktheit, mag nun das beruhigte falsche Denken,
der wahre Verstandesirrthum zu einem umfassenden, vielgliedrigen
Systeme von Unsinn ausgearbeitet sein oder mag er sich in nur
wenigen Wahnideen, scheinbar vielleicht nur einem Seitengebiete des
innern Lebens angehörend äussern. Denn auch bei den letzteren
beruht ihre Fixität (p. 263) auf totaler Umänderung der ganzen psy-
chischen Individualität, welche es dem Kranken unmöglich macht, mit
dem Wahne innerlich entschieden zu brechen, aus der Verschobenheit
seiner ganzen Anschauungsweise sein altes Ich wieder auszulösen
und wieder der Nämliche wie früher zu werden. Auch eine wesent-
liche Besserung, welche hier nur in Zurückdrängung der Aeusserung
des Wahns, in Gewöhnung an äussere Ordnung und Haltung und an
eine wenigstens mechanische Pflichterfüllung bestehen kann, vermag
hier nur durch ein lange fortgesetztes consequentes, in manchen
Fällen nur durch ein dem Kranken unablässig energisch zusetzendes
Verfahren erreicht zu werden.
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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 332. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/346>, abgerufen am 23.11.2024.
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