1) Zuvörderst mag an die Gleichheit der allgemeinen Verhältnisse von Reizung und Reizbarkeit im Vorstellen wie im sinnlichen Empfinden erinnert werden. Vollkommene Ruhe findet sich bei bei- den nur im tiefsten Schlafe; die gewöhnliche Ruhe, die z. B. im Gesichtssinn als Dunkelheit, im Vorstellen als Leerheit erscheint, ist selbst noch Thätigkeit, ein Innewerden jenes dunkeln Gesichtsfelds, dieses leeren Vorstellungsraums. Die eigentliche Affection des Vor- stellenden aber, das, was in der Sinnesempfindung die Farbe, der Ton, der Geruch etc. ist, ist das jedesmal wirkliche, d. h. das be- wusste Vorstellen. Wie es nun im Sehen, Hören etc. unendlich viele gradweise Unterschiede der Stärke und Deutlichkeit gibt, so gibt es auch in diesem Bewusst-sein des Vorstellens ebenso mannig- faltige Grade, die als verschiedene Stärke, Deutlichkeit, Klarheit der Vorstellungen erscheinen.
2) Zur Entwicklung und zum normalen Fortgang des Vorstellens wie der Sinnesempfindung ist eine stete, mässige, adäquate Reizung von aussen nothwendig. In den Sinnesthätigkeiten geschieht diese Reizung durch wirkliche äussere Erregung und das Geschehen im sensitiven Nervensysteme wird in der sogenannten excentrischen Erscheinung auch wieder nach den Orten der gewohnten periphe- rischen Ansprache hinaus verlegt, projicirt. Das Vorstellen dagegen erhält die Reizungen, durch die es erregt wird und die zu seiner steten Thätigkeit unentbehrlich sind, niemals unmittelbar von der Aussen- welt, sondern immer durch die Sinnesempfindungen. Es zeigt sich nun im Vorstellen eine ähnliche excentrische Erscheinung, eine ähn- liche Projection, wie beim Empfinden, aber hier nicht nach der Aus- senfläche oder ausserhalb des Organismus -- wir sind uns vielmehr des Vorstellens immer als eines Vorgangs in unserm Kopfe bewusst --, sondern auch hier eben in das Gebiet, von dem aus die Anregung gewöhnlich geschieht, in das der Sinnesempfindung. Diese excen- trische Projection der Vorstellungen scheint es eben zu sein, auf welcher die Nothwendigkeit eines steten Eingehens sinnlicher Bilder in dasselbe beruht. Durch sie wird jenes leise, schwache Mithalluciniren im centralen Sinnorgane bewerkstelligt, das alles Vor- stellen begleitet, von dem es eben jenen, für seine Klarheit und Lebendigkeit so unentbehrlichen, dem einen Menschen karger, dem andern reichlicher zugemessenen sinnlichen Schatz von Farbe, Bild und Klang mitbekommt. So gibt sie die Grundlage aller der psychi- schen Phänomene ab, die man der Phantasie zutheilt, namentlich auch jener Vorgänge, wo nicht mehr ein leises und blasses, sondern
Die Phantasie.
1) Zuvörderst mag an die Gleichheit der allgemeinen Verhältnisse von Reizung und Reizbarkeit im Vorstellen wie im sinnlichen Empfinden erinnert werden. Vollkommene Ruhe findet sich bei bei- den nur im tiefsten Schlafe; die gewöhnliche Ruhe, die z. B. im Gesichtssinn als Dunkelheit, im Vorstellen als Leerheit erscheint, ist selbst noch Thätigkeit, ein Innewerden jenes dunkeln Gesichtsfelds, dieses leeren Vorstellungsraums. Die eigentliche Affection des Vor- stellenden aber, das, was in der Sinnesempfindung die Farbe, der Ton, der Geruch etc. ist, ist das jedesmal wirkliche, d. h. das be- wusste Vorstellen. Wie es nun im Sehen, Hören etc. unendlich viele gradweise Unterschiede der Stärke und Deutlichkeit gibt, so gibt es auch in diesem Bewusst-sein des Vorstellens ebenso mannig- faltige Grade, die als verschiedene Stärke, Deutlichkeit, Klarheit der Vorstellungen erscheinen.
2) Zur Entwicklung und zum normalen Fortgang des Vorstellens wie der Sinnesempfindung ist eine stete, mässige, adäquate Reizung von aussen nothwendig. In den Sinnesthätigkeiten geschieht diese Reizung durch wirkliche äussere Erregung und das Geschehen im sensitiven Nervensysteme wird in der sogenannten excentrischen Erscheinung auch wieder nach den Orten der gewohnten periphe- rischen Ansprache hinaus verlegt, projicirt. Das Vorstellen dagegen erhält die Reizungen, durch die es erregt wird und die zu seiner steten Thätigkeit unentbehrlich sind, niemals unmittelbar von der Aussen- welt, sondern immer durch die Sinnesempfindungen. Es zeigt sich nun im Vorstellen eine ähnliche excentrische Erscheinung, eine ähn- liche Projection, wie beim Empfinden, aber hier nicht nach der Aus- senfläche oder ausserhalb des Organismus — wir sind uns vielmehr des Vorstellens immer als eines Vorgangs in unserm Kopfe bewusst —, sondern auch hier eben in das Gebiet, von dem aus die Anregung gewöhnlich geschieht, in das der Sinnesempfindung. Diese excen- trische Projection der Vorstellungen scheint es eben zu sein, auf welcher die Nothwendigkeit eines steten Eingehens sinnlicher Bilder in dasselbe beruht. Durch sie wird jenes leise, schwache Mithalluciniren im centralen Sinnorgane bewerkstelligt, das alles Vor- stellen begleitet, von dem es eben jenen, für seine Klarheit und Lebendigkeit so unentbehrlichen, dem einen Menschen karger, dem andern reichlicher zugemessenen sinnlichen Schatz von Farbe, Bild und Klang mitbekommt. So gibt sie die Grundlage aller der psychi- schen Phänomene ab, die man der Phantasie zutheilt, namentlich auch jener Vorgänge, wo nicht mehr ein leises und blasses, sondern
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Die Phantasie.
1) Zuvörderst mag an die Gleichheit der allgemeinen Verhältnisse
von Reizung und Reizbarkeit im Vorstellen wie im sinnlichen
Empfinden erinnert werden. Vollkommene Ruhe findet sich bei bei-
den nur im tiefsten Schlafe; die gewöhnliche Ruhe, die z. B. im
Gesichtssinn als Dunkelheit, im Vorstellen als Leerheit erscheint, ist
selbst noch Thätigkeit, ein Innewerden jenes dunkeln Gesichtsfelds,
dieses leeren Vorstellungsraums. Die eigentliche Affection des Vor-
stellenden aber, das, was in der Sinnesempfindung die Farbe, der
Ton, der Geruch etc. ist, ist das jedesmal wirkliche, d. h. das be-
wusste Vorstellen. Wie es nun im Sehen, Hören etc. unendlich
viele gradweise Unterschiede der Stärke und Deutlichkeit gibt, so
gibt es auch in diesem Bewusst-sein des Vorstellens ebenso mannig-
faltige Grade, die als verschiedene Stärke, Deutlichkeit, Klarheit der
Vorstellungen erscheinen.
2) Zur Entwicklung und zum normalen Fortgang des Vorstellens
wie der Sinnesempfindung ist eine stete, mässige, adäquate Reizung
von aussen nothwendig. In den Sinnesthätigkeiten geschieht diese
Reizung durch wirkliche äussere Erregung und das Geschehen im
sensitiven Nervensysteme wird in der sogenannten excentrischen
Erscheinung auch wieder nach den Orten der gewohnten periphe-
rischen Ansprache hinaus verlegt, projicirt. Das Vorstellen dagegen
erhält die Reizungen, durch die es erregt wird und die zu seiner steten
Thätigkeit unentbehrlich sind, niemals unmittelbar von der Aussen-
welt, sondern immer durch die Sinnesempfindungen. Es zeigt sich
nun im Vorstellen eine ähnliche excentrische Erscheinung, eine ähn-
liche Projection, wie beim Empfinden, aber hier nicht nach der Aus-
senfläche oder ausserhalb des Organismus — wir sind uns vielmehr
des Vorstellens immer als eines Vorgangs in unserm Kopfe bewusst —,
sondern auch hier eben in das Gebiet, von dem aus die Anregung
gewöhnlich geschieht, in das der Sinnesempfindung. Diese excen-
trische Projection der Vorstellungen scheint es eben zu sein,
auf welcher die Nothwendigkeit eines steten Eingehens sinnlicher
Bilder in dasselbe beruht. Durch sie wird jenes leise, schwache
Mithalluciniren im centralen Sinnorgane bewerkstelligt, das alles Vor-
stellen begleitet, von dem es eben jenen, für seine Klarheit und
Lebendigkeit so unentbehrlichen, dem einen Menschen karger, dem
andern reichlicher zugemessenen sinnlichen Schatz von Farbe, Bild
und Klang mitbekommt. So gibt sie die Grundlage aller der psychi-
schen Phänomene ab, die man der Phantasie zutheilt, namentlich
auch jener Vorgänge, wo nicht mehr ein leises und blasses, sondern
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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 21. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/35>, abgerufen am 21.11.2024.
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